"Nicht die absolute Katastrophe"

Angesichts der möglichen Überwachung des Mobiltelefons von Bundeskanzlerin Angela Merkel durch US-Geheimdienste hat der Philosoph Martin Hartmann vor zu hohen Erwartungen an die Politik gewarnt. Allerdings sei oft unklar, welche Erwartungen zwei Staaten im Umgang miteinander haben.
Klaus Pokatzky: Und jetzt bitte ich um Ihr Vertrauen! Wir brauchen schließlich Vertrauen, sonst läuft gar nichts! Wir brauchen Vertrauen unter Verbündeten und Partnern, und solches Vertrauen muss jetzt wieder neu wiederhergestellt werden. Das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt angesichts der möglichen Überwachung ihres Mobiltelefons durch US-Geheimdienste. Und wir wenden uns jetzt vertrauensvoll an Martin Hartmann, Professor für Philosophie an der Universität Luzern, den ich dort im Studio begrüße. Guten Tag!

Martin Hartmann: Hallo, guten Tag!

Pokatzky: Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört Vertrauen. Sie haben auch ein Buch über die Praxis des Vertrauens geschrieben. Zu wem haben Sie Vertrauen, Herr Hartmann?

Hartmann: Zu allen Menschen, die einigermaßen wahrhaftig in ihren Äußerungen und in ihrem Verhalten sind, die ich kenne, mit denen ich Kontakt hatte, die glaubwürdig sind. Da ist die Antwort gar nicht so kompliziert. Meistens sind das, wie ich sage, Menschen, die ich kenne. Zu Menschen, die ich nicht kenne – aber das ist vielleicht auch ein bisschen typenabhängig –, da bin ich eher ein bisschen zurückhaltend und möchte etwas wissen, bevor ich vertraue.

Pokatzky: Aber wie gut müssen Sie die Menschen kennen, und was muss passieren, damit Sie Vertrauen zu mir haben?

Hartmann: Vertrauen heißt ja nicht absolute Gewissheit. Das heißt, ein gewisses – manche sagen – Risiko bleibt immer. Ich sage, man räumt ja anderen Spielräume ein im Vertrauen, die man gar nicht bestimmen und sozusagen dicht machen will. Also, der andere soll diese Spielräume auch bekommen. Insofern soll man nicht glauben, dass man absolutes Wissen haben muss oder haben kann. Es sind halt gewisse Anhaltspunkte, die man hat, meistens ist es Vertrautheit, in einem gewissen Sinne Bekanntschaft. Wenn man jemanden weniger gut kennt, ist man manchmal etwas vorsichtiger. Es gibt nicht den Punkt, wo man sagen kann, jetzt ist es sinnvoll zu vertrauen und jetzt nicht, das ist einfach auch eine Frage der Urteilskraft, die man hat oder eben nicht hat. Wenn man sie nicht hat, dann vertraut man manchmal naiv, wenn man sie hat, hat man vielleicht ein paar weniger Enttäuschungen. Also, da gibt es keine klare Grenze oder keine 100-prozentige Sicherheit.

Pokatzky: Welche Rolle spielt Vertrauen in der Politik?

Hartmann: Man weiß relativ viel über das Vertrauen innerhalb von Staaten, also von Bürgern zur Politik oder zu den Politikern. Da ist es ein Thema, da gibt es Theorien, es gibt eine Tradition des Nachdenkens darüber. Und da ist es natürlich, gerade in Demokratien, unerlässlich. Wir schenken den Politikerinnen und Politikern Vertrauen …

Pokatzky: Wir schenken auch, wenn ich das sagen darf, Institutionen Vertrauen, etwa der Justiz. Auch wenn ich da gar keinen Juristen persönlich kenne, aber der Institution schenke ich mein Vertrauen.

Hartmann: Ja, so reden wir, das ist richtig. Ich mag diese Rede nicht, ich tendiere dazu zu sagen, dass wir Institutionen nicht vertrauen, sondern den Personen, die sie mit Leben füllen. Und wenn wir da lange gute Erfahrungen gemacht haben, dann reden wir irgendwann so, dass wir der Institution vertrauen. Also, so kann man auch reden. Der Punkt ist natürlich, dass wir in manchen, gerade in modernen Gesellschaften, gar keine Alternative haben, als bestimmten Institutionen, wenn man so reden will, zu vertrauen. Das gefällt mir nicht so sehr.

In der Politik ist es nämlich anders, da haben wir nämlich Alternativen, wir können ja Leute abwählen, wenn wir sie nicht mehr mögen. Deswegen würde ich da ein paar Unterschiede sozusagen zwischen Institutionen allgemein und politischen Institutionen sehen. Politische Institutionen sind flexibler und da ist mehr Dynamik drin und das ist auch gut so. Bei manchen anderen Institutionen, wenn Sie jetzt an die Polizei denken oder an das Verfassungsgericht oder so, dem kann ich auch vertrauen, aber ich habe auch nicht wirklich echte Alternativen.

