Nichts zum Anfassen

Von Tim Hannes Schauen |
Der Kölner Dom und das Obere Mittelrheintal stehen auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Für das Register "immaterielles Kulturerbe" können der Kommission nun statt Stätten schützenswerte Traditionen oder Bräuche vorgeschlagen werden.
Hoch oben über dem Rhein bei Königswinter thront der "Drachenfels". Er ist einer der sieben Berge, die dem Siebengebirge seinen Namen geben. Und er bewacht den Rheinsteig. Einen Wanderweg, den jedes Jahr Tausende Menschen entlang kraxeln. Mit Bonn im Rücken starten sie vom Drachenfels aus, gehen über schmale Pfade in den Steilhängen rheinaufwärts. Wie die Lemminge strömen sie dem Weltkulturerbe "Oberes Mittelrheintal" entgegen: Auf dem "Rheinsteig" ist zu jeder Jahreszeit eine Menge los.

Das "UNESCO-Welterbe", zum Beispiel hier im Mittelrheintal, - darunter kann sich jeder etwas vorstellen, es sogar anfassen. Doch, dass es auch "immaterielles Kulturerbe" gibt, ist weniger bekannt. 2003 verabschiedete die UNESCO ein Übereinkommen zur Erhaltung immateriellen Kulturerbes. Jetzt ist auch der Bund beigetreten und sammelt derzeit Vorschläge für eine Liste schützenswerter Kulturgüter. Noch bis zum 30. November können "kulturelle Ausdrucksformen" vorschlagen werden. Noch ist nicht bekannt, was auf dieser Liste steht oder stehen wird. Doch was genau ist "immaterielles Kulturerbe"?

"Natur, Wohlbefinden, Sport, meinen Körper bewegen... also das bedeutet es für mich."

Rheinsteig, Rothaarsteig, Eifelsteig – Wandern ist in, Wandern boomt, mit Wanderern lässt sich Geld verdienen. Wandern als "kulturelle Ausdrucksform" - die 600.000 Mitglieder des Deutschen Wanderverbandes können sich das sicher vorstellen. Wandern also könnte auch auf der UNESCO-Liste landen.

Wandergruppe auf dem Mosel Klettersteig in Calmont.
Der Deutsche Wanderverband kann sich Wandern als kulturelle Ausdrucksform auf der UNESCO-Liste vorstellen.© Ralf Goergen Bremm
Auch "Wandern" könnte auf der UNESCO-Liste stehen
Gekleidet in Multifunktionsjacken, mit dicken Schuhen an den Füßen und Rucksäcken auf dem Rücken kommen zwei Frauen den Rheinsteig herab. Franziska und Carola stützen sich etwas ratlos auf ihre Stöcke. Ob "Wandern" ein schützenswertes Kulturgut ist, da sind sich die beiden Würzburgerinnen nicht so sicher.

"Ich frag mich schon, warum das geschützt werden muss, und bisher ist es ja nicht verboten, warum muss das geschützt werden, weil wir tun's ja einfach. Ich glaube nicht, dass das nötig ist, denn dann sind noch mehr Massen unterwegs, das, was im Moment wandert, hat genug Möglichkeiten, und ich glaube jetzt nicht, dass man da dann mehr Gelder braucht."

Um Geld geht es indes nicht. "Immaterielles Kulturerbe" bezeichnet lebendige, über Generationen weitergegebene Traditionen und Praktiken, die einer Gemeinschaft ein Gefühl der Identität und der Kontinuität vermitteln. Als besonders gefährdet gilt etwa traditionelle Handwerkskunst - zum Beispiel chinesische Holzdruckerei, mit deren Technik laut UNESCO-Kommission nur noch elf Menschen vertraut sind.

An dem Bewerbungsverfahren zur Liste immateriellen Kulturerbes sind die Bundesländer und der Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung beteiligt, das Auswärtige Amt und die Deutsche UNESCO-Kommission. Und Fachleute, die Gutachten für diese Liste erstellen. Jedes Bundesland darf der UNESCO-Kommission zwei Vorschläge zur Liste einreichen. Was das geschützte Kulturgut dann davon hat, wird sich erst zeigen müssen. Vom Rheinland und dem Rheinsteig jedenfalls sind Franziska und Carola, die beiden Wanderinnen, ernsthaft begeistert.

"Ja, also die Natur hier ist herrlich, und der Rheinsteig wie gesagt, und das Ganze ist wunderschön, dann unten am Rhein oder oben auf der Höhe - es ist wunderschön."

