"Nicht auf Aussöhnung bedacht"

Der Historiker Philipp Ther hat den Bund der Vertriebenen kritisiert. Auch nach 1990 habe die Organisation den Kalten Krieg weitergeführt, erklärte der Experte für Vertreibungen im 20. Jahrhundert vom Europäischen Hochschulinstitut Florenz.
Katja Schlesinger: Landsmannschaft Ostpreußen, Landsmannschaft Schlesien, Sudentendeutsche Landsmannschaft, das sind nur drei der insgesamt 21 Vertriebenenverbände, die allesamt unter dem Dach des Bundes der Vertriebenen organisiert sind. Am 27. Oktober 1957 wurde der Verband der Vertriebenen gegründet, am kommenden Samstag jährt sich der Tag der Gründung also zum 50. Mal und schon heute feiert der Bund der Vertriebenen den runden Geburtstag mit einem Festakt in Berlin. Für uns ein Grund die Geschichte des Bundes der Vertriebenen etwas näher zu beleuchten und das tun wir mit Professor Philipp Ther, er hat unter anderem über die Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert geforscht und lehrt am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, schönen guten Morgen.

Philipp Ther: Guten Morgen.

Schlesinger: 1957, als der Bund der Vertriebenen gegründet wurde, da gab es die einzelnen Landsmannschaften schon, das heißt, die Vertriebenen hatten sich ja längst organisiert und ein großer Teil der Flüchtlinge dürfte zwölf Jahre nach dem Krieg ja auch schon ein Stück weit integriert gewesen sein. Warum überhaupt wurde der Bund der Vertriebenen gegründet?

Ther: Es gab bis 1957 im Grunde genommen zwei konkurrierende Vertriebenenorganisationen und dann hat man eben nach längerem Hin und Her und auch Konflikten beschlossen, diese beiden Organisationen zusammenzulegen, um eine größere, beziehungsweise dann auch mächtigere Lobby zu bilden. Dabei standen zwei Dinge im Vordergrund, erstens außenpolitisch, das sogenannte Recht auf Heimat. Recht auf Heimat heißt, dass man eben in die alte Heimat zurückkehren darf, wobei da schon ein bisschen mehr dahinter gesteckt hat, also erst Rückkehr und dann, nach dem damaligen Verständnis, Recht auf Selbstbestimmung, sodass also die ehemaligen Gebiete dann sozusagen auch wieder Deutschland hätten beitreten können. Im Grunde genommen heißt das, dass man schon indirekt die Grenze infrage gestellt hat, also Rückkehr, beziehungsweise Rückgewinnung der ehemaligen Ostgebiete. Das Zweite war eher innenpolitisch. Die Vertriebenen waren ja eben seit der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland angekommen und da ging es eben darum, dass man vor allem die soziale Integration verbessert, also sprich um sozialpolitische Forderungen, Ausgleichszahlungen et cetera.

Schlesinger: Bis 1950 waren ja rund zwölf Millionen Menschen nach Deutschland geflüchtet. Um das mal noch ein bisschen plastischer zu machen: Allein auf Schleswig-Holstein kamen um die 860.000 Flüchtlinge, das heißt, die Bevölkerung dort stieg um mehr als 30 Prozent an. Die Vertriebenen hatten also ein nicht zu verachtendes politisches Gewicht. Wie sind die Parteien auf sie eingegangen?

