"Nicht über den Holocaust definieren"

Charlotte Knobloch im Gespräch mit Ulrike Timm |
Charlotte Knobloch, erwartet keinen großen Einschnitt dadurch, dass ihr Amtsnachfolger erstmals kein Holocaust-Überlebender sein wird. Auch die "zweite Generation", die Kinder der Holocaust-Überlebenden, sei durch die Erfahrungsberichte der Eltern sehr stark mit der Geschichte verbunden, sagte die scheidende Präsidentin des Zentralrats der Juden.
Ulrike Timm: Am Sonntag wählt der Zentralrat der Juden in Deutschland einen neuen Präsidenten. Vier Jahre lang hat Charlotte Knobloch dieses Amt innegehabt, dass sie nicht noch mal kandidiert, das steht schon seit Monaten fest.

Seit 25 Jahren bereits ist Charlotte Knobloch Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in München, der Stadt, wo sie auch geboren wurde 1932. Über ihre Bilanz als Zentralratsvorsitzende und den Grad der Verankerung von deutschen Juden in unserer Gesellschaft möchte ich mit ihr sprechen. Schönen guten Morgen, Frau Knobloch!

Charlotte Knobloch: Einen schönen guten Morgen!

Timm: Lassen Sie uns mal ganz weit zurückgehen: 1937, da wurde von einem Tag auf den anderen die Tür zu einem Tor zu einem Hof verschlossen, in dem Sie mit anderen Kindern immer Verstecken gespielt haben. Sie haben am Tor gerüttelt, und die Hausmeisterin hat Ihnen sehr scharf zu verstehen gegeben, dass für Sie hinter diesem Tor im Hof beim Spielen kein Platz mehr sei. Haben Sie dieses Bild bei sich gehabt, wenn Sie später an verschlossenen Türen gerüttelt haben und sich nicht haben aussperren lassen wollen?

Knobloch: Sie fragen ganz richtig, ob das Bild bei mir vorhanden war, und ich sage Ihnen, es ist immer noch vorhanden, da das prägend war für mich, da ich da damals zum ersten Mal gefragt habe, was ist denn eigentlich Jude, weil ich wurde ja ausgesperrt, weil ich ein jüdisches Kind war, das sagte mir damals die Hausmeisterin. Und auf die heutige Zeit übertragen möchte ich sagen, dass alle Türen offen sind, und das ist etwas, was mich besonders freut, und was ein langer Prozess war, der auf beiden Seiten aber dann zu dem geführt hat, was ich gerade ausgesprochen habe: Die Türen sind offen.

Timm: Stimmt es, dass Sie die erste Zentralratsvorsitzende sind, die in ihrer Amtszeit in jedem Bundesland eine Synagoge eingeweiht hat?

Knobloch: Also das war ja immer meine größte Freude, wenn Sie mich fragen, Bilanz – das ist nach der Eröffnung der Hauptsynagoge in München, wo der Oberbürgermeister gesagt hat, das wird eine Initialzündung für alle anderen Bundesländer und Kommunen sein. Das hat gestimmt. Ich habe in meiner Amtszeit sehr viele Synagogen in Deutschland eröffnet, ich habe sehr viele Gemeindezentren eröffnet, und das war für mich eine besondere Freude, weil da habe ich gesehen, dass das Judentum hier – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei den Menschen – einen Platz hat.

Timm: Ihr voraussichtlicher Nachfolger Dieter Graumann ist 1950 in Israel geboren. Er hat die persönliche Erfahrung von Verfolgung vom Holocaust nicht mehr. Was bedeutet dieser Einschnitt?

Knobloch: Ich würde ihn nicht als Einschnitt bezeichnen, sondern ich muss schon feststellen, dass auch die zweite Generation, die nach uns folgte, wie zum Beispiel auch meine Kinder, natürlich durch unsere Erlebnisberichte sehr stark mit dem Holocaust, mit der Geschichte des Holocaust verbunden sind, und ich glaube, dass das auch bei allen anderen jungen Menschen oder jüngeren Menschen zweiter Generation der Fall ist, deren Eltern im Holocaust verfolgt wurden.

Timm: Die Verbindung der zweiten Generation, die wird ja auch niemand bestreiten. Aber der Zentralrat der Juden in Deutschland, der schöpft natürlich seine Legitimation und sein Selbstverständnis aus der Geschichte, aus dem Holocaust. Das ist ja nicht nur emotional, sondern auch inhaltlich etwas anderes, ob da jemand spricht und auch, ob jemandem zugehört wird, der das erlebt hat, der sagt, ich habe überlebt, aber die meisten in meiner Familie nicht. Da kommt doch eine ganz besondere Autorität aus der persönlichen Geschichte. Dass dieser Generationenwechsel an der Spitze des Zentralrates eine große Veränderung ist, darum kommen wir doch nicht herum.

