Nicht immer nur das Fremde am Koran sehen
Angelika Neuwirth ist Professorin für Arabistik an der Freien Universität. In ihrem Buch "Der Koran als Text der Spätantike" sucht sie nach neuen Zugängen zur heiligen Schrift des Islam.
Anne Françoise Weber: Vielleicht ist es Ihnen auch schon so ergangen: Aus Neugierde oder auf einer spirituell-religiösen Suche haben Sie sich eine anerkannte Übersetzung des Koran besorgt, gespannt zu lesen begonnen, und dann nach einigen Versen oder Suren entmutigt aufgegeben. Zu viel Unverständliches, zu viele Sprünge, kaum zusammenhängende Geschichten – ziemlich hermetisch erscheint vielen Nichtmuslimen der heilige Text des Islam.
Angelika Neuwirth ist Professorin für Arabistik an der Freien Universität und Leiterin des Projekts Corpus Coranicum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat nun ein Buch vorgelegt, in dem sie den Koran als Text der uns doch eher vertrauten Spätantike betrachtet. Der Untertitel lautet gar: "Ein europäischer Zugang". Ich habe vor der Sendung mit Angelika Neuwirth gesprochen und sie gefragt, wie überhaupt ein europäischer Zugang zu einem Text aussehen kann, der für uns doch zunächst so fremd wirkt?
Angelika Neuwirth: Ja zunächst müssen wir uns darüber klarwerden, dass der Koran nicht von Haus aus ein islamischer Text war, sondern dass er in einer Welt entstand, die gemischt war, was ihre Religionen anging, und dass die ersten Hörer sicherlich auch einen Bildungshorizont besaßen, der gar nicht so verschieden war von dem, was etwa in der gleichzeitigen christlichen oder jüdischen Kultur der Fall war. Und insofern der Koran natürlich verstanden werden wollte, musste er sich an diesen Hörern orientieren. Und was herauskam, ist dann ein Text, der eigentlich, wenn wir davon absehen, dass er in dieser exotischen arabischen Sprache gehalten ist, eigentlich ein Text ist, der ganz gut in den Horizont unserer eigenen älteren Tradition passt. Und ich möchte jetzt eigentlich dafür plädieren, dass wir als Europäer dieses Faktum wieder in Erinnerung bringen und den Koran nicht gleich jenseits dieser Grenze Islam lokalisieren.
Weber: Sie nennen den Koran auch ein Vermächtnis der Spätantike an Europa. Gibt es denn etwas, wo man heute sagen könnte, das haben wir wirklich geerbt aus dem Koran?
Neuwirth: Ja. Also der Koran beantwortet auf seine Weise essenzielle Fragen, also Grundfragen, die man damals gestellt hat. Die sind nicht ganz identisch mit denen, die wir heute stellen würden, aber eine Fülle von Fragen beschäftigen uns auch heute noch. Darauf haben also die verschiedenen Religionskulturen zu gleicher Zeit ganz verschiedene Antworten gefunden. Man kann beispielsweise die Grundtendenz des Koran als heute noch sehr bedenkenswert ansehen, die darin besteht, die Menschheit insgesamt ansprechen zu wollen. Also im Grunde die Ansprüche von Konfessionen, die sich auf einen bestimmten Kreis von Angehörigen geziehen, zu unterlaufen und noch einmal ganz programmatisch universal zu sein. Also das wäre beispielsweise ein Anliegen des Koran, dass heute auch noch Leser und Leute, die sich mit dem Koran beschäftigen, fasziniert.
Weber: Für Sie ist bei Ihrer Forschung die Gemeinde, die koranische Gemeinde, ganz wichtig. Wie muss man die sich denn vorstellen?