Und deswegen wollen sie auch gleich weiter und stiefeln Schritt für Schritt von dannen. Streng beäugt vom Drachenfels, der seinen Namen daher hat, dass ein Drache auf dem Berg oberhalb des Rheins thronte und von dort aus Schiffe in Brand gespuckt habe. So lautet jedenfalls die Sage, die man seit Jahrhunderten in Königswinter bei Bonn erzählt.

Pro Bundesland sind zwei Vorschläge für immaterielles Kulturerbe erlaubt
Sagen oder mündliche Überlieferungen sind regional identitätsstiftend und deshalb besser für die UNESCO-Liste geeignet als das Phänomen Tausender Wanderer in Multifunktionsjacken. Sagen wie die vom Teufel im Aachener Dom.

Der Dom zu Aachen: Über 30 Könige wurden hier gekrönt, im Jahr 814 Kaiser Karl im goldenen Karlsschrein beigesetzt. Der Aachener Dom gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO. Täglich kommen Tausende Menschen in die Aachener Altstadt mit ihren engen Gässchen und Straßencafés, Printenläden und Geschäften mit dem obligatorischen Nippes für Touristen. Die meisten gehen über den Domhof und zu den beiden meterhohen Türen des Hauptportals: Auf jeder Tür prangt ein fußballgroßer Löwenkopf aus Bronze. Doch der rechte Löwe sieht etwas abgegriffen aus. Zwei grauhaarige Damen treten an die Domtüre.

"Sie hat mir gesagt, das sei der Daumen vom Teufel, mehr weiß ich auch nicht."

Die Frau steckt ihren Finger in eine Öffnung beim Maul des rechten Löwen.

"Ja, das isser drin. Ja nun, man muss ja so vieles glauben, was gesagt wird!"

Die Teufelssage ist seit Jahrhunderten eng mit dem Aachener Dom verbunden. Sabine Mathieu ist Stadtführerin in der Kaiserstadt. Die Domsage hat sie stets im Programm:

"Als die Aachener den Dom gebaut haben, hatten sie Kaiser Karl versprochen, dass der Dom fertig sei, wenn er von seinem Kriegszug zurückkäme, nur dummerweise waren die Baukosten explodiert, und die Aachener sind mit dem Geld nicht ausgekommen, da kam ein sehr vornehm gekleideter Herr in die Stadt, und der lebte in Saus und Braus, und die Aachener haben sich schließlich ein Herz gefasst und diesen scheinbar so reichen Mann gefragt, ob er ihnen denn nicht aushelfen könne, er wäre doch so reich, er könne doch was leihen, um den Dom fertig zu stellen. Ja gut, hat der Mann gesagt, das ist in Ordnung, das mache ich, aber der Deal ist nicht, dass ihr mir das Geld zurückgebt: Ich hätte gerne die erste Seele, die diese Kirche betritt."

Aachener Dom
Eine Sage zum Anfassen: Im Löwenkopf an der Bronzetür des Aachener Doms soll noch der Teufelsdaumen stecken.© AP
Eine Sage zum Anfassen: Der Taufelsdaumen am Aachener Dom
Eigentlich hat jede Kirche auch irgendwie mit dem Teufel zu tun. Denn ohne den Teufel kann man Gott nicht erkennen, sagt Sabine Mathieu. Auch in Aachen ist das so. Der reiche Geldgeber also ...

"... das war der Teufel in Person, der sich natürlich schon darauf freute, die Seele von Kaiser Karl oder zumindest von einem der 365 Bischöfe zu bekommen, die zur Einweihung des Domes dann geladen werden sollten. Gut, die Aachener haben sich schweren Herzens auf diesen Deal eingelassen, und am Tag der Eröffnung stand alles erwartungsfroh vor der Tür, aber rein hat sich dann keiner getraut, denn drinnen saß der Teufel, rieb sich die Hände und wartete auf seine Seele.

Und ein cleverer Aachener brachte in einem Karren einen Wolf aus dem Aachener Wald hier zur Domtür, und dann hat er diesen Wolf in die Kirche hinein geschickt. Und als der Teufel realisierte, dass Bewegung im Dom war, hat der vor lauter Gier gar nicht richtig hingeschaut und hat diesem Schatten, den er wahrnahm, sofort die Seele entrissen und dann erst realisiert, dass er betrogen worden war und nur eine Tierseele erwischt hatte.

