Nicht mehr als eine freundliche Floskel

Von Gerald Beyrodt |
Selten wurden die "jüdisch-christlichen Wurzeln" Deutschlands so begeistert beschworen wie in den letzten Wochen. Sie gelten als Gegengift gegen den Verdacht, es gehe vielleicht nur darum, eine unhinterfragbare Leitkultur zu installieren.
Wer als Jude in Deutschland darauf wartet, dass ihm jemand am Neujahrsfest "shana tova" oder auch nur auf Deutsch ein "gutes Jahr" wünscht, der kann lange warten. Jüdische Feste sind weitgehend unbekannt. Wer mit der religiösen Kopfbedeckung, der Kippa, in einen Bus steigt, fühlt sich wie ein Exot. In New York gehört die Kippa völlig selbstverständlich zum Stadtbild.

Sicher teilen Juden und Christen die Zehn Gebote und die hebräische Bibel. Sicher wäre es auch ganz nett, wenn Politiker weniger bedenkenlos von den "christlichen Zehn Geboten" reden würden als in der Vergangenheit. Doch 2000 Jahre jüdische Religionsphilosophie sind in Europa weitgehend unbekannt. Der Talmud gibt dem heutigen Judentum sein Gesicht. Christen haben ihn jahrhundertelang ignoriert, verfemt und immer wieder verboten. Jüdische Kultur blieb der Mehrheitsgesellschaft verborgen, weil sie nichts davon wissen wollte.

Stattdessen hat sie Juden jahrhundertelang mit absurden Vorwürfen belegt: Dass sie Hostien schänden, dass sie christliche Kinder töten und zu Mazze-Broten verarbeiten und an Pessach genüsslich verspeisen. Hätten die Menschen voneinander gewusst, dann wären sie stutzig geworden: Denn Mazze-Brote bestehen aus Mehl und Wasser und schmecken genauso pappig wie Abendmahlsoblaten.

Im Mittelalter konnten Juden in Deutschland besser leben als in anderen europäischen Ländern. Doch sie konnten nicht Mitglied der Zünfte werden und hatten in Städten keine Bürgerrechte. Erst 1871 mit der Verfassung kam in ganz Deutschland die rechtliche Gleichstellung. Vorher gab es ein probates Mittel für Juden, die Karriere machen wollten: Das war der Übertritt - Integrationsverweigerung ging von der Mehrheitsgesellschaft aus.
Kurze Zeit gab es in Deutschland Juden, die Beamte waren, die Richter waren, die höhere Ränge im Militär einnahmen. Kurze Zeit sah es so aus, als könnten sich Juden in Deutschland emanzipieren. Doch diese Hoffnungen zerplatzen im Holocaust.

Christliche Deutsche haben ihr Interesse am Judentum erst danach entdeckt. Die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit zeigen seit den 50er Jahren, wie ein gedeihliches Zusammenleben hätte aussehen können, finden Gemeinsamkeiten und verzichten auf Mission.

Die Geschichte der Juden in Deutschland zeigt vor allem: Deutschland hat sich immer schwer getan mit Menschen, die anders waren – oder auch nur anders zu sein schienen. Das kann in Zukunft anders werden. Doch schönreden nützt gar nichts. Die "christlich-jüdische Kultur" ist bloß eine freundliche Floskel.