"Nicht nur der grüne Pfeil ist geblieben, auch der Staatskünstler lebt fort"

Von Christine Lemke-Matwey · 21.10.2010
Am Sonntag wäre Christoph Schlingensief 50 Jahre alt geworden. Stellen wir uns einmal vor, von welch staatstragender Art die Geburtstagsfeierlichkeiten gewesen wären, wäre der "Theater-Provokateur" nicht vor zwei Monaten seinem Lungenkrebsleiden erlegen: Eine Kirche der Freude hätte es gegeben, weltumspannend, von Burkina Faso bis Oberhausen, andere professionelle Provokateure hätten sich gegenseitig in Exzellenz-Initiativen überboten, und Schlingensief selbst wäre wahlweise als Horst Seehofer oder als Stefanie zu Guttenberg durch die "Tagesthemen" gehüpft.
Vor allem aber hätte Angela Merkel eine SMS geschickt: Lieber Herr Schlingensief, die Bundesrepublik Deutschland gratuliert. Und Schlingensief hätte sich diese Kurzmitteilung auf Büttenpapier ausgedruckt und hätte sie öffentlich vertilgt - als Replik auf die Kanzlerinnenfrage bei einem Treffen im Kanzlerinnenamt vor ein paar Jahren, ob er, Schlingensief, nicht noch ein paar "Schnittchen" möchte. Mehr wollte die Kanzlerin vom Zeremonienmeister des postmodernen Happenings offenbar nicht wissen. Aber wer sagt denn, dass es im Tête-à-tête von Politik und Kunst um Inhalte geht.

Ist Christoph Schlingensief ein Staatskünstler gewesen, unser letzter vielleicht? Die Anteilnahme an seiner Krankheit, das Ausmaß der Betroffenheit nach seinem Tod legen nichts anderes nahe, bis heute. Um niemanden ist in letzter Zeit derart offensiv getrauert worden, fast wie in der griechischen Tragödie, an deren Ende die Katharsis steht, die Reinigung als Ritual.

Nun gab es immer Künstler, die die Nähe der Politik gesucht haben respektive von derselben heimgesucht worden sind - man denke an die ehemalige DDR, an Uschi Glas (ihrerzeit für die CSU) oder an Günter Grass (seinerzeit für die SPD). Waren Hanns Eisler oder Christa Wolf keine Staatskünstler, und was wäre Gerhard Schröder heute ohne sein von Jörg Immendorff gemaltes güldenes Porträt? Auch Joschka Fischer und Daniel Barenboim übrigens duzen sich, wobei die Rolle des Ex-Revoluzzers hier der Ex-Politiker übernimmt.

Ansonsten verhält es sich klischeegerecht genau anders herum, der Künstler rebelliert, mal mehr, mal weniger substanziell und hartnäckig – und die Politik macht ihn sich gefügig. Im Osten ehedem durch Druck und Privilegien, im Westen eher nur durch Privilegien … hier ein Kommissionsvorsitz zu Fragen von Ethik & Moral, dort eine kleine Beratung, da ein Preis, den keiner ablehnen kann. Und schon ist man drin.

Das, wie gesagt, war immer so. Und natürlich hat es immer auch Querschläger gegeben, wilde, ungebärdige Persönlichkeiten, die sich nicht eingemeinden und befrieden ließen: Einar Schleef, Heiner Müller, Klaus Kinski, Wolfgang Neuss und wie sie alle hießen. Von seinem ganzen Naturell und künstlerischen Furor her gehört Schlingensief mit in diese Liga, nicht nur sein deutsch-deutsches "Kettensägenmassaker" und sein Traum von einem afrikanischen Operndorf belegen das. Was ihn gleichwohl in den Rang eines Staatskünstlers erhebt, ist seine Krebserkrankung und deren mediale Verarbeitung und Rezeption.

Hier hat einer seine Wunde gezeigt, ist mit seiner Verzweiflung, seiner Todesangst hausieren gegangen – und hat ein Publikum, eine Gemeinde, ein Volk gefunden, das sich so und nicht anders repräsentiert sehen will. Paradox, aber wahr: Je weniger Staat wir uns im Sinne eines funktionierenden Gemeinwesens leisten, desto mehr Schlingensief brauchen wir, und natürlich muss man hier die Kirche hinzufügen: je weniger Staat und Kirche wir uns leisten.

Die Zeit der "Ichlinge" sei vorbei, heißt es. Das ist so beruhigend wie falsch, denn noch nie wurde so laut "Ich" gerufen in der Kunst wie heute. Im Kunstvollzug löst sich alles Soziale auf. Christoph Schlingensief war, ob er wollte oder nicht, der Prophet dieser Bewegung. Oder um den Philosophen und Medientheoretiker Boris Groys zu zitieren: Schlingensief ist Gott.


Christine Lemke-Matwey, Musikkritikerin und Redakteurin beim Berliner "Tagesspiegel". Schreibt auch regelmäßig für die Wochenzeitung "Die Zeit".