"Nicht nur die berühmten gelben Heftchen"
Der ehemalige Programmchef des Reclam-Verlags, Rainer Moritz, hat anlässlich des 200. Geburtstages von Anton Philipp Reclam auf die Kontinuität des Verlages hingewiesen. Reclam sei ein traditionsbewusstes Haus "ohne viel Personalwechsel", erklärte Moritz.
Frank Meyer: Im Studio ist jetzt Rainer Moritz, er war 1995 an drei Jahre lang Programmchef des Reclam-Verlags Leipzig. Danach hat er den Hoffmann und Campe Verlag in Hamburg und das Hamburger Literaturhaus geleitet. Rainer Moritz, Tobias Barth hat ja gerade das Profil des Reclam-Verlags in der DDR beschrieben. Der Verlag hatte sich nach 1950 in einen Reclam-Verlag in Stuttgart und einen in Leipzig geteilt. Als Sie in den 90er Jahren den östlichen Teil des Reclam-Verlags geleitet haben, was für ein Programm hat Reclam Leipzig da angeboten?
Rainer Moritz: Man muss vielleicht zwei, drei Jahre zurückgehen, Sie haben diese Zeit der Trennung angesprochen. 40 Jahre beide Verlage nebeneinander produzieren, durchaus auch in Konkurrenzverhältnis. Die jeweiligen Ausgaben durften nicht in der DDR bzw. in der Bundesrepublik verkauft werden. Und dann kam es eben nach der Wende zum Zusammenschluss der beiden Verlage. Das heißt, Reclam Stuttgart hat von der Treuhand den Leipziger Teil übernommen. Und von da an eigentlich, von 91/92, ging es darum, wie kann man sozusagen in Leipzig ein eigenständiges Programm schaffen. Es war klar, dass nicht beide Häuser, also in Stuttgart und in Leipzig, sich um Klassikerausgaben bemühen konnten, das wäre sinnlos gewesen in den 90ern. Das heißt, die gelben Klassiker der Bundesrepublik, wenn man so sagen will, blieben in Stuttgart, und Leipzig hat dann versucht bis ins letzte Jahr hinein, eben ein in Anführungszeichen "richtiges Taschenbuchprogramm" zu machen auf der einen Seite und daneben Hardcover anzubieten und vor allem in Bereichen, die eben von Stuttgart nicht abgedeckt wurden, also zum Beispiel ein starkes Sich-Kümmern um Belletristik, um internationale wie nationale Gegenwartsliteratur. Das war sicherlich der wesentlichste Unterschied neben einzelnen anderen Sachen, die man in Leipzig gemacht hat in den 90er Jahren.
Meyer: Wenn Sie sagen "richtiges Taschenbuchprogramm", in welcher Ausrichtung? Ging es vor allem um Neuentdeckungen von Autoren?
Moritz: Ich glaube, das ist so, wenn man ein neues Taschenbuchprogramm, das war die Reclam-Bibliothek Leipzig, die man Anfang der 90er Jahre geschaffen hat, wenn man ein solches Programm mit vielleicht 20, 30 Titeln im Halbjahr, die erschienen sind, wenn man auf den Taschenbuchmarkt geht, der war damals schon in den 90er Jahren ein heiß umkämpfter Markt, also für "Neuanfänger" in Anführungszeichen gewiss kein leichtes Entree, dann war letztlich die Notwendigkeit gegeben, auch das Programm zu erweitern. Das heißt, man hat natürlich in Leipzig weiterhin auch ostdeutsche Autoren gemacht, man hat sehr viel sich um russische, polnische Autoren gekümmert. Man hat Bände zur Philosophie gemacht, sehr schöne Sammelbände, die einfach auch sehr gut dokumentiert waren, auch in den 90ern. Aber es war klar, der Verlag muss sich öffnen auch hin zu populärerer Belletristik, muss auch im Bereich deutscher Literatur Autoren entdecken. "Schlafes Bruder", das berühmteste Beispiel, das war schon 1992, also vor meiner Zeit, das hat den Verlag gerade in der Belletristik bekannt gemacht und ihm lange Jahre auch ein gutes Überleben gesichert. In die 90er fielen aber auch die ersten Bücher zum Beispiel einer Autorin wie Sibylle Berg, die heute von Kiepenheuer & Witsch verlegt wird und zu den bekannteren Gegenwartsautorinnen zählt.
