Nichts ist unmöglich

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 19.03.2011
Nichts ist unmöglich. Der Werbeslogan eines ausgerechnet japanischen Autoherstellers passt am besten als Fazit nach einer Woche, an die sich die Zeitgenossen noch in Jahrzehnten erinnern werden.
Ein Katastrophen-Szenario, wie ausgedacht für einen einschlägigen Genre-Film und vor zehn Tagen noch für höchst unwahrscheinlich gehalten, ist Realität geworden. Seine Rückwirkungen auf die Innenpolitik in Deutschland haben die Regierung von Angela Merkel zu einer atompolitischen Kehrtwende bei voller Fahrt veranlasst – nichts ist unmöglich. Ob Union und FDP dabei auf der Straße bleiben oder von den Fliehkräften dieses Manövers aus der Kurve getragen werden, ist noch nicht ausgemacht – wie gesagt: Nichts ist unmöglich.

Es spricht viel dafür, dass in dieser Woche das Ende der Atomenergie in Deutschland eingeläutet worden ist, und zwar schneller, als das selbst SPD und Grüne in kühnen Träumen erwarten konnten. Das wird auch Angela Merkel wissen; das Moratorium ist wohl nur ein Akt der Gesichtswahrung. Energiegewinnung aus Atomspaltung wird in Deutschland keine Frage mehr sein, die von zwei politischen Lagern gegensätzlich beantwortet wird. Vielmehr wird sich in der Gesellschaft ein Konsens herausbilden oder verstärken, wonach das mit Blick auf Japan nicht mehr zu verantworten sei. Und weil auch in Deutschland gegen eine tatsächliche oder vermutete oder internetverstärkte Mehrheitsstimmung kaum mehr Politik gemacht werden kann, beeilen sich in diesen Tagen insbesondere die Vertreter der Koalition, argumentativ beizudrehen, koste es an Glaubwürdigkeit, was es wolle.

Sie haben vermutlich auch keine andere Wahl. Das hängt mit dem spezifischen kollektiven Sicherheitsbedürfnis der Deutschen zusammen, das sie von vielen anderen Völkern unterscheidet – auch in der Abschätzung der Atomkraftrisiken. Der Historiker Eckard Conze sieht als wirkungsmächtigste Konstante in der Geschichte der Bundesrepublik "Die Suche nach Sicherheit". Die katastrophale erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, so seine These, habe zur Folge gehabt, dass sich die Politik der Bundesrepublik immer entlang dieser Frage der Sicherheit ausrichte – in der Außen- und Verteidigungspolitik, aber auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht.

Belege für diese These gibt es genug, wenn man sich an die Stichworte vergangener Debatten erinnert, die mit Angst, Krise und Gefahr konnotiert waren: Klimakatastrophe, Finanzkrise, Terrorismus, Islamismus, alternde Gesellschaft, Flüchtlinge, Massenarmut durch Hartz IV, Rinderwahn, SARS, Schweinegrippe, Gammelfleisch, dioxinbelastete Eier. Wenn selbst eine neue Benzinsorte in der Lage ist, Verbraucher zu verunsichern, dann gilt das für das Atomunglück von Fukushima erst recht.

Und so planiert der GAU von Japan mit einem Mal einen der letzten innenpolitischen Kampfplätze. Auch in der Energiepolitik werden die Parteien nun immer weniger unterscheidbar. Alle wollen das Gleiche, nur unterschiedlich schnell.

CDU und CSU trifft das besonders. Die Unionsparteien als bislang überzeugte Vertreter der Kernenergie müssen erleben, wie ein weiterer Teil ihres Markenkerns dahinschmilzt, und wie wieder einmal die seltsame Dialektik greift, mit der sich politischer Wandel in Deutschland vollzieht. Es war die um soziale Gerechtigkeit besonders bemühte SPD, die sich gezwungen sah, den Sozialstaat zu beschneiden. Es war die Partei der Wehrpflicht, die Union, die die Wehrpflicht ausgesetzt hat. Sie hat auch als Verteidigerin des traditionellen Familienbildes die staatliche Kinderbetreuung reformieren und ausdehnen müssen. Und nun ist es die Union als die Partei der Kernenergie-Befürworter, die die Atomkraftwerke abschalten lassen muss.

Abseits aller akuten Begründungsnöte hat es den beiden Volksparteien nie gut getan, wenn sie Positionen aufgeben mussten, die zum Kernbestand ihrer Identität gehörten. Und so ist es auch diesmal denkbar, dass sich Stammwähler der Union bei nächster Gelegenheit abwenden oder zu Hause bleiben. Wir sind nicht mehr gar so weit entfernt von einer politischen Landschaft, in der sechs mehr oder weniger im Wortsinne konservative Parteien agieren – ohne große Gestaltungskraft, dafür ständig auf politische und wirtschaftliche Zwänge reagierend; ausgerichtet aufs Bewahren und Absichern des Bestehenden und meistens alternativlos. Politischen Erfolg wird vor allem der haben, der eine neue Gefahr als erster lautstark identifiziert und glaubwürdig Schutz davor versprechen kann. Das ist dann zwar nicht vernünftig, aber die Rationalität in der Berliner Politik war schon vor den Ereignissen in Japan auf dem Rückzug.