Nichts als vergangene Zukunft
Die gesellschaftlichen Widersprüche der portugiesischen Zeitenwende nach der Diktatur von Salazar lassen António Lobo Antunes nicht los: In seinem neuen Roman "Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen" sind zwei Polizisten des berüchtigten Geheimdienst PIDE die Hauptakteure. Es geht um Folter, Demütigung, Gefühlskälte und Traumatisierung.
Der Portugiese António Lobo Antunes, Arzt und Schriftsteller, ist einer der fleißigsten und konsequentesten Autoren der Gegenwart. 18 Romane hat er binnen knapp drei Jahrzehnten veröffentlicht - Romane von zunehmender Komplexität und Raffinesse.
Er hat eine ganz eigentümliche und unverwechselbare Erzähltechnik erfunden, entwickelt und immer mehr verfeinert: In diesen Romanen ist das Ich des Autors immer mehr verschwunden, hinter einer Fülle von symphonisch entfalteten Erzählerstimmen, unter völligem Verzicht auf den Erzählstrang, also einen chronologisch erzählbaren Plot präzise referierter Ereignisse. Eine herkömmliche Romanhandlung findet nicht mehr statt. Stattdessen erhebt sich ein geradezu musikalisch komponiertes, polyfones Stimmengewirr.
Seine Themen gewinnt Lobo Antunes aus den gesellschaftlichen Widersprüchen der portugiesischen Zeitenwende von 1974, der sogenannten "Nelkenrevolution", die dem mehr als 40-jährigen faschistischen Regime des Diktators Salazar ein Ende machte und auch die letzten Reste von Portugals Weltreich hinwegfegte - die afrikanischen Kolonien Angola und Moçambique kamen frei.
Seine Romane beschreiben Zerfall und Nachleben des einst staatstragenden (Groß-)Bürgertums sowie das Weiterwirken kolonialer Strukturen auch nach dem Ende des Kolonialreiches. In diesen Romanen geht es um Portugals Gründungslegenden und Stammessagen, seine Machtfantasien und ausgerenkten kolonialen Mythen, seine wurmstichige Größe - und vor allem um die Weiterexistenz und zähe Vernetzung der alten Substanzen in Staat, Kirche, Geheimpolizei und Großkapital. Immer noch gespenstern die letzten Repräsentanten der alten Machthaber durch die portugiesische Gesellschaft und bannen das Land in sein Unglück: in Traurigkeit, heimliche Gewalt, Resignation und Stillstand.
In seinem neuesten Roman, dem 18., dreht Lobo Antunes die Schraube der Artistik noch einmal weiter und treibt die literarische Herausforderung in ein neues Extrem. In fünf schlaflosen Nachtstunden zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh grübeln, erinnern, monologisieren, klagen, hadern und zanken mit sich und der Welt ein knappes Dutzend Erzählerstimmen. All diese Ich sagenden Stimmen auseinander zu halten, wird dem Leser nicht ganz leicht gemacht, denn Lobo Antunes billigt ihnen, mit zwei Ausnahmen, keine Namen zu.
Die Zuordnung gelingt nur über bestimmte Kernsätze und Kernphrasen, die der Autor refrainartig einsetzt, um den Dunstkreis einer bestimmten Erzählerperson zu kennzeichnen. Die einzelnen Stimmen werden also durch Leitmotive, etwa ihre jeweils eigentümlichen Standard-Sätze, erkennbar und lassen sich nur durch zugeordnete Requisiten, etwa Lampionbäume oder bellende Hunde im Hinterhof, identifizieren.
Die Beziehungen dieser Erzählerstimmen untereinander erschließen sich dem Leser erst allmählich. Erkennbar werden zwei unglücklich verheiratete Ehepaare, eines in Lissabon (Lampionbäume im Garten), eines in Évora (Hundegebell): Die Männer sind oder waren Polizisten beim berüchtigten Geheimdienst PIDE. Die Ehefrau in Évora leidet an ihrer Kinderlosigkeit (leere, verrostende Babywiege im Hinterhof), die Ehefrau in Lissabon hingegen ist eine kalte und lieblose Gattin und Mutter. Ihre Tochter (namenlos) hängt sich mit fünfzehn am Apfelbaum zwischen den Lampionbäumen auf, ohne dass wir einen Grund für diesen Selbstmord erfahren.
Diese tote Tochter verbindet die beiden Paare miteinander, denn ihr Vater könnte in Wahrheit der Polizist aus Évora sein - oder auch nicht. Der Polizist aus Évora, ein Sadist und brutaler Folterer, der lange in der berüchtigten Festung Peniche für politische Gefangene Dienst tat, hat seinen Kollegen in Lissabon auf dem Gewissen: In irgendeiner polizei-internen Abrechnung hat er ihn tot gefoltert, nicht ohne ihn vorher zu seiner Demütigung zu zwingen, Frauenkleider anzuziehen und Ohrringe anzulegen.
