Kirche im Fadenkreuz des Präsidenten
Im Machtkampf mit der Opposition hat Nicaraguas Präsident Daniel Ortega die katholische Kirche zum "Staatsfeind" erklärt. Geistliche geraten daher ins Visier von Polizei und Paramilitärs. In Kirchen Schutz suchende Oppositionelle wurden getötet.
Morgenmesse in der Kirche Jesús de la Divina Misericordia: Einige Ventilatoren vertreiben die tropische Hitze, von draußen dringt der Lärm des Berufsverkehrs in das katholische Gotteshaus. Etwa 40 Menschen sind gekommen, um der Andacht von Pfarrer Raul Zamora beizuwohnen. An einer Wand des Kirchenschiffes stehen Leitern und Eimer. Kaum ist die Messe vorbei, machen sich Handwerker an die Arbeit. Denn noch immer zeugen Risse im Verputz und kaputte Leuchter von jenen Stunden im Juli, in denen die Kirche bewaffnet angegriffen wurde.
Zamora: "Das war die Reaktion darauf, dass Studenten in unserer Kirche Schutz gesucht hatten, nachdem sie aus der nahegelegenen Universität UNAN geräumt worden waren. Wir dachten, die Lage würde sich entspannen. Schließlich hatten sie die Uni am frühen Morgen verlassen. Polizisten und Paramilitärs hatten dort die Kontrolle übernommen. Aber dann begann der Angriff hier. Da wurde mir klar, dass sie die Studenten nicht nur räumen, sondern vernichten wollten."
Einschusslöcher in der Kirchenmauer
Zamora geht hinaus auf die Straße und zeigt auf unzählige Einschusslöcher in der Kirchenmauer. Daumengroße Vertiefungen deuten darauf hin, dass die Angreifer mit Sturmgewehren geschossen haben. 16 Stunden beschossen Paramilitärs das Gebäude im Zentrum der nicaraguanischen Hauptstadt Managua. Einige Meter entfernt standen Polizisten und sorgten dafür, dass die Bewaffneten ungestört agieren konnten.
Zamora: "Es gab praktisch keine Unterbrechung, außer, wenn sie nachladen mussten. Ich dachte, wir werden alle sterben."
Zwei Studenten überlebten den Angriff nicht – zwei von über 300 Menschen, die nach Angaben der Vereinten Nationen in den letzten Monaten bei gewalttätigen Auseinandersetzungen in Nicaragua getötet wurden. Die meisten Toten gehen auf das Konto von Polizisten und paramilitärischen Gruppen, die von der Regierung finanziert werden.
Alles beginnt am 18. April dieses Jahres: Studenten und Rentner gehen gegen eine Reform auf die Straße, die Rentenkürzungen und höhere Sozialbeiträge vorsieht. Nachdem die Polizei die Demonstrationen niedergeprügelt hat, weiten sich die Proteste aus. Bauern, Arbeiter und Unternehmer schließen sich an. Im ganzen Land werden Barrikaden errichtet, Universitäten werden besetzt. Zunehmend richten sich die Kämpfe gegen den Präsidenten Daniel Ortega. Die Oppositionellen wollen den Staatschef absetzen und fordern Neuwahlen.
Polizei und Paramilitärs foltern und töten Ortegas Kritiker
Ortega reagiert mit weiteren Repressionen: Scharfschützen töten Aktivisten, zahlreiche Oppositionelle werden verhaftet, Gefangene gefoltert. Vor seinen Anhängern spricht Ortega von "vergifteten Seelen" und bezeichnet die Oppositionellen als Terroristen und Putschisten. Vor knapp 40 Jahren ist seine Partei, die Sandinistische Befreiungsfront, durch eine Revolution gegen den Diktator Anastasio Somoza an die Macht gekommen. Heute regiert Ortega selbst diktatorisch. Viele Regimegegner mussten abtauchen, etwa 30.000 Menschen sind aus dem Land geflüchtet. Die Studentenführerin Iskra Malespín lebt mit anderen verfolgten Kommilitonen an einem geheimen Ort außerhalb Managuas.
Malespín: "Ich habe Angst um meine Familie, sie ist sehr gefährdet. Ein einziges Mal war ich bei ihnen. Ausgerechnet in dem Moment sind zwei vermummte Typen mit Waffen in unser Haus eingedrungen und haben mich gesucht. Zum Glück haben unsere Nachbarn verhindert, dass sie mich finden. Jetzt ist die Familie zersplittert. Wir sind fünf, aber meine Geschwister haben das Land verlassen. Nur noch meine Mutter ist zu Hause. Meine Eltern wollten, dass ich auch gehe. Aber ich schaue doch nicht tatenlos zu, wie meine Freunde ermordet werden."
Auch Kirchenvertreter sind ins Visier des Regimes geraten. So werfen die Behörden dem Pfarrer César Augusto Gutiérrez vor, den Terrorismus finanziert zu haben. Mitte August ist er ins Exil gegangen. Vorher hatten regierungsnahe Schlägertrupps mehrere Bischöfe tätlich angegriffen. Dabei sollen die Geistlichen den Dialog moderieren, bei dem Oppositionelle und Regierung über die Zukunft des Landes sprechen.
Bischöfe erhielten Morddrohungen
Pfarrer Zamora: "Vor kurzem nannte der Präsident die Bischöfe, die am Dialog teilnehmen, Putschisten, die die Regierung stürzen wollen. Ortega behauptet, wir Geistlichen hätten einen terroristischen Plan. Er gibt alle, die ihm nicht folgen, zum Abschuss frei. Auch viele Pfarrer sind bedroht und haben ihre Kirche vorübergehend verlassen, Bischöfe erhielten Morddrohungen."
Für Präsident Ortega stehen die Kirchenvertreter eindeutig auf der Seite der Opposition. Deshalb seien sie für die Moderation des Dialogs ungeeignet. Generalvikar Carlos José Avilés von der Erzdiözese Managua berät die Bischöfe bei den Gesprächen. Er weist den Vorwurf zurück:
"Wir haben den Studenten die Türen geöffnet, die Verwundeten behandelt, ihnen Wasser und Essen gegeben. Das ist für die Regierung die große Sünde, die wir begangen haben. Deshalb seien wir Komplizen. Aber wir haben auch Polizisten geholfen. Wir haben vermittelt, damit sie freigelassen werden. Das alles werden wir weiterhin tun, weil wir Humanisten sind und die Türen unserer Kirchen immer für Schutzsuchende offen stehen."
Derzeit ist der Dialog ausgesetzt. Avilés macht dafür Ortega verantwortlich:
"Die Regierung hat sehr gewalttätig agiert, keine Vereinbarung respektiert und immer wieder ihre Leute zurückgezogen. Zurzeit reagiert sie gar nicht. Das hat damit zu tun, dass sie nicht über die anstehenden Themen sprechen will: über Demokratisierung, Erneuerung der Institutionen und, wie von vielen gefordert, vorgezogene Wahlen."
Avilés hofft darauf, dass Ortega an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Nur so sei eine friedliche Lösung möglich. Er erinnert an die beiden Kriege, die sein Land durchgemacht hat: den gegen Somoza und den gegen die konterrevolutionären Contras in den 1980er Jahren.
Avilés: "Wir Nicaraguaner wollen nicht noch einen Krieg und keine weiteren Toten. Im Gegenteil: Wir wollen starke unabhängige Institutionen, die Entwicklung und Gerechtigkeit fördern."