Neuwirth: Ja also erst mal, warum ist sie so wichtig: Es ist ja so, dass man in westlichen Kreisen normalerweise davon ausgeht, dass Mohammed der Autor des Korans sei; im Islam spricht man davon, dass Gott gewissermaßen der Autor ist, dass Gott den Koran als solchen formuliert hat und eben durch Verbalinspiration dem Propheten eingegeben hat. Ein dritter Weg bestünde eben darin zu sagen: Da der Koran ja von Anfang an auf die Akzeptanz von Hörern angewiesen war – denn ohne diese Akzeptanz wäre er ja überhaupt nicht weiter überliefert worden –, muss im Grunde diese Hörerschaft, die dann zu einer Übereinkunft findet, dass das ihr Glaubenssystem werden soll, diese Hörerschaft muss eine Rolle dabei gespielt haben. Denn in dem Moment, wo die sich nicht mehr interessiert hätte, wäre der ganze Prozess abgebrochen gewesen.
Und man muss sich vorstellen, dass diese Hörerschaft eine ganze Menge gemeinsam hat mit etwa den Personenkreisen, die auch bei der Etablierung, also bei der Fixierung der anderen beiden Religionskulturen eine Rolle gespielt haben. Und das wäre wieder ein Element der Gemeinsamkeit, an der mir so sehr liegt, dass wir jetzt nicht ständig auf das blicken, was so verschieden ist, und dann verschreckt vom Koran Abstand nehmen, sondern uns mal klarwerden, dass wir im Grunde, dass alle drei Religionskulturen sich einem ähnlichen Prozess der Konsensbildung, der Debattierung, der Verhandlung verdanken. Also deswegen ist diese Gemeinde für mich sehr wichtig, weil sie etwas ablenkt von dieser Kontroverse: Ist der Koran nun von Mohammed – der war ja kein Autor, sondern der war ein Redner, also ein Sprecher – oder ist der Koran in Gänze vom Himmel herabgefallen.
Auch das ist eine Metapher für etwas anderes, also die man nicht so pressen sollte, sondern man sollte dahinschauen, wo eben der Geschichtsschreiber, der Historiker etwas finden kann, und das wäre diese Gemeinde, Auseinandersetzung mit dem Propheten, und auch mit Gegnern, an denen sie sich abstoßen mussten. Das sind Dinge, die wir historisch erfassen können.
Weber: Sie schreiben auch von einem Argumentationsdrama zwischen der Gemeinde und den Vertretern jüdischer oder christlicher Religionen. Worum wurde denn da gestritten oder was könnte so eine Szene aus diesem Drama sein?
Neuwirth: Also es wurde natürlich gestritten um die richtige Auslegung von ganz hervorragenden Texten, also von Texten, die in allen drei Religionen oder mindestens in einer früheren Religion eine große Rolle gespielt haben. Darunter sind etwa, wenn man so will, bestimmte Psalmen, die im Koran wieder erscheinen, aber eine ganz andere Stoßrichtung erhalten, also formal sind die sich so ähnlich, dass man nicht umhin kann zu sagen, das sind Texte, die miteinander korrespondieren. Also der koranische Psalm hat beispielsweise auch eben einen Refrain nach jedem zweiten Vers, und der Psalm hat das auch. Und die sind sich in einem gewissen Maße ähnlich, bis sie zur Sache kommen.
Und dann ist das im Fall der jüdischen Tradition eben die Erinnerung daran, dass Gott immer wieder die Feinde des Volkes Israel ja ausgeschaltet hat. An dieser Stelle würde dann der Koran einen anderen Schwerpunkt setzen: Dem Koran liegt nicht daran, Heilstaten beziehungsweise eben auch solche Vernichtungsakte in Erinnerung zu rufen, sondern eher die Schöpfung als Zeichen der göttlichen Allmacht zu feiern. Und der spricht dann über Schöpfung. Er spricht auch über die zukünftige Verheißung des Eingangs ins Paradies, das wieder eine vollkommene Schöpfung ist. Also Schöpfung tritt an die Stelle von Geschichte. Und so etwas kann man an verschiedensten Texten festmachen, die alle der Form nach offenbar miteinander in Beziehung stehen, aber dann eine neue Ausfüllung erhalten.