In dieses stillstehende, quasi zeitlose Arrangement der schlaflos in ihren Betten räsonierenden, nachtwachenden Menschen führt Lobo Antunes als Bewegungselement zwei oder drei "fremde Herren" ein - übrig gebliebene Geheimpolizisten des nicht mehr existierenden Regimes Salazar, die einen letzten Auftrag zu erfüllen haben, namens einer gleichfalls nicht mehr existierenden Dienststelle ihres aufgelösten Ministeriums.
Diese sich anhand von alten Fotos durchfragenden (Ex-)Beamten - "Kennen sie den Mann auf diesem Bild?" - sind so etwas wie Rachegeister, die sich auf die Fährte des (Ex-)Kollegen, des Folterers, gesetzt haben. Im Morgengrauen werden sie ihn endlich gestellt haben.
Bei Lobo Antunes ist immer alles Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, die Gegenwart ist nichts als vergangene Zukunft. Vergangenheit und Zukunft gehen auf in einer andauernden, allumfassenden Gegenwärtigkeit. Alles geschieht gleichzeitig. Das zeitliche Nacheinander ist aufgehoben in der Synchronität aller Ereignisse.
Auch in diesem Roman passiert alles gleichzeitig. Die Tochter geht zur Schule, hängt sich auf und ist zugleich schon lange tot. Die beiden Ehefrauen altern, sind in ihren Fünfzigern, und zugleich sind sie selbst unglückliche Töchter, die unter der Abwesenheit ihrer Väter leiden und mit ihren alleinerziehenden Müttern nicht zurechtkommen. Der folternde Polizist rächt sich mit seinen sadistischen Kostümierungsritualen an seiner verhassten Mutter - in jedem zwangskostümierten Folteropfer schändet er seine Mutter -, redet sich aber ein, vollkommen gefühllos zu sein, ein erloschener Planet.
Lobo Antunes’ Erzählverfahren beruht auf einem ausgeklügelten System von Kernsätzen, die in durchkomponierten Wiederholungen und leichten Variationen so angeordnet werden, dass eine dicht gewirkte Partitur von Stimmen entsteht. Gegen Ende schreibt er sich selbst als Autor mit eigenem Namen in seine Partitur mit hinein - denn so lange er schreibt, ist er am Leben.
Und nur so lange er seine Romanfiguren sprechen lässt, sind sie am Leben. So ist letztlich das Leben der einzige Held des Romans, also nichts und niemand - ein Held, den es nicht gibt und der, obwohl er ständig erscheint, im Roman doch fehlt. Bewundernswürdig ist, wie üppig, wie verschwenderisch fantasievoll Lobo Antunes dieses Nichts ausstattet.
Rezensiert von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2008
541 Seiten, 24,95 Euro
Er hat eine ganz eigentümliche und unverwechselbare Erzähltechnik erfunden, entwickelt und immer mehr verfeinert: In diesen Romanen ist das Ich des Autors immer mehr verschwunden, hinter einer Fülle von symphonisch entfalteten Erzählerstimmen, unter völligem Verzicht auf den Erzählstrang, also einen chronologisch erzählbaren Plot präzise referierter Ereignisse. Eine herkömmliche Romanhandlung findet nicht mehr statt. Stattdessen erhebt sich ein geradezu musikalisch komponiertes, polyfones Stimmengewirr.
Seine Themen gewinnt Lobo Antunes aus den gesellschaftlichen Widersprüchen der portugiesischen Zeitenwende von 1974, der sogenannten "Nelkenrevolution", die dem mehr als 40-jährigen faschistischen Regime des Diktators Salazar ein Ende machte und auch die letzten Reste von Portugals Weltreich hinwegfegte - die afrikanischen Kolonien Angola und Moçambique kamen frei.
Seine Romane beschreiben Zerfall und Nachleben des einst staatstragenden (Groß-)Bürgertums sowie das Weiterwirken kolonialer Strukturen auch nach dem Ende des Kolonialreiches. In diesen Romanen geht es um Portugals Gründungslegenden und Stammessagen, seine Machtfantasien und ausgerenkten kolonialen Mythen, seine wurmstichige Größe - und vor allem um die Weiterexistenz und zähe Vernetzung der alten Substanzen in Staat, Kirche, Geheimpolizei und Großkapital. Immer noch gespenstern die letzten Repräsentanten der alten Machthaber durch die portugiesische Gesellschaft und bannen das Land in sein Unglück: in Traurigkeit, heimliche Gewalt, Resignation und Stillstand.
In seinem neuesten Roman, dem 18., dreht Lobo Antunes die Schraube der Artistik noch einmal weiter und treibt die literarische Herausforderung in ein neues Extrem. In fünf schlaflosen Nachtstunden zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh grübeln, erinnern, monologisieren, klagen, hadern und zanken mit sich und der Welt ein knappes Dutzend Erzählerstimmen. All diese Ich sagenden Stimmen auseinander zu halten, wird dem Leser nicht ganz leicht gemacht, denn Lobo Antunes billigt ihnen, mit zwei Ausnahmen, keine Namen zu.