Knobloch: Ich möchte es sagen, dass auch meine These war und ist, dass das Judentum, dass die jüdische Gemeinschaft sich nicht über den Holocaust definieren darf. Das ist eine Geschichte, die der Einzelne erlebt hat, gleich mehr, die aber für ... bindend ist in der Erinnerung für die Gegenwart wie auch für die Zukunft, die wir hoffentlich in diesem Sinne wie bisher auch weiter so mitgestalten können. Und deswegen sage ich, dass der Holocaust ... das Gedenken sicherlich in den Herzen der Menschen vorhanden ist, aber die Gegenwart und die Zukunft fordert uns, für diese Zeiten auch tätig zu sein.

Timm: Das ist ja ein großer Satz, dass sich der Zentralrat der Juden in Deutschland nicht mehr allein über den Holocaust definieren soll. Wie soll er sich dann für die Zukunft definieren, welche Aufgaben wird er dann vorrangig haben?

Knobloch: Wir haben leider die Aufgabe, uns gegen den Antisemitismus gewehrt zu haben, und werden uns auch weiterhin wehren gegen die Neonazis, gegen den Rechtsradikalismus. Das sind Aufgaben, die nicht nur mich sehr belasten, sondern auch viele Menschen in unserer Gemeinschaft, natürlich.

Und ferner ist die Integration der Neuzuwanderer in unseren Gemeinden eine noch nicht abgeschlossene Aufgabe, eine der wichtigsten Aufgaben. Das sind Themen, die für uns natürlich für die Zukunft sehr wichtig sind.

Das ist die Bildung, das ist auch die jüdische Bildung, das ist die religiöse Bildung, die natürlich nur mit Unterstützung des Zentralrates für die kleineren Gemeinden, für die neu entstandenen Gemeinden sehr, sehr wichtig ist. Also das sind alles Themen, die in Bezug auch auf die Geschichte unserer Gemeinschaft, unseres Volkes im Vordergrund stehen muss, aber trotzdem sind die täglichen Aufgaben natürlich, wie ich jetzt eben geschildert habe, sehr, sehr vordringlich.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Charlotte Knobloch, der scheidenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Frau Knobloch – Zentralratsvorsitzende ist ein anstrengendes Ehrenamt. Sobald es irgendwie um Juden, um Antisemitismus, aber auch um Israel ganz generell geht, klingelt das Telefon. Zudem wird man, wenn ich es richtig weiß, rund um die Uhr polizeilich bewacht. Sonntag wird Ihr Nachfolger gewählt – freuen Sie sich auf Montag?

Knobloch: Aber selbstverständlich, also ich meine, es war ja meine persönliche Entscheidung, ich habe zu Beginn meiner Amtszeit den Satz geprägt: Dieses Amt ist ein Schleuderstuhl ins Jenseits. Gott sei Dank hoffe ich, dass sich das auch bewahrheitet in der Form, dass ich fröhlichen Mutes am Montag meine Tätigkeiten weiter fortführen kann.

Timm: Welchen Aspekt des Amtes werden Sie denn nicht vermissen?

Knobloch: Diese von Ihnen angesprochenen Anrufe in erster Linie, wenn in irgendeiner Form ein Thema aufgegriffen wurde, das mit einem Halbsatz, mit einem Satz uns berührt, ich glaube, da sollte man die Betroffenen beziehungsweise diejenigen, die dieses Thema auf den Tisch gebracht haben, das meine ich mit Betroffenen, die sollte man zuerst fragen, anrufen, und nicht diejenigen, die eigentlich damit gemeint sind, und da bin ich ganz froh, weil mich das jedes Mal sehr geärgert hat.

Timm: Einer Ihrer Vorgänger, Ignatz Bubis, hat sich sehr darum bemüht, die Brücke mit dem nichtjüdischen Umfeld zu bauen und auch zu verankern. Er hat am Ende seines Lebens resigniert und gesagt, ich habe nichts erreicht. Sind Sie sicher, dass die Brücke inzwischen trägt?

Knobloch: Die Brücke hat er gebaut, er hat auch die Hand ausgestreckt und die entgegengestreckten Hände entgegengenommen. Ich habe ihm damals ganz heftig widersprochen, die Brücke ist gefestigt, und wir gehen gemeinschaftlich jeden Tag darüber, und das freut mich ganz besonders, weil da habe ich auch dazu beigetragen im Sinne von Ignatz Bubis.

Timm: Sie haben uns aber auch viele Aufgaben geschildert, die der Zentralrat für Sie in Zukunft hat, von Bekämpfung des Antisemitismus, des Rechtsradikalismus, der Chancen für jüdische Einwanderer aus Russland - wenn man diese ganzen Aufgaben zusammennimmt, dann sind die Tore für Juden in Deutschland ja doch nicht so offen, wie es zu Anfang unseres Gesprächs gesagt wurde.

Knobloch: Nein, also ich meine, die Tore für das jüdische Leben sind geöffnet, man muss nur sehr viel daran arbeiten, dass dieses jüdische Leben auch weiterhin eine Zukunft hat.

Timm: Charlotte Knobloch, die scheidende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sie bleibt natürlich Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in München, und ich wünsche ihr auch für diese Arbeit ganz herzlich alles Gute. Vielen Dank fürs Gespräch!

Knobloch: Gerne!