Meyer: Sie haben es schon angesprochen, bis 2006 ging die Geschichte von Reclam Leipzig, dann wurde die Leipziger Filiale geschlossen, nach 177 Jahren Verlagsgeschichte immerhin an diesem Ort. Es gibt ja nun viele Geschichten von Westunternehmen, die sich verwandte Unternehmen im Osten gegriffen haben nach der Wende, um sie dann nach einer kürzeren oder längeren Schamfrist zu schließen und sich auch die Konkurrenz im Osten damit vom Halse zu schaffen. Ist die Reclam-Geschichte so eine Geschichte?
Moritz: Nein, dieses Modell trifft sicherlich für Reclam nicht zu. Es war klar, dass in den 90er Jahren, es gab auch Anfang 1990 ein Gegenmodell aus Leipzig selber, von Lektoren des Werks, die andere Ideen hatten, eine Stiftung beispielsweise zu gründen in Leipzig, aber Stuttgart hat versucht natürlich, das Programm neu auszurichten. Das war natürlich nicht allen genehm, weil man sozusagen seine Klassiker verloren hat. Es klang ja vorhin im Beitrag an, gerade diese Klassikerausgaben waren ja auch für DDR-Bücher sozusagen lebensbegleitend gewesen. Das heißt, Stuttgart hat wirklich bis 2006 versucht, dieses Programm am Leben zu erhalten. Ich glaube, was am Schluss ausschlaggebend war für das Nicht-Weiterexistieren, was mir selber ehrlich gesagt auch etwas ans Herz gegangen ist, weil das ist nun wirklich so ein Traditionshaus, das mit dem Namen Leipzig verbunden war, und die Buchstadt Leipzig hat es ohnehin nicht leicht gehabt in den letzten 10, 15 Jahren. Was letztlich ausschlaggebend war, glaube ich, für die Einstellung des Verlages, war generell die schwierige Situation des Buchmarktes in den letzten zehn Jahren. Reclam hat gerade in den letzten Jahren in Leipzig sehr viel auch auf Belletristik, auf Hardcover-Belletristik gesetzt, auf die Entdeckung junger Autoren, weil natürlich im Vergleich zu großen Verlagshäusern nicht das Geld war, hohe Vorschüsse zu zahlen. Das heißt, man hat auf ein Marktsegment gesetzt, setzen müssen, das es nachweislich sehr, sehr schwer hatte, weil der Buchmarkt gerade in den letzten Jahren nicht sehr offen war für unbekannte Autoren, das heißt, sich nicht unbedingt hat inspirieren lassen von neuen Namen. Und wenn Sie dann keinen Bestseller haben, keinen Ausreißer wie "Schlafes Bruder" etwa, dann ist sofort jede Kalkulation eines Verlages schwer.
Meyer: Rainer Moritz, jetzt waren wir lange bei Reclam Ost. Der Stuttgarter Reclam-Verlag ist berühmt für seine preiswerten Klassikerausgaben. Die gehen ja zurück auf eine Idee des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam selbst, auf seine Universalbibliothek. Was hat der westdeutsche Reclam-Verlag eigentlich neben diesen Klassikerreihen noch herausgegeben?
Moritz: Das wird immer ein bisschen verdrängt, aber wenn man sich das Programm anschaut, von Reclam Stuttgart, das bis heute geführt wird, dann sind es eben nicht nur die berühmten gelben Heftchen – die waren ja früher auch nicht gelb, die waren ja auch mal beige, hatten ganz andere Farben, sind erst dann später so knallgelb geworden. Daneben gab es aber … Viele Menschen werden zu Hause die berühmten Konzertführer von Reclam natürlich im Regal haben. Der Verlag hat sich sehr viel um Philosophie in den letzten Jahren gekümmert, hat Filmlexika herausgegeben, hat Goethes Zeichnungen in einer großformatigen, sehr edlen Edition gemacht, hat ein Reclam-Buch der Architektur im Hardcover herausgegeben. Also man hat wirklich sehr versucht, um dieses Standbein, und das ist bis heute das Standbein natürlich auch des Stuttgarter Hauses, sehr viel zu machen, immer im Bereich Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte. Also man hat Themenschwerpunkte gesetzt, hat dann aber auch mal solche originellen Bücher gemacht wie Eckhard Henscheids berühmte Sammlung "Dummdeutsch", in dem er lange vor Bastian Sick bestimmte Sprachschludereien aufs Korn genommen hat.
