Nicht mehr in bester Verfassung
Als das Grundgesetz vor sechzig Jahren formuliert wurde, drückte sich in ihm nicht nur ein antitotalitärer Konsens und der Einfluss der Alliierten aus. Seine Verfasser hatten zudem einen untrüglichen Sinn für sprachliche Ästhetik.
"Meine Herren, was für ein Deutsch!" - mit diesen Worten kanzelte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss die ursprüngliche Fassung des Artikel 1 ab. Sie lautete: "Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Heuss nannte sie zutreffend "eine banale Staatsphilosophie". Statt ihrer fand eine Formulierung Eingang in das Grundgesetz, die ungleich kürzer, ästhetischer und deshalb radikaler und präziser war: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Die Väter und Mütter der Verfassung wussten offenbar, dass sich in der Klarheit der Worte eine Eindeutigkeit der Normen spiegelt und dass diese Klarheit und Eindeutigkeit ein wesentlicher Garant der Durchsetzungsfähigkeit ist. Dieses Wissen ist im Laufe der sechzig Jahre zunehmend abhanden gekommen.
Davon zeugen schon die 53 Änderungen, denen das Grundgesetz seit seiner Verabschiedung unterworfen wurde. Sie gingen meist einher mit einem wachsenden Umfang der Artikel. Sie gingen meist zu Lasten der Verständlichkeit.
Dies mag zwar ärgerlich, aber noch hinnehmbar sein bei den Übergangs- und Schlussbestimmungen. Es ist jedoch fatal, wo es um die Grundrechte des Bürgers geht. Denn dessen Rechtsvertrauen leidet, wenn die klare Norm in einen Kokon von Relativierungen gewoben wird. Was gilt die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 Absatz 1, wenn diese in den darauf folgenden sechs Absätzen mit Formulierungen eingeschränkt wird, die nur noch dem juristisch Vorgebildeten verständlich sind.
Es sind kleinteilige Regelungen, die sich in verwinkelten Schachtelsätzen wie Kletten um die ursprünglich klare Norm schlingen, bis deren Gehalt kaum noch erkennbar ist.
Oder schlichtweg nicht mehr vorhanden ist, wie bei Artikel 16a, der einst lautete: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Dieses Recht wurde durch Änderungen so weit aufgeblasen, bis von ihm nicht einmal mehr der schöne Schein übrig blieb. Es hätte der Ästhetik und der Klarheit des Rechts mehr gedient, man hätte den Artikel gestrichen.
Selten ist die Ausführlichkeit der Grundgesetzänderungen der Komplexität des zu regelnden Sachverhaltes geschuldet. Die detaillierten Sprachkonvolute sind vielmehr Resultate einer parlamentarischen Konsensfindung, die sich in Kompromissformulierungen erschöpft.
Es wird um Punkt und Komma gefeilscht, um die jeweilige politische Markierung zu setzen. Dem gleichen Interesse folgen auch die periodisch ertönenden Rufe nach einer Ergänzung des Grundgesetzes um dieses oder jenes populäre Anliegen. Sei es die Kultur, sei es der Sport, sei es die deutsche Sprache - die Förderungswürdigkeit lässt sich kaum besser unterstreichen, als durch die Veredlung zum Grundrecht.
Dieser parlamentarischen Vereinnahmung der Verfassung wird die Krone aufgesetzt, wenn Bundestag und Bundesrat demnächst eine Grundgesetzänderung zum Erhalt der Arbeitsagenturen beschließen werden. Diese waren vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden, weil in ihrer Trägerschaft Kommunen und Bund vermischt sind.
Dieser Mischmasch war wiederum einem Kompromiss der großen Parteien geschuldet. Statt diesen zu bereinigen und damit dem Spruch des Gerichtes Genüge zu tun, ändert man nun kurzerhand die verfassungsrechtliche Ordnung. Mit dem Namen Hartz IV wird sich demnächst eine der dreistesten und unansehnlichsten Änderungen des Grundgesetzes seit seinem Bestehen verbinden.