Weber: Da ziehen Sie jetzt Vergleiche zwischen Bibel und Koran. – Sie schreiben aber auch, dass das oft unglücklich ist, weil dann oft der Koran so als schlechte Kopie der Bibel eigentlich wahrgenommen wird?
Neuwirth: Das ist natürlich eine lange orientalistische Tradition. Also die Koranforschung hat keineswegs damit begonnen wie etwa die Auseinandersetzung mit der Bibel, dass man zunächst einmal feststellt, was sind denn da für bedeutende Inhalte traktiert, oder welche Formen besitzt der Koran, sondern der erste Akt dieses in der Tat dramatischen Vorgangs der Koranforschung war eine Zerschlagung des Korans in kleine Einheiten, die man zusammengestellt hat mit biblischen. Also man fand gewissermaßen biblische, man setzte eine Art Röntgenbrille auf und fand biblische Elemente im Koran wieder. Es blieb dann immer dabei.
Also mein Einwand gegen diese Methode, die als solche ein wichtiger Schritt ist, ist der, dass man nicht da stehenbleiben darf, wo Dinge sich ähneln, sondern dass man im Grunde begründen können muss, warum sie dann doch eine entscheidende, häufig 180-Grad-Drehung im Koran durchmachen. Warum, im Dienste welcher Theologie steht diese Umdeutung? Auf die kommt es eigentlich an. Und in der früheren Forschung ist das eben nur bis zu diesem Schritt der Herausfindung von früheren Texten gegangen. Also da wollen wir gerade nicht stehenbleiben, sondern den weiteren Schritt gehen.
Weber: Nun sind Sie aber Philologin und keine muslimische Theologin. Ist es denn überhaupt möglich, diesen Schritt zu machen?
Neuwirth: Eine muslimische Theologin würde ihn auch gar nicht machen. Also unsere Tradition des Umgangs mit Texten beruht ja darauf, dass unsere wichtigsten Texte zu allen Zeiten eigentlich übersetzte Texte waren. Denken Sie an die griechisch-römische Literatur, die als normatives Erbe behandelt wurde, oder auch die biblischen Bücher, die alle nicht in der Muttersprache der Leser geboten wurden, sondern durch Übersetzung und Erklärung erst zugänglich gemacht werden mussten. Im Islam ist das umgekehrt: Der Koran hat die biblischen Traditionen in der Weise, wie er sie rezipieren wollte, wie er sie wiedergeben wollte, bereits in vollkommener sprachlicher Form im Arabischen vereinigt, ein für alle Mal, also da war dann keine Übersetzung von biblischen Büchern mehr nötig. Die ist auch fast, also sehr spät erst erfolgt, und nie systematisch.
Das heißt, man liest den Koran nicht als etwas, was herausfordert, auf die früheren Traditionen hin untersucht zu werden, und dann vielleicht auch in seiner Neuheit gegenüber den früheren Traditionen beschrieben zu werden. Das interessiert muslimische Leser in der Regel nicht, weil sie im Koran die vollkommene, sozusagen vollkommene Form der früheren Schriften vorfinden und dann lieber darauf eingehen, auf jede Einzelheit in soll ich sagen sprachlich-stilistischer Hinsicht, in rhetorischer Hinsicht, natürlich auch in theologischer Hinsicht, lieber sich mit jedem ganz kleinen Element ihrer Heiligen Schrift beschäftigen, als dass sie diese aufkratzen und unter ihr nun andere Schriften wahrnehmen würden.
Weber: Sie beklagen ja auch, dass die westliche und die islamische Forschung zum Koran ziemlich auseinanderfallen und sich gegenseitig nicht wahrnehmen. Hoffen Sie denn, dass Ihre Forschung jetzt auch von muslimischer Seite rezipiert wird, und helfen da vielleicht die neu einzurichtenden Islamischen Studien an deutschen Universitäten dabei?