Meyer: Weht eigentlich in diesem Verlag noch etwas vom Geist des Gründervaters, von Anton Philipp Reclam, der heute vor 200 Jahren geboren wurde?
Moritz: Ich glaube ja. Reclam ist ein sehr traditionsbewusstes Haus, auch ohne viel Personalwechsel. Es wurde im Stuttgarter Haus immer mit einem lachenden Auge der berühmte Satz der Universalbibliothek von 1867 zitiert: "An der Fortsetzung der Reihe wird unausgesetzt gearbeitet." Das ist sozusagen, glaube ich, bis heute das Motto letztlich auch im Stuttgarter Haus, dieses "unausgesetzt an etwas arbeiten". Das heißt, man hat bis heute auch allen Versuchen anderer Verlage - es hat auch in den letzten Jahren immer wieder Versuche anderer Taschenbuchverlage gegeben -, Reclam sozusagen Druck zu machen, standgehalten. Die meisten dieser Versuche, gerade in diesem Klassikerbereich etwas anderes auf die Beine zu stellen, sind gescheitert. Goethes Faust, das war ja die Nummer 1 im Jahre 1867 für die berühmten zwei Silbergroschen damals. Auch heute ist die Reclam-Ausgabe von Faust I mit, ich glaube, 2,10 Euro kostet sie heute, immer noch die billigste auf dem deutschen Buchmarkt. Ich glaube, das ist auch ein rein äußerliches, aber auch innerliches Zeichen von Kontinuität.
Meyer: Aber es gibt eine andere Form von Billigkonkurrenz heute. Die Texte der Klassiker, die stehen ja oft schon zu großen Teilen im Internet. Das wird in Zukunft wahrscheinlich noch zunehmen. Bedroht das den Reclam-Verlag mit seinem alten Geschäftsprogramm?
Moritz: Also zumindest muss man auch das im Auge behalten. Natürlich können Sie heute jeden Text von Goethe herunterladen, sich ausdrucken, in digitalen Bibliotheken. Aber der Aufwand, dies zu tun, auch die Handelbarkeit dieses Konvoluts, 80, 90 Seiten gegenüber einem einfachen Reclam-Heftchen, das Sie in die Tasche stecken können. Ich glaube, das werden manche Schüler ausprobieren, auch tun, aber auf Dauer ist bei diesem Preisangebot, ist mir um die Zukunft des Reclam-Verlages und gerade der Universalbibliothek nicht bange.
Meyer: Vor 200 Jahren wurde der Gründer des Reclam-Verlags Anton Philipp Reclam geboren. Über die Geschichte des Verlags habe ich mit Rainer Moritz gesprochen. Herzlichen Dank.
Moritz: Bitteschön.
Rainer Moritz: Man muss vielleicht zwei, drei Jahre zurückgehen, Sie haben diese Zeit der Trennung angesprochen. 40 Jahre beide Verlage nebeneinander produzieren, durchaus auch in Konkurrenzverhältnis. Die jeweiligen Ausgaben durften nicht in der DDR bzw. in der Bundesrepublik verkauft werden. Und dann kam es eben nach der Wende zum Zusammenschluss der beiden Verlage. Das heißt, Reclam Stuttgart hat von der Treuhand den Leipziger Teil übernommen. Und von da an eigentlich, von 91/92, ging es darum, wie kann man sozusagen in Leipzig ein eigenständiges Programm schaffen. Es war klar, dass nicht beide Häuser, also in Stuttgart und in Leipzig, sich um Klassikerausgaben bemühen konnten, das wäre sinnlos gewesen in den 90ern. Das heißt, die gelben Klassiker der Bundesrepublik, wenn man so sagen will, blieben in Stuttgart, und Leipzig hat dann versucht bis ins letzte Jahr hinein, eben ein in Anführungszeichen "richtiges Taschenbuchprogramm" zu machen auf der einen Seite und daneben Hardcover anzubieten und vor allem in Bereichen, die eben von Stuttgart nicht abgedeckt wurden, also zum Beispiel ein starkes Sich-Kümmern um Belletristik, um internationale wie nationale Gegenwartsliteratur. Das war sicherlich der wesentlichste Unterschied neben einzelnen anderen Sachen, die man in Leipzig gemacht hat in den 90er Jahren.
Meyer: Wenn Sie sagen "richtiges Taschenbuchprogramm", in welcher Ausrichtung? Ging es vor allem um Neuentdeckungen von Autoren?