Voller Zorn ist er aus der Kirche gerannt, hat diese schweren - jeder Flügel wiegt ja zwei, über zwei Tonnen - also diese schweren Türen hat der hinter sich zugeschlagen und sich dabei schrecklich seinen Daumen in einem der Löwenköpfe eingeklemmt. Und als er dann wütend in die Hölle fahren wollte, riss der Daumen ab und blieb stecken."

Seitdem steckt der Teufelsdaumen für jedermann fühlbar im Löwenkopf an der Bronzetür des Aachener Doms. Eine Sage zum Anfassen. Und diese wirkt in Aachen identitätsstiftend.

"Die Dombausage ist natürlich für jeden ein Muss, ist übrigens auch für die Aachener ein Muss, wenn die Aachener nichts über den Dom wissen, dann wissen sie aber diese Sage zu erzählen. Ich höre sie auch in meiner Tätigkeit als Stadtführer in allen Variationen hier vor der Tür, es ist fantastisch, wie die Leute dann auch ihre Fantasie spielen lassen, wenn sie kleine Wissenslücken haben, die werden dann durch viel Fantasie aufgefüllt, und ich glaube, das ist auch das Herz einer solchen Sage, dass jeder ein bisschen von sich selber mit hineinlegt. Dadurch bleibt sie auch lebendig."

Lebendige Tradition, Weitergabe über Generationen – die Aachener Domsage erfüllt die Grundvoraussetzungen zur Aufnahme auf die UNESCO-Liste! Jetzt müsste sich bloß noch jemand finden, der die Sage zur Rettungsliste vorschlägt. Bislang ist davon nichts bekannt. Immaterielle Kulturgüter – das sind auch die darstellenden Künste oder gesellschaftliche Bräuche und Rituale.

Der rheinische Karneval zum Beispiel würde es ganz sicher auf diese Liste schaffen, doch dass diese alljährliche große Sause im Rheinland in Vergessenheit geriete, geschützt werden müsse, auch wenn der Karneval noch so identitätsstiftend wirkt, das glaubt hier wohl niemand so recht. Für die Bewahrung des Karnevals sorgt das jecke Rheinland schon selbst.

"Der deutsche Schaustellerbund hat mich gebeten, als Experte der Schaustellergeschichte ein Gutachten zu schreiben für die Bewerbung der deutschen Volksfeste bei der UNESCO für den Eintrag in die Liste des immateriellen Kulturerbes."

Michael Faber ist Kulturwissenschaftler und stellvertretender Leiter des "Rheinischen Freiluftmuseums Kommern", 50 Kilometer südwestlich von Köln gelegen. Michael Faber hat über Volksfeste in Deutschland promoviert.

"In Deutschland haben wir eine Volksfestdichte mit schaustellerischer Prägung, die wir wahrscheinlich so im europäischen Raum nirgends mehr finden. Es sind Veranstaltungen, die vielfach auf das späte Mittelalter zurückzuführen sind. Damals sind sie entstanden zum Beispiel aus dem Wallfahrtsgeschehen, aus Kirchweihfesten und sind dann mit der Zeit eben auch von Gauklern mitgestaltet worden.

Im 19. Jahrhundert kommt das Schaustellergewerbe, das sich im 19. Jahrhundert entwickelt, hinzu und beginnt dann, diese Volksfeste mit Schaubuden, mit Karussells dann auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu prägen. Und heute sind diese Volksfeste sehr stark von Schaustellern mitgestaltet oder hauptsächlich gestaltet, und die Schausteller tragen auch durch eigene Bräuche wie Fahnenumzüge und so weiter mit zur Tradierung von Bräuchen bei."

Doch diese Tradition ist gefährdet: Die Wirtschaftskrise macht Volksfesten und Kirmessen ebenso zu schaffen, wie es städtebauliche Veränderungen tun: Eine große Kirmes braucht einen großen "Festplatz". Doch diese Freiflächen verschwinden, sodass Festzelt und Achterbahn schlichtweg weniger Raum haben.

