Nicht nur Straftaten, auch Worte wirken wie Gift

Von Ramon Schack · 29.05.2013
Vorurteile gegenüber Zuwanderern müssten raus aus den Köpfen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor Eröffnung des Integrationsgipfels. Auch unser Autor Ramon Schack meint: Entscheidend für eine gute Nachbarschaft ist, dass wir respektvoll übereinander und miteinander reden.
20 Jahre sind vergangen seit dem fremdenfeindlichen Anschlag von Solingen. Er ist im Gedächtnis geblieben, obschon es nicht der erste und schon gar nicht der letzte war.

In der Zwischenzeit beispielsweise beging die Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" quer durchs Land zehn Morde, die frühzeitig hätten verhindert und aufgeklärt werden können, wenn sich Polizei und Verfassungsschutz nicht eifersüchtig in Ermittlungspannen verstrickt hätten. Zeitweise hielten die Beamten die Opfer für Mitwirkende im kriminellen Milieu. All das hat nicht nur die betroffenen Familien schockiert.

Mitgefühl, ja Solidarität mit ihnen schweißen zusammen. Kriminelle Energie, Hass und Vorurteile dagegen entzweien. Bezogen auf die Kriminalität scheint sich - ganz allgemein gesprochen - nichts gebessert zu haben. Wie aber verhält es mit dem alltäglichen Miteinander unter Nachbarn? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten.

Heute, im Jahr 2013, ist die Bundesrepublik ethnisch noch vielfältiger als 1993. Sie mögen das vielleicht nicht so sehen, aber ich weiß, wovon ich rede: Ich lebe in Neukölln, mitten im Herzen eines turbulenten, anstrengenden, nicht nur schönen Berlins.

Junge Generationen sind multiethnisch geprägt
Hier wie in anderen Metropolen wächst eine neue, junge Generation heran. Sie ist multiethnisch geprägt und empfindet kosmopolitisch. Ausländer oder Deutsche, die aus auswärtigen oder ethnisch-gemischten Familien stammen, finden sich in allen Berufsgruppen, sind überall in der Gesellschaft präsent und erfolgreich. Sie schreiben und diskutieren mit, geben sich selbst eine hörbare Stimme.

Mittlerweile geben selbst Christdemokraten zu, in einem Einwanderungsland zu leben. Dennoch bleibt das Thema kontrovers. Es wird häufig emotional und polemisch, selten sachlich angepackt. Vorbehalte, Ressentiments, Rassismus und gewalttätige Übergriffe sind alltäglich. War vor 20 Jahren das politische Asyl, um die Jahrtausendwende die doppelte Staatsangehörigkeit, so ist heute der Islam ein Dauerbrenner.

In meinem Wohnquartier kann ich all das eindrucksvoll studieren. Neukölln, das ist der aufregendste Ort der Republik, ein explosiver und stimulierender demografischer Mix aus Schwaben und Salafisten, Kleinbürgern und Kosmopoliten, Hipstern und Harz-IV-Empfängern. Und immer neue Bewohner treffen ein: aus dem Osten der EU Bulgaren und Rumänen, aus dem Süden junge Griechen, Italiener, Spanier und Portugiesen.

Obschon es weder harmonisch noch gewalttätig zugeht, noch frei von Reibungen oder Spannungen, entsteht doch ein neues Lebensgefühl, welches nur unzureichend und abgegriffen als "Mulitikulti" bezeichnet werden kann, gemeint als einem fertig entwickelten, neuen Zustand. Denn es wäre eine Illusion, wenn man davon ausgehen würde, eine offene Gesellschaft käme jemals zur Ruhe.

Keine gute Nachbarschaft ohne Respekt
Wünschenswert wäre, sie führte zu einem friedfertigen Nebeneinander. Ob sie uns die gewünschte Integration bringt, wage ich zu bezweifeln. Überspitzt gesagt, im Negativen sozialer Katastrophen war diese stets einflussreicher als im Positiven eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Unter sich zu bleiben, sich zu verweigern, bietet auf unsicherem Terrain ja oft auch Halt.

Ich weiß nicht, wohin sich Neukölln entwickelt. Nur eines weiß ich: Entscheidend für eine gute Nachbarschaft dürfte sein, dass wir respektvoll übereinander und miteinander reden. Nicht nur Straftaten, sondern bereits Worte vermögen zu schaden.

Wie winzige Arsendosen könnten sie sein, sagte Viktor Klemperer einmal. Sie werden geschluckt, bleiben zunächst unbemerkt, um nach einiger Zeit mit ihrem Gift zu zersetzen. Das fällt mir ein, wenn ich mich heute nach 20 Jahren an die Anschläge von Solingen erinnere.

Ramon Schack, Jahrgang 1971, ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für die "Neue Zürcher Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", "Die Welt", die "Berliner Zeitung", die "Wiener Zeitung", das "Handelsblatt". Sein Buch "Neukölln ist Nirgendwo. Nachrichten aus Buschkowskys Bezirk", erscheint Ende Juni im Verlag 3.0 Zsolt Majsai.

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