Moritz: Ich glaube, das ist so, wenn man ein neues Taschenbuchprogramm, das war die Reclam-Bibliothek Leipzig, die man Anfang der 90er Jahre geschaffen hat, wenn man ein solches Programm mit vielleicht 20, 30 Titeln im Halbjahr, die erschienen sind, wenn man auf den Taschenbuchmarkt geht, der war damals schon in den 90er Jahren ein heiß umkämpfter Markt, also für "Neuanfänger" in Anführungszeichen gewiss kein leichtes Entree, dann war letztlich die Notwendigkeit gegeben, auch das Programm zu erweitern. Das heißt, man hat natürlich in Leipzig weiterhin auch ostdeutsche Autoren gemacht, man hat sehr viel sich um russische, polnische Autoren gekümmert. Man hat Bände zur Philosophie gemacht, sehr schöne Sammelbände, die einfach auch sehr gut dokumentiert waren, auch in den 90ern. Aber es war klar, der Verlag muss sich öffnen auch hin zu populärerer Belletristik, muss auch im Bereich deutscher Literatur Autoren entdecken. "Schlafes Bruder", das berühmteste Beispiel, das war schon 1992, also vor meiner Zeit, das hat den Verlag gerade in der Belletristik bekannt gemacht und ihm lange Jahre auch ein gutes Überleben gesichert. In die 90er fielen aber auch die ersten Bücher zum Beispiel einer Autorin wie Sibylle Berg, die heute von Kiepenheuer & Witsch verlegt wird und zu den bekannteren Gegenwartsautorinnen zählt.
Meyer: Sie haben es schon angesprochen, bis 2006 ging die Geschichte von Reclam Leipzig, dann wurde die Leipziger Filiale geschlossen, nach 177 Jahren Verlagsgeschichte immerhin an diesem Ort. Es gibt ja nun viele Geschichten von Westunternehmen, die sich verwandte Unternehmen im Osten gegriffen haben nach der Wende, um sie dann nach einer kürzeren oder längeren Schamfrist zu schließen und sich auch die Konkurrenz im Osten damit vom Halse zu schaffen. Ist die Reclam-Geschichte so eine Geschichte?
Moritz: Nein, dieses Modell trifft sicherlich für Reclam nicht zu. Es war klar, dass in den 90er Jahren, es gab auch Anfang 1990 ein Gegenmodell aus Leipzig selber, von Lektoren des Werks, die andere Ideen hatten, eine Stiftung beispielsweise zu gründen in Leipzig, aber Stuttgart hat versucht natürlich, das Programm neu auszurichten. Das war natürlich nicht allen genehm, weil man sozusagen seine Klassiker verloren hat. Es klang ja vorhin im Beitrag an, gerade diese Klassikerausgaben waren ja auch für DDR-Bücher sozusagen lebensbegleitend gewesen. Das heißt, Stuttgart hat wirklich bis 2006 versucht, dieses Programm am Leben zu erhalten. Ich glaube, was am Schluss ausschlaggebend war für das Nicht-Weiterexistieren, was mir selber ehrlich gesagt auch etwas ans Herz gegangen ist, weil das ist nun wirklich so ein Traditionshaus, das mit dem Namen Leipzig verbunden war, und die Buchstadt Leipzig hat es ohnehin nicht leicht gehabt in den letzten 10, 15 Jahren. Was letztlich ausschlaggebend war, glaube ich, für die Einstellung des Verlages, war generell die schwierige Situation des Buchmarktes in den letzten zehn Jahren. Reclam hat gerade in den letzten Jahren in Leipzig sehr viel auch auf Belletristik, auf Hardcover-Belletristik gesetzt, auf die Entdeckung junger Autoren, weil natürlich im Vergleich zu großen Verlagshäusern nicht das Geld war, hohe Vorschüsse zu zahlen. Das heißt, man hat auf ein Marktsegment gesetzt, setzen müssen, das es nachweislich sehr, sehr schwer hatte, weil der Buchmarkt gerade in den letzten Jahren nicht sehr offen war für unbekannte Autoren, das heißt, sich nicht unbedingt hat inspirieren lassen von neuen Namen. Und wenn Sie dann keinen Bestseller haben, keinen Ausreißer wie "Schlafes Bruder" etwa, dann ist sofort jede Kalkulation eines Verlages schwer.
