Nicht einfach Brocken aus ewigem Eis

Der Geograf Stefan Winkler hat ein hoch informatives Werk über die Zusammensetzung und formende Kraft von Gletschern geschrieben. Natürlich geht es dabei auch um den durch den Klimawandel verursachte Schwund der imposanten Eismassen. Die wissenschaftliche Genauigkeit des Werks beeinträchtigt allerdings zuweilen die Lesbarkeit.
Sie gelten als riesige Süßwasserspeicher, als Archive für die Zusammensetzung der Atmosphäre und empfindliche Indikatoren für den Klimawandel: die Gletscher, imposante Eismassen in den Hochgebirgen und an den Polen. Über ihre Entstehung, Bewegung, Zusammensetzung und formende Kraft hat Stefan Winkler eine kaum minder imposante und reich bebilderte Einführung zusammengestellt.

Seit Jahren herrscht deutlicher Gletscherschwund in den Hochgebirgen überall auf der Welt. Die Folgen dieser Entwicklung könnten das Gesicht des Planeten nachhaltig verändern. Klimawandel, globale Erwärmung und der drohende Anstieg des Meeresspiegels sind die Schlagwörter solcher Katastrophenszenarien.

Aber Sensationsgier ist nicht die Sache von Stefan Winklers Gletscherbuch. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit führt er den Leser in die Grundlagen der Glaziologie ein, der Gletscherkunde. Statt Untergangsstimmung gibt es jede Menge Fremdwörter: Akkumulation, Ablation, Albedo, Abrasion.

Der Lesende wird hier schnell zum Lernenden. Erste Lektion: Ein Gletscher ist kein gigantischer Brocken ewigen Eises. Er ist ein unmittelbar von den klimatischen Rahmenbedingungen abhängiges, dynamisches System. Er wächst, er schmilzt, er bewegt sich und formt dabei im Laufe von Jahrhunderten den Untergrund.

In großen Bildern und zeitlichen Bildreihen aus den Alpen, Skandinavien und Neuseeland stellt Stefan Winkler diese glazialdynamischen Prozesse und die durch sie geformten Landschaften vor und legt weiteres Fachvokabular nach: Foliation durch Stratifikation, Massenhaushalt, glazifluviale Erosion, Moränenmaterial.

Niedergetaute Gletscher hinterlassen eine mondähnliche Geröllspur, deren Entstehung Stefan Winkler mit Zeichnungen und reichhaltigem Bildmaterial dokumentiert. Aber es bedarf schon eines wissenschaftlichen Interesses an der Materie, um einen Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen, seitenlang den Unterschied zwischen Lodgement, Melt-out und Dumping von subglazial transportiertem Debris an warmbasalen Gletschern erklärt zu bekommen.

Solche Unterscheidungen sind für Fachleute sicher von Bedeutung, für den normalen Leser, der die opulente Bildbandoptik des Buches ansprechend findet, eher nicht. Aber für den ist das Buch auch nicht primär gedacht. Es möchte explizit eine vom Autor gesehene Lücke in den deutschsprachigen Darstellungen von Gletschern schließen. Eine Fachliteraturlücke wohlgemerkt.

Trotzdem wird auch dem Nichtfachmann schnell klar: Die Zusammenhänge zwischen Klima und Gletscher sind so komplex, dass sichere Prognosen über die Zukunft der Gletscher im 21. Jahrhundert im Augenblick kaum möglich sind. Wir leben am Ende einer kleinen Eiszeit, die um 1850 herum ihr Maximum hatte.

Der heute zu beobachtende Rückgang der Eismassen könnte ein normaler Turnus hin zu gemäßigteren Verhältnissen sein. Nicht jeder schmelzende Gletscher ist gleich ein untrügliches Zeichen für einen vom Menschen verursachten Klimawandel.

Den Blick für die Komplexität der Zusammenhänge zu öffnen, gelingt Stefan Winkler mühelos. Der Primus Verlag, bei dem das Buch erschienen ist, hat sich auf die Fahnen geschrieben, Wissensvermittlung auf hohem Niveau in einer ansprechenden und hochwertigen Aufmachung zu bieten. Diesem Anspruch wird "Gletscher und ihre Landschaften" ohne Zweifel gerecht. Allein das Leseerlebnis bleibt trotz großer Schauwerte bei so viel Sachlichkeit auf der Strecke.

Von Gerrit Stratmann

Stefan Winkler: Gletscher und ihre Landschaften. Eine illustrierte Einführung
Primus Verlag, Darmstadt 2009
183 Seiten, 39,90 Euro