Neuwirth: Ganz entschieden! Also ich bin eine große Verfechterin der Notwendigkeit, die der Wissenschaftsrat erfreulicherweise jetzt endlich thematisiert hat, solche Zentren einzurichten. Denn wir brauchen dringend eine Institution, je mehr, desto besser, in denen die Selbstwahrnehmung der Muslime einmal in Gänze zur Sprache kommen kann. Also indem der ganze Wissenskanon so gut wie möglich repräsentiert wird durch Fachleute, und nicht nur als, sozusagen als Materialbasis für bestimmte Fragestellungen, die wir nun uns auswählen, dient. Also muslimische kritische Theologen brauchen die Kenntnis dieses Zugangs, um auch in die Debatte einzutreten, die gegenwärtig sehr heftig geführt wird, nämlich um die Echtheit, um die Echtheit des Koran.
Es gibt eine ganze Reihe von – seit etwa 40 Jahren gibt es die –, eine Reihe von Verfechtern der These, dass der Koran gar nicht in der Zeit entstanden sei, in der er normalerweise lokalisiert wird, und dass er auch mit dem Propheten Mohammed gar nichts zu tun habe. Also es gibt ein ganzes Spektrum von revisionistischen Thesen, die das bestreiten. Und um in diese Diskussion einzutreten, reicht es ja nicht, wenn man vom Wahrheitswert des Koran überzeugt ist, sondern man benötigt ja da wirklich historische Argumente. Man benötigt auch Argumente, die aus der Handschriftenüberlieferung stammen, um die wir uns auch sehr kümmern im Corpus-Coranicum-Projekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo man aufgrund von kodikologischen Studien zeigen kann, dass die ältesten, ja die ältesten wenn nicht vollständigen, aber doch weitgehend repräsentativen Teile des Koran schon aus dem Jahre 670 etwa datieren.
Also das würde diese Zeitspanne, in der der Koran erfunden worden wäre, dann entscheidend einengen. Also ich denke, dass diese historischen Argumente ein ganz wichtiger Bestandteil auch einer Debatte sein müssen, die ja die Muslime irgendwann auch mal selber führen können müssen. Gegenwärtig weichen sie in der Regel dieser Debatte aus. Und daher sehen wir uns eigentlich so ein bisschen synergetisch mit unseren muslimischen Kollegen verbunden.
Weber: Die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth über ihre Koranforschung, die übrigens mit einem Handkommentar des Koran in den kommenden Jahren fortgesetzt werden soll. Ihr Buch, "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang", ist im Verlag der Weltreligionen erschienen, umfasst 860 Seiten und kostet 39,90 Euro.
Angelika Neuwirth ist Professorin für Arabistik an der Freien Universität und Leiterin des Projekts Corpus Coranicum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat nun ein Buch vorgelegt, in dem sie den Koran als Text der uns doch eher vertrauten Spätantike betrachtet. Der Untertitel lautet gar: "Ein europäischer Zugang". Ich habe vor der Sendung mit Angelika Neuwirth gesprochen und sie gefragt, wie überhaupt ein europäischer Zugang zu einem Text aussehen kann, der für uns doch zunächst so fremd wirkt?
Angelika Neuwirth: Ja zunächst müssen wir uns darüber klarwerden, dass der Koran nicht von Haus aus ein islamischer Text war, sondern dass er in einer Welt entstand, die gemischt war, was ihre Religionen anging, und dass die ersten Hörer sicherlich auch einen Bildungshorizont besaßen, der gar nicht so verschieden war von dem, was etwa in der gleichzeitigen christlichen oder jüdischen Kultur der Fall war. Und insofern der Koran natürlich verstanden werden wollte, musste er sich an diesen Hörern orientieren. Und was herauskam, ist dann ein Text, der eigentlich, wenn wir davon absehen, dass er in dieser exotischen arabischen Sprache gehalten ist, eigentlich ein Text ist, der ganz gut in den Horizont unserer eigenen älteren Tradition passt. Und ich möchte jetzt eigentlich dafür plädieren, dass wir als Europäer dieses Faktum wieder in Erinnerung bringen und den Koran nicht gleich jenseits dieser Grenze Islam lokalisieren.
