"Nichts ist mit dieser einen Nacht zu vergleichen"

Von Volker Ullrich |
In der Reichspogromnacht zerstören SA- und SS-Angehörige jüdische Geschäfte und Wohnungen. In der Bevölkerung stießen die Ausschreitungen mehrheitlich auf Ablehnung – die allerdings nur selten offen geäußert wurde.
Am 7. November 1938 schoss der siebzehnjährige Herschel Grynszpan, ein in Deutschland aufgewachsener Jude polnischer Staatsangehörigkeit, auf den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, und verletzte ihn schwer. Die Tat war ein Racheakt: Ende Oktober hatten Polizei und SS rund 17000 der im Dritten Reich lebenden polnischen Juden, darunter Grynszpans Eltern und Geschwister, zusammengetrieben und über die Grenze in den östlichen Nachbarstaat abgeschoben.

"Mir blutet das Herz, wenn ich an unsere Tragödie ... denke",

vertraute Grynszpan in einem Brief seinem Onkel an.

"Ich muss auf eine Weise protestieren, dass die ganze Welt meinen Protest hört."

Das Attentat lieferte der nationalsozialistischen Führung den gewünschten Vorwand, um nun zum koordinierten Schlag gegen die seit 1933 verfolgten Juden auszuholen. Ernst vom Rath starb am Nachmittag des 9. November. Das Telegramm mit der Meldung wurde Hitler am Abend überreicht, als er auf der alljährlichen Feier zum Gedenken an den Putsch von 1923 im Alten Rathaus in München mit den sogenannten "Alten Kämpfern" zusammensaß. Das war der Moment, in dem der Diktator grünes Licht für den geplanten Pogrom gab. Propagandaminister Joseph Goebbels notierte:

"Er bestimmt: ... Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen ... Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei."

Damit war die täuschende Sprachregelung vorgegeben: Der Pogrom sollte als spontaner Ausbruch des "Volkszorns" erscheinen, die eigentlichen Drahtzieher aber, allen voran Hitler selbst, im Verborgenen bleiben. In der Nacht vom 9. auf den 10. November marschierten überall im Reich SA-Männer und Parteiaktivisten, meist in Zivilkleidung, zu den nächstgelegenen Synagogen, verwüsteten das Inventar und legten Feuer. Die lokalen Polizeibeamten unternahmen, wie befohlen, nichts und die Feuerwehren beschränkten sich darauf, ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Gebäude zu vereiteln. In einer Reportage aus Wien vom Tag danach hieß es:

"Der Judentempel war in wenigen Minuten ein Raub der Flammen, und wenn wir uns jetzt hier in diesem orientalischen Kuppelbau umsehen, dann ist von dem eigentlichen Tempel, von diesem prunkvollen und mit viel Geld erbauten Gebäude nur mehr das Gerippe, das alte Gerüst übrig geblieben."

Verharmlosende Bezeichnung "Reichskristallnacht"
In derselben Nacht wandten sich andere Trupps gegen jüdische Geschäfte und zertrümmerten die Schaufenster, sodass die Gehsteige am nächsten Morgen mit Scherben übersät waren. Daher rührte die vom Berliner Volksmund geprägte, die Ereignisse verharmlosende Bezeichnung "Reichskristallnacht". Wiederum andere drangen in Wohnungen jüdischer Familien ein, schlugen das Mobiliar kurz und klein und misshandelten die Bewohner.

Einen solchen Ausbruch ungezügelter antisemitischer Gewalt hatte es seit dem Mittelalter in Deutschland nicht mehr gegeben. Nach amtlichen Angaben wurden 91 Juden während der Ausschreitungen getötet. Tatsächlich lag die Zahl höher, rechnet man die in der Nacht verübten Selbstmorde und die Zahl derer hinzu, die während der anschließenden Haft in Konzentrationslagern umkamen. Für die noch in Deutschland lebenden Juden war der 9./10. November ein Schock.

"Nichts von dem, was an Leiden, an Entbehrung, an Demütigungen und an Schrecklichem dieser Zeit vorherging, ist mit dieser einen Nacht zu vergleichen",

schrieb Hugo Moses, ein früherer Mitarbeiter des Bankhauses Oppenheim, im Rückblick. Als sogenannte "Sühneleistung" für das Pariser Attentat wurde den Juden eine Kontribution in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Außerdem mussten sie für alle entstandenen Schäden selbst aufkommen. Es folgte eine Flut weiterer diskriminierender Maßnahmen und Erlasse. Worauf diese zielten, brachte Reichsorganisationsleiter Robert Ley am 18. November 1938 in einer Ansprache unverblümt zum Ausdruck:

"Der Jud muss raus, das muss unsere Parole sein, so oder so, aber Deutschland muss von Juden frei werden um seiner selbst willen."

Bis Kriegsbeginn Anfang September 1939 gelang noch 115 000 deutschen Juden die Auswanderung. Die im Lande Verbliebenen waren mittlerweile vollkommen marginalisiert und verarmt – ein gebrochener Rest, der einem furchtbaren Schicksal entgegenging.