Maibaum
Das Maibaumsetzen, ein speziell rheinisch-regionales Brauchtum: ebenfalls ein schützenswertes Kulturgut.© picture alliance / dpa / Hermann Josef Wöstmann
Volksfeste sind als gesellschaftliche Bräuche gefährdet
Das Volksfest – es ist ein Kulturgut, das Schutz benötigen könnte. Auch wegen seines verbindenden integrativen Charakters. Der Schutz des immateriellen Kulturguts "Volksfest" könnte also konkret darin bestehen, dass Festwiesen oder -plätze nicht bebaut werden dürfen. Michael Faber kennt ein weiteres Beispiel:

"Das Maiensetzen, also das Setzen von kleinen Birkenzweigen oder Birkenbäumchen – immerhin sind es ja die Bäume, die als erste blühen, und deswegen nimmt man die Birke - ist eigentlich eine recht alte Tradition, die einige Jahrhunderte alt ist, die im 19. Jahrhundert dann durch das Entstehen von Junggesellenvereinen hier bei uns im Rheinland belebt wird, und gerade auch in den letzten zwei Jahrzehnten enorm wieder zugenommen hat."

"Jungesellenspiele", die "Jungenspiele" sind ein speziell rheinisch-regionales Brauchtum, das seit Beginn des 17. Jahrhunderts im westlichen Rheinland, vor allem in Würselen im Kreis Aachen weiter lebt. "Maikönigin und -könig" werden diejenigen, deren Eltern am meisten spenden, sodass das Paar samt Ehrendamen und Hofstaat Maibälle und Umzüge feiern kann, und zum Abschluss eine große Kirmes mit dem üblichen Brimborium aus Festzelt, Party und Bierbude. Wo keine "Jungenspiele" veranstaltet werden, müssen Schützenfeste dafür herhalten.

"Also das ist ein typisches Beispiel für eine alte Tradition, die jetzt so in den letzten Jahren noch mal so richtig Aufschwung bekommen hat. Und von daher wäre für mich das ein klassischer Fall für die Beantragung der Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes."

Auf dem 95 Hektar großen Museumsgelände des Freilichtmuseums Kommern stehen knapp 70 historische Gebäude aus der ehemaligen preußischen Rheinprovinz: Windmühlen, Bauernhöfe, Werkstätten. Das Museum ist ein beliebtes Ausflugsziel, die Dauerausstellung "WirRheinländer" haben schon über eine Million Menschen besucht.

Einige Hundert Meter hinter dem Büro von Michael Faber steht ein kleines Fachwerkhaus. Hühner flüchten gelassen vor den Beinen der Museumsbesucher und dem stattlichen schwarzen Hahn. Im Keller des Häuschens befindet sich eine Backstube, darüber das historische Schulzimmer: Neben der Tür ein Kanonenofen, vorne an der Wand eine große Tafel, in der Ecke hängen ausgestopfte Vögel neben einer vergilbten Landkarte des "Staates Preußen".

Die Sütterlin-Schrift: Ebenfalls ein Kulturgut, das Schutz benötigt
1911 entwickelte der Pädagoge Ludwig Sütterlin im Auftrag des Kultusministeriums eine nach ihm benannten Schrift, sie wurde später in ganz Deutschland eingeführt. Unter den Nationalsozialisten war Sütterlin als "Judenlettern" verfemt, 1941 wurde Sütterlin durch die deutsche Normalschrift ersetzt, im Jahre 53 wurde sie nach kleinen Veränderungen als lateinische Ausgangsschrift in allen Ländern außer Bayern eingeführt. Heute lernen die Kinder die vereinfachte Ausgangsschrift.

Die Sütterlin-Schrift geriet über die Generationen in Vergessenheit – in Berlin suchte ein Wirtschaftsarchiv kürzlich Menschen, die "Sütterlin" noch lesen und beim Entziffern alter Urkunden helfen können.

Seit zehn Jahren gibt Hans-Josef Möhrer im Freilichtmuseum Kommern Unterricht in alter deutscher Schrift. Der pensionierte Lehrer für Musik und Geschichte kann hier sein Faible für Kalligrafie ausleben, zudem trägt er aktiv dazu bei, dass diese Schrift nicht in Vergessenheit gerät. Lehrer Hans-Josef Möhrer geht nach vorne zum Lehrerpult.

"So, wenn Sie mit deutsche Schrift machen möchten, dann sind Sie herzlich eingeladen, Platz zu nehmen, hier in diesen Bänkchen, am besten gehen Sie nach hinten, da sind die Bänke ein bisschen größer als hier vorne, Kinder können ja auch mitmachen, wenn sie möchten."

Große und kleine Schüler klemmen sich hinter die engen Pulte, einige zufällig, andere sind der Ankündigung im Programmheft oder auf der Internetseite des Museums gefolgt. Jetzt schauen alle erwartungsvoll nach vorne.

"Sie können wählen, ob Sie auf einer Schiefertafel schreiben möchten oder mit Bleistift auf einem Blatt Papier."