Weber: Sie nennen den Koran auch ein Vermächtnis der Spätantike an Europa. Gibt es denn etwas, wo man heute sagen könnte, das haben wir wirklich geerbt aus dem Koran?
Neuwirth: Ja. Also der Koran beantwortet auf seine Weise essenzielle Fragen, also Grundfragen, die man damals gestellt hat. Die sind nicht ganz identisch mit denen, die wir heute stellen würden, aber eine Fülle von Fragen beschäftigen uns auch heute noch. Darauf haben also die verschiedenen Religionskulturen zu gleicher Zeit ganz verschiedene Antworten gefunden. Man kann beispielsweise die Grundtendenz des Koran als heute noch sehr bedenkenswert ansehen, die darin besteht, die Menschheit insgesamt ansprechen zu wollen. Also im Grunde die Ansprüche von Konfessionen, die sich auf einen bestimmten Kreis von Angehörigen geziehen, zu unterlaufen und noch einmal ganz programmatisch universal zu sein. Also das wäre beispielsweise ein Anliegen des Koran, dass heute auch noch Leser und Leute, die sich mit dem Koran beschäftigen, fasziniert.
Weber: Für Sie ist bei Ihrer Forschung die Gemeinde, die koranische Gemeinde, ganz wichtig. Wie muss man die sich denn vorstellen?
Neuwirth: Ja also erst mal, warum ist sie so wichtig: Es ist ja so, dass man in westlichen Kreisen normalerweise davon ausgeht, dass Mohammed der Autor des Korans sei; im Islam spricht man davon, dass Gott gewissermaßen der Autor ist, dass Gott den Koran als solchen formuliert hat und eben durch Verbalinspiration dem Propheten eingegeben hat. Ein dritter Weg bestünde eben darin zu sagen: Da der Koran ja von Anfang an auf die Akzeptanz von Hörern angewiesen war – denn ohne diese Akzeptanz wäre er ja überhaupt nicht weiter überliefert worden –, muss im Grunde diese Hörerschaft, die dann zu einer Übereinkunft findet, dass das ihr Glaubenssystem werden soll, diese Hörerschaft muss eine Rolle dabei gespielt haben. Denn in dem Moment, wo die sich nicht mehr interessiert hätte, wäre der ganze Prozess abgebrochen gewesen.
Und man muss sich vorstellen, dass diese Hörerschaft eine ganze Menge gemeinsam hat mit etwa den Personenkreisen, die auch bei der Etablierung, also bei der Fixierung der anderen beiden Religionskulturen eine Rolle gespielt haben. Und das wäre wieder ein Element der Gemeinsamkeit, an der mir so sehr liegt, dass wir jetzt nicht ständig auf das blicken, was so verschieden ist, und dann verschreckt vom Koran Abstand nehmen, sondern uns mal klarwerden, dass wir im Grunde, dass alle drei Religionskulturen sich einem ähnlichen Prozess der Konsensbildung, der Debattierung, der Verhandlung verdanken. Also deswegen ist diese Gemeinde für mich sehr wichtig, weil sie etwas ablenkt von dieser Kontroverse: Ist der Koran nun von Mohammed – der war ja kein Autor, sondern der war ein Redner, also ein Sprecher – oder ist der Koran in Gänze vom Himmel herabgefallen.
Auch das ist eine Metapher für etwas anderes, also die man nicht so pressen sollte, sondern man sollte dahinschauen, wo eben der Geschichtsschreiber, der Historiker etwas finden kann, und das wäre diese Gemeinde, Auseinandersetzung mit dem Propheten, und auch mit Gegnern, an denen sie sich abstoßen mussten. Das sind Dinge, die wir historisch erfassen können.
Weber: Sie schreiben auch von einem Argumentationsdrama zwischen der Gemeinde und den Vertretern jüdischer oder christlicher Religionen. Worum wurde denn da gestritten oder was könnte so eine Szene aus diesem Drama sein?