Nun ist das Grundgesetz nicht in Stein gemeißelt. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und Werte kann und muss in ihm seinen Niederschlag finden. Doch scheint es einer der wenigen Konstruktionsfehler der Verfassung zu sein, dass ihre Änderung zwei ihrer Organe anheimgestellt ist. Nach sechzig Jahren wäre es an der Zeit, über Volksabstimmungen bei Änderungen der Verfassung nachzudenken. Das wäre vielleicht mal eine sinnvolle Verfassungsänderung.
Dieter Rulff, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Seit Januar 2006 ist er Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".
Die Väter und Mütter der Verfassung wussten offenbar, dass sich in der Klarheit der Worte eine Eindeutigkeit der Normen spiegelt und dass diese Klarheit und Eindeutigkeit ein wesentlicher Garant der Durchsetzungsfähigkeit ist. Dieses Wissen ist im Laufe der sechzig Jahre zunehmend abhanden gekommen.
Davon zeugen schon die 53 Änderungen, denen das Grundgesetz seit seiner Verabschiedung unterworfen wurde. Sie gingen meist einher mit einem wachsenden Umfang der Artikel. Sie gingen meist zu Lasten der Verständlichkeit.
Dies mag zwar ärgerlich, aber noch hinnehmbar sein bei den Übergangs- und Schlussbestimmungen. Es ist jedoch fatal, wo es um die Grundrechte des Bürgers geht. Denn dessen Rechtsvertrauen leidet, wenn die klare Norm in einen Kokon von Relativierungen gewoben wird. Was gilt die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 Absatz 1, wenn diese in den darauf folgenden sechs Absätzen mit Formulierungen eingeschränkt wird, die nur noch dem juristisch Vorgebildeten verständlich sind.
Es sind kleinteilige Regelungen, die sich in verwinkelten Schachtelsätzen wie Kletten um die ursprünglich klare Norm schlingen, bis deren Gehalt kaum noch erkennbar ist.
Oder schlichtweg nicht mehr vorhanden ist, wie bei Artikel 16a, der einst lautete: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Dieses Recht wurde durch Änderungen so weit aufgeblasen, bis von ihm nicht einmal mehr der schöne Schein übrig blieb. Es hätte der Ästhetik und der Klarheit des Rechts mehr gedient, man hätte den Artikel gestrichen.
Selten ist die Ausführlichkeit der Grundgesetzänderungen der Komplexität des zu regelnden Sachverhaltes geschuldet. Die detaillierten Sprachkonvolute sind vielmehr Resultate einer parlamentarischen Konsensfindung, die sich in Kompromissformulierungen erschöpft.
Es wird um Punkt und Komma gefeilscht, um die jeweilige politische Markierung zu setzen. Dem gleichen Interesse folgen auch die periodisch ertönenden Rufe nach einer Ergänzung des Grundgesetzes um dieses oder jenes populäre Anliegen. Sei es die Kultur, sei es der Sport, sei es die deutsche Sprache - die Förderungswürdigkeit lässt sich kaum besser unterstreichen, als durch die Veredlung zum Grundrecht.
Dieser parlamentarischen Vereinnahmung der Verfassung wird die Krone aufgesetzt, wenn Bundestag und Bundesrat demnächst eine Grundgesetzänderung zum Erhalt der Arbeitsagenturen beschließen werden. Diese waren vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden, weil in ihrer Trägerschaft Kommunen und Bund vermischt sind.
Dieser Mischmasch war wiederum einem Kompromiss der großen Parteien geschuldet. Statt diesen zu bereinigen und damit dem Spruch des Gerichtes Genüge zu tun, ändert man nun kurzerhand die verfassungsrechtliche Ordnung. Mit dem Namen Hartz IV wird sich demnächst eine der dreistesten und unansehnlichsten Änderungen des Grundgesetzes seit seinem Bestehen verbinden.
Nun ist das Grundgesetz nicht in Stein gemeißelt. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und Werte kann und muss in ihm seinen Niederschlag finden. Doch scheint es einer der wenigen Konstruktionsfehler der Verfassung zu sein, dass ihre Änderung zwei ihrer Organe anheimgestellt ist. Nach sechzig Jahren wäre es an der Zeit, über Volksabstimmungen bei Änderungen der Verfassung nachzudenken. Das wäre vielleicht mal eine sinnvolle Verfassungsänderung.
Dieter Rulff, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Seit Januar 2006 ist er Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".