Meyer: Rainer Moritz, jetzt waren wir lange bei Reclam Ost. Der Stuttgarter Reclam-Verlag ist berühmt für seine preiswerten Klassikerausgaben. Die gehen ja zurück auf eine Idee des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam selbst, auf seine Universalbibliothek. Was hat der westdeutsche Reclam-Verlag eigentlich neben diesen Klassikerreihen noch herausgegeben?
Moritz: Das wird immer ein bisschen verdrängt, aber wenn man sich das Programm anschaut, von Reclam Stuttgart, das bis heute geführt wird, dann sind es eben nicht nur die berühmten gelben Heftchen – die waren ja früher auch nicht gelb, die waren ja auch mal beige, hatten ganz andere Farben, sind erst dann später so knallgelb geworden. Daneben gab es aber … Viele Menschen werden zu Hause die berühmten Konzertführer von Reclam natürlich im Regal haben. Der Verlag hat sich sehr viel um Philosophie in den letzten Jahren gekümmert, hat Filmlexika herausgegeben, hat Goethes Zeichnungen in einer großformatigen, sehr edlen Edition gemacht, hat ein Reclam-Buch der Architektur im Hardcover herausgegeben. Also man hat wirklich sehr versucht, um dieses Standbein, und das ist bis heute das Standbein natürlich auch des Stuttgarter Hauses, sehr viel zu machen, immer im Bereich Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte. Also man hat Themenschwerpunkte gesetzt, hat dann aber auch mal solche originellen Bücher gemacht wie Eckhard Henscheids berühmte Sammlung "Dummdeutsch", in dem er lange vor Bastian Sick bestimmte Sprachschludereien aufs Korn genommen hat.
Meyer: Weht eigentlich in diesem Verlag noch etwas vom Geist des Gründervaters, von Anton Philipp Reclam, der heute vor 200 Jahren geboren wurde?
Moritz: Ich glaube ja. Reclam ist ein sehr traditionsbewusstes Haus, auch ohne viel Personalwechsel. Es wurde im Stuttgarter Haus immer mit einem lachenden Auge der berühmte Satz der Universalbibliothek von 1867 zitiert: "An der Fortsetzung der Reihe wird unausgesetzt gearbeitet." Das ist sozusagen, glaube ich, bis heute das Motto letztlich auch im Stuttgarter Haus, dieses "unausgesetzt an etwas arbeiten". Das heißt, man hat bis heute auch allen Versuchen anderer Verlage - es hat auch in den letzten Jahren immer wieder Versuche anderer Taschenbuchverlage gegeben -, Reclam sozusagen Druck zu machen, standgehalten. Die meisten dieser Versuche, gerade in diesem Klassikerbereich etwas anderes auf die Beine zu stellen, sind gescheitert. Goethes Faust, das war ja die Nummer 1 im Jahre 1867 für die berühmten zwei Silbergroschen damals. Auch heute ist die Reclam-Ausgabe von Faust I mit, ich glaube, 2,10 Euro kostet sie heute, immer noch die billigste auf dem deutschen Buchmarkt. Ich glaube, das ist auch ein rein äußerliches, aber auch innerliches Zeichen von Kontinuität.
Meyer: Aber es gibt eine andere Form von Billigkonkurrenz heute. Die Texte der Klassiker, die stehen ja oft schon zu großen Teilen im Internet. Das wird in Zukunft wahrscheinlich noch zunehmen. Bedroht das den Reclam-Verlag mit seinem alten Geschäftsprogramm?
Moritz: Also zumindest muss man auch das im Auge behalten. Natürlich können Sie heute jeden Text von Goethe herunterladen, sich ausdrucken, in digitalen Bibliotheken. Aber der Aufwand, dies zu tun, auch die Handelbarkeit dieses Konvoluts, 80, 90 Seiten gegenüber einem einfachen Reclam-Heftchen, das Sie in die Tasche stecken können. Ich glaube, das werden manche Schüler ausprobieren, auch tun, aber auf Dauer ist bei diesem Preisangebot, ist mir um die Zukunft des Reclam-Verlages und gerade der Universalbibliothek nicht bange.
Meyer: Vor 200 Jahren wurde der Gründer des Reclam-Verlags Anton Philipp Reclam geboren. Über die Geschichte des Verlags habe ich mit Rainer Moritz gesprochen. Herzlichen Dank.
Moritz: Bitteschön.