Neuwirth: Also es wurde natürlich gestritten um die richtige Auslegung von ganz hervorragenden Texten, also von Texten, die in allen drei Religionen oder mindestens in einer früheren Religion eine große Rolle gespielt haben. Darunter sind etwa, wenn man so will, bestimmte Psalmen, die im Koran wieder erscheinen, aber eine ganz andere Stoßrichtung erhalten, also formal sind die sich so ähnlich, dass man nicht umhin kann zu sagen, das sind Texte, die miteinander korrespondieren. Also der koranische Psalm hat beispielsweise auch eben einen Refrain nach jedem zweiten Vers, und der Psalm hat das auch. Und die sind sich in einem gewissen Maße ähnlich, bis sie zur Sache kommen.
Und dann ist das im Fall der jüdischen Tradition eben die Erinnerung daran, dass Gott immer wieder die Feinde des Volkes Israel ja ausgeschaltet hat. An dieser Stelle würde dann der Koran einen anderen Schwerpunkt setzen: Dem Koran liegt nicht daran, Heilstaten beziehungsweise eben auch solche Vernichtungsakte in Erinnerung zu rufen, sondern eher die Schöpfung als Zeichen der göttlichen Allmacht zu feiern. Und der spricht dann über Schöpfung. Er spricht auch über die zukünftige Verheißung des Eingangs ins Paradies, das wieder eine vollkommene Schöpfung ist. Also Schöpfung tritt an die Stelle von Geschichte. Und so etwas kann man an verschiedensten Texten festmachen, die alle der Form nach offenbar miteinander in Beziehung stehen, aber dann eine neue Ausfüllung erhalten.
Weber: Da ziehen Sie jetzt Vergleiche zwischen Bibel und Koran. – Sie schreiben aber auch, dass das oft unglücklich ist, weil dann oft der Koran so als schlechte Kopie der Bibel eigentlich wahrgenommen wird?
Neuwirth: Das ist natürlich eine lange orientalistische Tradition. Also die Koranforschung hat keineswegs damit begonnen wie etwa die Auseinandersetzung mit der Bibel, dass man zunächst einmal feststellt, was sind denn da für bedeutende Inhalte traktiert, oder welche Formen besitzt der Koran, sondern der erste Akt dieses in der Tat dramatischen Vorgangs der Koranforschung war eine Zerschlagung des Korans in kleine Einheiten, die man zusammengestellt hat mit biblischen. Also man fand gewissermaßen biblische, man setzte eine Art Röntgenbrille auf und fand biblische Elemente im Koran wieder. Es blieb dann immer dabei.
Also mein Einwand gegen diese Methode, die als solche ein wichtiger Schritt ist, ist der, dass man nicht da stehenbleiben darf, wo Dinge sich ähneln, sondern dass man im Grunde begründen können muss, warum sie dann doch eine entscheidende, häufig 180-Grad-Drehung im Koran durchmachen. Warum, im Dienste welcher Theologie steht diese Umdeutung? Auf die kommt es eigentlich an. Und in der früheren Forschung ist das eben nur bis zu diesem Schritt der Herausfindung von früheren Texten gegangen. Also da wollen wir gerade nicht stehenbleiben, sondern den weiteren Schritt gehen.
Weber: Nun sind Sie aber Philologin und keine muslimische Theologin. Ist es denn überhaupt möglich, diesen Schritt zu machen?
Neuwirth: Eine muslimische Theologin würde ihn auch gar nicht machen. Also unsere Tradition des Umgangs mit Texten beruht ja darauf, dass unsere wichtigsten Texte zu allen Zeiten eigentlich übersetzte Texte waren. Denken Sie an die griechisch-römische Literatur, die als normatives Erbe behandelt wurde, oder auch die biblischen Bücher, die alle nicht in der Muttersprache der Leser geboten wurden, sondern durch Übersetzung und Erklärung erst zugänglich gemacht werden mussten. Im Islam ist das umgekehrt: Der Koran hat die biblischen Traditionen in der Weise, wie er sie rezipieren wollte, wie er sie wiedergeben wollte, bereits in vollkommener sprachlicher Form im Arabischen vereinigt, ein für alle Mal, also da war dann keine Übersetzung von biblischen Büchern mehr nötig. Die ist auch fast, also sehr spät erst erfolgt, und nie systematisch.