Ther: Also die Vertriebenenpartei im engeren Sinne, die am meisten sich um die Interessen gekümmert hat und in der auch sehr viele Vertriebene vertreten waren, das war eigentlich ursprünglich ironischer Weise eher die SPD. Warum? Die SPD hatte sozusagen, wenn man so will, das klarer nationalpolitische Programm, eher auf Wiedervereinigung ausgerichtet und eben auch das sozialere Programm, ist also eher für diese Umverteilungsmaßnahmen eingetreten, von denen dann ja auch Vertriebene profitiert haben, beziehungsweise profitieren wollten. Als dann die Regierung Adenauer, also diese CDU-geführte Regierung sehr stark für diese Vertriebeneninteressen eingetreten ist, es gab ja auch sogar ein eigenes Vertriebenenministerium und dann war es so, dass sozusagen eine Art von Konkurrenz um die Wähler eingetreten ist und dann nach 1969, beziehungsweise erst recht nach den Ostverträgen unter Willy Brandt war es so, dass also sich dann die Vertriebenenverbände von der SPD komplett abgewendet haben und zu Unterstützern der Union geworden sind. Also dieser Zustand wie heute, dass die Vorsitzenden der Vertriebenenverbände, also in dem Fall jetzt die Erika Steinbach eben auch bei der CDU eine Position innehat, das war in der Nachkriegszeit noch ganz anders. Also damals war eher die SPD die Vertriebenenpartei als die Union und dann hat sich das eben geändert im Laufe der 50er Jahre und dann erst recht nach den Ostverträgen.

Schlesinger: In welcher Situation lebten die Vertriebenen eigentlich 1957, als sich der Bund der Vertriebenen gegründet hat? Kann man da wirklich sagen, dass ein Großteil wirklich schon integriert war? Hatten die schon Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland?

Ther: Einige Vertriebene lebten immer noch in Flüchtlingslagern. Im Durchschnitt waren sie wesentlich schlechter gestellt als die einheimische Bevölkerung, aber gut, dort gab es auch Ausgebombte, beispielsweise in den Städten, die wenig hatten, aber insgesamt war die Integration jetzt in wirtschaftlicher oder beruflicher Hinsicht noch wenig vorrangeschritten 1957. Es gab zwar seit ein paar Jahren Lastenausgleichszahlungen und solche Dinge und sozusagen die ersten sozialpolitischen Maßnahmen, aber insgesamt war der materielle Stand von den Vertriebenen deutlich schlechter. Von daher gab es 1957 noch wirklich viel und akuten Handlungsbedarf.

Schlesinger: In der Zeitung die "Zeit" war 1954 in einem Bericht über Ostpreußen von "unseren Ostgebieten" zu lesen, das heißt, damals wollte sich in Westdeutschland kaum einer mit der Oder-Neiße-Grenze abfinden, also auch nicht dieser Autor der "Zeit". Wann ist das umgeschlagen?

Ther: Gerade die Regierung Adenauer, beziehungsweise alle CDU/CSU-geführten Regierungen, bis dann eben zur sozialliberalen Koalition sind ja sehr vehement für die Interessen der Vertriebenen eingetreten. Und dazu gehörte auch bewusst die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die Nichtanerkennung der polnischen Westgrenze. Das eine war sozusagen die Politik nach außen beziehungsweise diese außenpolitische, man muss eben sagen, Propaganda. Zwölf Millionen das war ein erheblicher Teil der Wählerschaft, also von daher eben das bewusste Eingehen auf die Forderungen der Vertriebenenverbände. Das Andere war aber die Politik hinter verschlossener Tür und da weiß man mittlerweile, dass sogar Adenauer selbst eigentlich diese Ostgebiete schon länger im Grunde genommen abgeschrieben hatte und es klar war, dass man die nicht zurückbekommt. Insofern war diese Politik spätestens ab Mitte der 50er Jahre auch tatsächlich verlogen, und man hat im Grunde genommen eigentlich ein bisschen mit dem Heimweh und tatsächlich auch mit den Bedürfnissen dieser Vertriebenen gespielt.

Schlesinger: Herr Ther, heutzutage haben viele Mitglieder des Bundes der Vertriebenen ja vor allem das Image der ewig Gestrigen und das wird auch immer wieder belegt durch die Forderung auf das Recht der Heimat. Wann ist das eigentlich umgeschlagen? Wir haben ja gerade gehört, dass in den 50er Jahren breites Verständnis bestand für die Bedürfnisse der Vertriebenen. Wann sind aus den Vertriebenen die ewig Gestrigen geworden?