Die Zuordnung gelingt nur über bestimmte Kernsätze und Kernphrasen, die der Autor refrainartig einsetzt, um den Dunstkreis einer bestimmten Erzählerperson zu kennzeichnen. Die einzelnen Stimmen werden also durch Leitmotive, etwa ihre jeweils eigentümlichen Standard-Sätze, erkennbar und lassen sich nur durch zugeordnete Requisiten, etwa Lampionbäume oder bellende Hunde im Hinterhof, identifizieren.
Die Beziehungen dieser Erzählerstimmen untereinander erschließen sich dem Leser erst allmählich. Erkennbar werden zwei unglücklich verheiratete Ehepaare, eines in Lissabon (Lampionbäume im Garten), eines in Évora (Hundegebell): Die Männer sind oder waren Polizisten beim berüchtigten Geheimdienst PIDE. Die Ehefrau in Évora leidet an ihrer Kinderlosigkeit (leere, verrostende Babywiege im Hinterhof), die Ehefrau in Lissabon hingegen ist eine kalte und lieblose Gattin und Mutter. Ihre Tochter (namenlos) hängt sich mit fünfzehn am Apfelbaum zwischen den Lampionbäumen auf, ohne dass wir einen Grund für diesen Selbstmord erfahren.
Diese tote Tochter verbindet die beiden Paare miteinander, denn ihr Vater könnte in Wahrheit der Polizist aus Évora sein - oder auch nicht. Der Polizist aus Évora, ein Sadist und brutaler Folterer, der lange in der berüchtigten Festung Peniche für politische Gefangene Dienst tat, hat seinen Kollegen in Lissabon auf dem Gewissen: In irgendeiner polizei-internen Abrechnung hat er ihn tot gefoltert, nicht ohne ihn vorher zu seiner Demütigung zu zwingen, Frauenkleider anzuziehen und Ohrringe anzulegen.
In dieses stillstehende, quasi zeitlose Arrangement der schlaflos in ihren Betten räsonierenden, nachtwachenden Menschen führt Lobo Antunes als Bewegungselement zwei oder drei "fremde Herren" ein - übrig gebliebene Geheimpolizisten des nicht mehr existierenden Regimes Salazar, die einen letzten Auftrag zu erfüllen haben, namens einer gleichfalls nicht mehr existierenden Dienststelle ihres aufgelösten Ministeriums.
Diese sich anhand von alten Fotos durchfragenden (Ex-)Beamten - "Kennen sie den Mann auf diesem Bild?" - sind so etwas wie Rachegeister, die sich auf die Fährte des (Ex-)Kollegen, des Folterers, gesetzt haben. Im Morgengrauen werden sie ihn endlich gestellt haben.
Bei Lobo Antunes ist immer alles Gegenwart. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, die Gegenwart ist nichts als vergangene Zukunft. Vergangenheit und Zukunft gehen auf in einer andauernden, allumfassenden Gegenwärtigkeit. Alles geschieht gleichzeitig. Das zeitliche Nacheinander ist aufgehoben in der Synchronität aller Ereignisse.
Auch in diesem Roman passiert alles gleichzeitig. Die Tochter geht zur Schule, hängt sich auf und ist zugleich schon lange tot. Die beiden Ehefrauen altern, sind in ihren Fünfzigern, und zugleich sind sie selbst unglückliche Töchter, die unter der Abwesenheit ihrer Väter leiden und mit ihren alleinerziehenden Müttern nicht zurechtkommen. Der folternde Polizist rächt sich mit seinen sadistischen Kostümierungsritualen an seiner verhassten Mutter - in jedem zwangskostümierten Folteropfer schändet er seine Mutter -, redet sich aber ein, vollkommen gefühllos zu sein, ein erloschener Planet.
Lobo Antunes’ Erzählverfahren beruht auf einem ausgeklügelten System von Kernsätzen, die in durchkomponierten Wiederholungen und leichten Variationen so angeordnet werden, dass eine dicht gewirkte Partitur von Stimmen entsteht. Gegen Ende schreibt er sich selbst als Autor mit eigenem Namen in seine Partitur mit hinein - denn so lange er schreibt, ist er am Leben.
Und nur so lange er seine Romanfiguren sprechen lässt, sind sie am Leben. So ist letztlich das Leben der einzige Held des Romans, also nichts und niemand - ein Held, den es nicht gibt und der, obwohl er ständig erscheint, im Roman doch fehlt. Bewundernswürdig ist, wie üppig, wie verschwenderisch fantasievoll Lobo Antunes dieses Nichts ausstattet.
Rezensiert von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: Gestern in Babylon hab ich dich nicht gesehen
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2008
541 Seiten, 24,95 Euro