Das heißt, man liest den Koran nicht als etwas, was herausfordert, auf die früheren Traditionen hin untersucht zu werden, und dann vielleicht auch in seiner Neuheit gegenüber den früheren Traditionen beschrieben zu werden. Das interessiert muslimische Leser in der Regel nicht, weil sie im Koran die vollkommene, sozusagen vollkommene Form der früheren Schriften vorfinden und dann lieber darauf eingehen, auf jede Einzelheit in soll ich sagen sprachlich-stilistischer Hinsicht, in rhetorischer Hinsicht, natürlich auch in theologischer Hinsicht, lieber sich mit jedem ganz kleinen Element ihrer Heiligen Schrift beschäftigen, als dass sie diese aufkratzen und unter ihr nun andere Schriften wahrnehmen würden.
Weber: Sie beklagen ja auch, dass die westliche und die islamische Forschung zum Koran ziemlich auseinanderfallen und sich gegenseitig nicht wahrnehmen. Hoffen Sie denn, dass Ihre Forschung jetzt auch von muslimischer Seite rezipiert wird, und helfen da vielleicht die neu einzurichtenden Islamischen Studien an deutschen Universitäten dabei?
Neuwirth: Ganz entschieden! Also ich bin eine große Verfechterin der Notwendigkeit, die der Wissenschaftsrat erfreulicherweise jetzt endlich thematisiert hat, solche Zentren einzurichten. Denn wir brauchen dringend eine Institution, je mehr, desto besser, in denen die Selbstwahrnehmung der Muslime einmal in Gänze zur Sprache kommen kann. Also indem der ganze Wissenskanon so gut wie möglich repräsentiert wird durch Fachleute, und nicht nur als, sozusagen als Materialbasis für bestimmte Fragestellungen, die wir nun uns auswählen, dient. Also muslimische kritische Theologen brauchen die Kenntnis dieses Zugangs, um auch in die Debatte einzutreten, die gegenwärtig sehr heftig geführt wird, nämlich um die Echtheit, um die Echtheit des Koran.
Es gibt eine ganze Reihe von – seit etwa 40 Jahren gibt es die –, eine Reihe von Verfechtern der These, dass der Koran gar nicht in der Zeit entstanden sei, in der er normalerweise lokalisiert wird, und dass er auch mit dem Propheten Mohammed gar nichts zu tun habe. Also es gibt ein ganzes Spektrum von revisionistischen Thesen, die das bestreiten. Und um in diese Diskussion einzutreten, reicht es ja nicht, wenn man vom Wahrheitswert des Koran überzeugt ist, sondern man benötigt ja da wirklich historische Argumente. Man benötigt auch Argumente, die aus der Handschriftenüberlieferung stammen, um die wir uns auch sehr kümmern im Corpus-Coranicum-Projekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, wo man aufgrund von kodikologischen Studien zeigen kann, dass die ältesten, ja die ältesten wenn nicht vollständigen, aber doch weitgehend repräsentativen Teile des Koran schon aus dem Jahre 670 etwa datieren.
Also das würde diese Zeitspanne, in der der Koran erfunden worden wäre, dann entscheidend einengen. Also ich denke, dass diese historischen Argumente ein ganz wichtiger Bestandteil auch einer Debatte sein müssen, die ja die Muslime irgendwann auch mal selber führen können müssen. Gegenwärtig weichen sie in der Regel dieser Debatte aus. Und daher sehen wir uns eigentlich so ein bisschen synergetisch mit unseren muslimischen Kollegen verbunden.
Weber: Die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth über ihre Koranforschung, die übrigens mit einem Handkommentar des Koran in den kommenden Jahren fortgesetzt werden soll. Ihr Buch, "Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang", ist im Verlag der Weltreligionen erschienen, umfasst 860 Seiten und kostet 39,90 Euro.