Ther: Unterstützung auf politischer Ebene von Seiten der Regierung, aber die Beziehung zur einheimischen Bevölkerung, die war nicht gerade einfach. Erstens gab es Verteilungskonflikte. Wer bekommt auch im Zweifelsfall welche Wohnung oder welchen Arbeitsplatz? Und zum Zweiten war es so, dass für viele Einheimische, also sprich, die in Westdeutschland eben schon vor 45 ansässige Bevölkerung eigentlich dieses Schicksal der Vertriebenen nicht wirklich vermittelbar war. Welches Trauma die dann bereits auf der Flucht 45 oder dann später eben bei der Zwangsaussiedlung aus Polen oder aus der Tschechoslowakei erlitten haben, das konnten viele der Einheimischen nicht so wirklich verstehen und da gab es immer eine große Distanz und diese Integration, das war ein ganz langfristiger Prozess, wirklich im weiteren Sinne von Integration würde ich jetzt sagen in etwa ab den 70er Jahren, also wirklich erst später.

Nur mit den ewig Gestrigen, dieser Vorwurf hat zu tun mit der Ostpolitik, damals haben sich ja die Vertriebenenverbände nun bewusst gegen die Wiederannäherung von Deutschland mit den Staaten des Ostblocks gestellt und vor allem gegen die Ostverträge mit Polen und mit der Tschechoslowakei und diese Linie haben sie dann ja eigentlich auch bis 1989 beziehungsweise bis 1990, bis zu den 2-plus-4-Verträgen und dann eben der endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze immer durchgehalten. Es war im Grunde genommen immer die gleiche Forderung: Recht auf Heimat, also sprich, Recht auf Rückkehr, keine Anerkennung der Grenze und im Grunde genommen keine Anerkennung des Status Quo im Nachkriegseuropa. Der Krieg war eben nun mal verloren eben um den Preis dieser deutschen Ostgebiete und die zurückzubekommen, das war sowieso relativ früh ausgeschlossen, aber sie stand im Grunde genommen dieser Ostpolitik, also der Wiederannäherung an Polen, an die Tschechoslowakei im Wege und diese Politik hat sich selbst nach 1990 leider nicht wirklich geändert. Die Vertriebenenverbände, das muss man sagen, haben diesen Kalten Krieg im Grunde genommen weitergeführt, dann mit anderen Forderung, vor allem auf Rückgabe des Eigentums, aber sie haben gegen die deutsch-polnischen Verträge gestimmt, gegen die deutsch-tschechische Aussöhnungserklärung, auch wurde versucht, den EU-Beitritt dieser beiden Nachbarstaaten zu blockieren, beziehungsweise unter bestimmte Bedingungen zu stellen. Die Rolle nach 1990 und vor allem jetzt eben seit dem Antritt von Frau Steinbach war nun wirklich sehr unglücklich und eben nicht auf Aussöhnung bedacht und von daher, glaube ich, kommt immer wieder dieser Vorwurf ewig gestrig zu sein.

Ich würde da aber immer unterscheiden zwischen den Vertriebenenverbänden, die nie mehr als zehn Prozent der tatsächlich Heimatvertriebenen vertreten haben und eben der Masse der Vertriebenen. Dieses Vorurteil wird nun eben auch oft leider gleichgesetzt. Im jetzigen Bundestag oder es war, glaube ich, der letzte, war eine sehr große Zahl von Vertriebenen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder eben aus der Tschechoslowakei oder aus anderen Staaten ursprünglich stammen, so jemand wie Joschka Fischer beispielsweise, bei dem waren es die Eltern, aber nun gut. Es gibt, sozusagen, sehr viele Vertriebene oder Deutsche, die diese Abkunft haben und die aber mit dem Anliegen der Vertriebenenverbände wirklich nichts gemein hatten und die sich auch gar nicht jetzt sozusagen als Vertriebener in diesem Sinne bekannt haben und das war immer die übergroße Mehrheit. Insofern ist diese Gleichsetzung auf die ganze Gruppe betrachtet unfair. Auf die Verbandspolitik betrachtet kann man es nachvollziehen.

Schlesinger: Vielen Dank Herr Ther!