Pokatzky: Aber es sind dann in der Regel Institutionen in unserem Land. Wie ist es um das Vertrauen in der Politik bestellt, wenn es um Vertrauen von einem Land zum anderen geht, von dem Politiker wie der Kanzlerin in unserem Land und dem Politiker wie Präsident Obama in den USA?

Hartmann: Das habe ich versucht anzudeuten: Es gibt eigentlich gar nicht so viel Kenntnis darüber. Wir sind vertrauter mit dem innerstaatlichen Vertrauen. Und wir neigen dazu, zwischenstaatliches Vertrauen genau so zu bezeichnen und zu verstehen wie das innerstaatliche Vertrauen zwischen Bürgern und Politikern, und es könnte sich herausstellen, dass das problematisch ist …

Pokatzky: Naiv auch.

Hartmann: Zwischenstaatliches Vertrauen … Ja, es ist natürlich so, dass sie – und das scheint ja jetzt der Skandal auch deutlich zu machen –, dass Staaten doch noch egozentrischer agieren, sage ich jetzt mal, als viele Personen außerhalb der Politik, in der internationalen Politik. Dort ist offenbar die Tendenz viel stärker, zunächst an sich zu denken und alles zu tun, was das eigene Land in diesem Fall fördert. Das ist etwas, was außerhalb von internationalen Beziehungen so nicht lange gut geht, sage ich mal. Sie haben bei internationalen Beziehungen von Anfang an eine gewisse Machtproblematik involviert, das gilt generell für politisches Vertrauen, aber dort ist es natürlich noch stärker. Es gibt mächtige Akteure und weniger mächtige Akteure, das sind alles Faktoren, glaube ich, die es relativ schwierig machen, hier einfach nur zu vertrauen.

Also, ich denke, da ist Vertrauen auf eine eigentümliche Art und Weise vielleicht noch voraussetzungsreicher als in anderen Bereichen, und da hilft es manchmal nicht, von Freundschaft zu reden, was jetzt Angela Merkel macht. Weil das Bild zwar verständlich ist und wir sofort verstehen, was sie meint, wenn sie enttäuscht ist, andererseits ist natürlich die Frage, haben wir es wirklich mit Freundschaft zu tun zwischen Staaten, zwischen ihr und Obama? Irgendwo wird immer, bei Obama und auch bei ihr, das vorrangige Interesse das Wohl des eigenen Landes sein. Und das ist etwas, was außerhalb von solchen politischen Verhältnissen dann viel schneller vielleicht zum Ende eines Vertrauensverhältnisses führt als in internationalen Beziehungen.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Martin Hartmann, Philosophieprofessor in Luzern, das Vertrauen in der Politik ist unser Thema. Wenn also jeder Staat, Herr Hartmann, auch wenn er noch so befreundet ist und eng verbündet seit Jahrzehnten, wie das die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten sind, doch in erster Linie an seine eigenen Interessen denkt und denken muss, heißt das, dass das Misstrauen der Normalfall ist, wenn es um die Zusammenarbeit auch zwischen befreundeten Staaten geht?

Hartmann: Ja. Also, ich denke, das ist nicht ganz unbegründet. Man muss den Gegensatz von Vertrauen und Misstrauen vielleicht nicht so scharf ziehen. Ich neige dazu zu sagen, dass das Gegenteil von Vertrauen eigentlich Gleichgültigkeit ist. Misstrauen impliziert ja noch, dass man Interesse an etwas hat, und in dem Fall tut man ja auch was, wenn man misstrauisch ist, man überwacht halt. Das ist ein Aufwand, das sind Kosten, die da entstehen. Man will was vom anderen, man will was wissen. Man könnte zumindest sagen, dass Misstrauen nicht die absolute Katastrophe ist, und es wird ja oft gesagt, ohne Vertrauen geht gar nichts. Das glaube ich auch nicht. Misstrauensverhältnisse können durchaus relativ lange stabil sein. Das wird nicht oft so gesagt, aber ich denke, ob ich jetzt von A nach B gehe, ohne zu schauen, was passieren kann, oder von A nach B gehe und immer schaue, was passieren kann, also etwas furchtsam bin … Ich kann das Ziel, zu B zu kommen, erreichen. Es ist nicht so, dass es gar nicht geht.

Misstrauen ist da sicherlich durchaus angebracht, das heißt nicht, dass es kein Vertrauen geben kann. Aber was ich vorhin versucht habe anzudeuten, ist, dass die genaue Kontur des Vertrauens, was will man denn vom anderen und wie will man es erreichen, oft unklar ist. Es scheint jetzt ja auch so zu sein, dass da eine gewisse Schockiertheit und Überraschung da ist. Und das mag natürlich daran liegen, dass von Freundschaft zu reden an der Stelle gar nicht so viel hilft. Weil viel wichtiger ist, glaube ich, sich irgendwo klarzumachen, was will man vom anderen, was will man nicht, was akzeptiert man, was akzeptiert man nicht. Und da ist es vielleicht manchmal sogar sinnvoller, Verträge zu schließen als zu vertrauen, die ja in gewisser Weise Vertrauen versuchen zu ersetzen. Das heißt nicht, dass Verträge völlig ohne Vertrauen auskommen, aber ich glaube, es ist nicht ohne Grund, dass das häufig das wichtigste Mittel internationaler Politik ist.

Pokatzky: Wenn ich Sie recht verstehe, wäre das Schlimmste also die Gleichgültigkeit. Also, Vertrauen ist natürlich das Beste, dann kommt die nächste Stufe, Misstrauen, und das Schlimmste ist Gleichgültigkeit. Das heißt, wäre da nicht viel schlimmer gewesen, wenn die Amerikaner das Handy nicht abgehört hätten? Das wäre dann ja die absolute Gleichgültigkeit, das Desinteresse! Also muss die Kanzlerin nicht froh sein, dass ihr Handy abgehört wurde?

Hartmann: Nein, das glaube ich nicht. Also, wie gesagt, ich glaube auch nicht, dass Vertrauen das Beste ist. Ich sage ja, was gut und was schlecht ist, ist sozusagen Verhandlungssache oder eben Teil der Urteilskraft und liegt nicht einfach auf der Straße. Und ich glaube, man muss sich jetzt im Klaren darüber sein, was man vom anderen will. Das wird wahrscheinlich in der Regel nicht beinhalten, dass man vom anderen überwacht werden will. Ich will auch gar nicht sagen, dass die USA nicht irgendein Vertrauen missbraucht haben. Man hätte aber, glaube ich, ein bisschen mehr wissen können. In diesem Fall gibt es offensichtlich kulturelle Differenzen, man hat ja jetzt auch gehört, dass einige Stimmen in den USA etwas verwundert sind und gar nicht so verstehen können, warum da so viel Empörung ist, das ist doch sozusagen klar, dass man da auch einander genau beobachtet. Teil von Freundschaft, wenn man so will, kann ja auch sein, dass man den anderen genau beobachtet.

Also, da sind, glaube ich, auch – wenn es wirklich so ist – vielleicht Naivitäten im Spiel gewesen, die etwas überraschend für die Amerikaner jetzt sind, die wahrscheinlich tatsächlich glauben, dass das, was sie erreichen wollen, wenn wir es mal ernst nehmen – sagen wir mal Terrorabwehr oder irgendwelche anderen Dinge, die ihnen wichtig sind –, die sind dann für die Amerikaner vielleicht gar nicht so abwegig, auf diese Weise zu erreichen, wo wir denken, das kann doch nicht sein! Also, wenn man da die Interessen der Amerikaner ernster nimmt, muss man sich eben vielleicht auch darüber verständigen auf deutscher Seite, sind das auch unsere Interessen und wollen wir die auch so erreichen oder verwirklichen. Und dann kann man vielleicht wieder eine stärkere Basis für gemeinsame Interessen haben. Generell, wenn ich das noch sagen darf, natürlich, wenn jemand unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mich abhorcht und ich das nicht weiß und ich auf der Basis dieses Nicht-Wissens Dinge tue, die ich nicht getan hätte, wenn ich es gewusst hätte, ist das irgendwo ein Vertrauensmissbrauch. Der Punkt ist eben, ob beide Seiten wirklich einig darüber waren, dass das ein Vertrauensverhältnis der Art ist, wo so was nicht vorkommen darf. Und das scheint nicht ganz klar zu sein.

Pokatzky: Wie lässt sich beschädigtes Vertrauen wieder aufbauen? Ist eine Entschuldigung da zwingend notwendig und muss die in der Politik dann auch öffentlich erfolgen?

Hartmann: Das kann vielleicht helfen. Vertrauen ist aber ein dynamischer Prozess. Manchmal sagt man ja, es gibt Vertrauen und es gibt kein Vertrauen, aber ich glaube, es hat eine gewisse Dynamik, es entsteht und es vergeht nicht so schnell, wie man manchmal denkt. Es ist ein langsamer Prozess und auch das Ende kann manchmal langsam gehen. Ich denke, das Wichtigere wäre jetzt natürlich, ja, sich gemeinsam irgendwie Gedanken darüber zu machen, wie man das Verhältnis weiter ausgestaltet. Eine offizielle Entschuldigung mag helfen, bestimmte Irritationen, die jetzt da sind, zu lösen, aber ehrlich gesagt, wenn Sie jetzt die Reaktionen in den USA nehmen, glauben Sie wirklich, dass Sie da eine Entschuldigung erhalten werden? Ich sehe das nicht! Und was hilft eine Entschuldigung, wenn die Praxis einfach weitergeht? Also, die Praxis müsste sich ändern, und da sollten die Deutschen und auch die anderen Beteiligten einfach jetzt so offen, wie es nur geht, miteinander reden. Alles andere kann nicht helfen.

Pokatzky: … nimmt uns Martin Hartmann dann wieder ein Stück des Vertrauens in die Politiker! Vielen Dank, Martin Hartmann! Ihr Buch, "Die Praxis des Vertrauens", ist im Suhrkamp-Verlag erschienen.


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