Hans-Josef Möhrer beginnt seinen "Unterricht", der eigentlich eine Infoveranstaltung in einem historischen Klassenzimmer ist. Er steht vorne an der Tafel und zeichnet mit Kreide gestochene Buchstaben an die Tafel: Sütterlin-Buchstaben.

"Und die fangen hier oben an mit der leichtesten Form der Bewegung, nämlich rauf runter. Und da haben wir zum Beispiel den Buchstaben I, der geht einfach: rauf, runter, rauf – Pünktchen obendrauf."

Eine Frau Anfang 50 beginnt sofort, die Sütterlin-Buchstaben abzuschreiben. Immer wieder schaut sie von der Schiefertafel auf ihrem Pult zur großen Tafel vorne an der Wand.

"Ich habe Anfang der 70er-Jahre in einer ganz alten Schule, also das war ein ganz altes Schulgebäude, habe ich noch die Sütterlin-Schrift gelernt."

Lehrer Möhrer geht neugierig umher, ist gespannt auf die Ergebnisse. Dann malt er den nächsten Buchstaben auf die große Kreidetafel. Etwas später verlässt eine Schülerin im Pensionsalter den Unterricht: Ihre Enkelin steht in der Tür des Klassenzimmers, hat die Oma herausgewunken.

"Lesen könnte ich es noch, aber nicht mehr schreiben. Finde ich in Ordnung, man muss das doch pflegen, diese Kultur, sage ich einfach mal, doch, finde ich super - sollte man den Kindern auch mal, dass es früher auch so was gab, wenn sie mal Briefe vielleicht später lesen, von ihren Großeltern, oder so ..."

Lehrer Möhrer entlässt bald auch die anderen Schüler. In nicht einmal einer Stunde lässt sich keine beinahe vergessene Schrift erlernen. Eigentlich waren es bloß ein paar Schreibübungen. Doch mit seiner ruhigen, rheinisch-humorvollen Art hat Möhrer Begeisterung transportiert. Und er macht vor, wie man ein immaterielles Kulturgut bewahrt. Weil aber der Einsatz von Einzelpersonen nicht den nachhaltigsten Erfolg verspricht, wäre der Sütterlin-Schrift und dem Anliegen von Hans-Josef Möhrer mit dem Eintrag in das UNESCO-Schutzregister geholfen.

"Da wünsche ich Ihnen dabei viel Spaß beim Üben, vielleicht haben Sie auch Glück, dass Sie eine alte Urkunde finden, wo Sie als Erbe oder irgendwas bedacht sind, was Sie bisher nicht wussten, was Sie aber jetzt entziffern können anhand dieses Alphabets von der deutschen Schrift, ja. So, wünsche ich Ihnen dann noch einen schönen Tag im Museum, und vielleicht bis irgendwann mal wieder."

Der Kulturwissenschaftler und Museumschef Michael Faber sitzt derweil in seinem Büro, schaut auf den Waldrand. Im Rheinischen Freilichtmuseum Kommern werden auch alte Handwerkskünste am Leben gehalten.

"Freilichtmuseen leben geradezu davon, dass sie Handwerker haben, die in traditioneller Manier arbeiten können, die alte, die traditionelle Handwerkstechniken noch beherrschen und auch mit altem Werkzeug umgehen können. Das macht einen Unterschied, ob man Zimmerleute hat, die noch die alten Holzverbindungen kennen und anfertigen können, die Verzapfungen, die Aufblattung, und wie sie alle heißen, oder ob es die Zimmerleute sind, die aus ihrem Berufsalltag eigentlich nur noch die Lochplatte als verbindendes Element kennen."

Das ist Reetdach ist feuerfest.
In Norddeutschland werden Häuserdächer mit Reet gedeckt. Im Rheinland benutze man dafür Roggen, doch die Tradition geriet ins Vergessen.© FH Lübeck
Traditionelle Handwerkskünste sterben aus
Wo in Norddeutschland Häuser mit Reet gedeckt wurden, geschah dies im Rheinland, da hier kein Reet wächst, mit Roggen. Doch derzeit baut im Rheinland niemand mehr den nötigen Roggen mit besonders langen Halmen an, das Getreide muss aus Rumänien importiert werden. Das soll sich künftig ändern.

"Also wichtig ist es, dass wir den eigenen Nachwuchs im Handwerk generieren, sonst sind die Freilichtmuseen, was den Erhalt ihrer Exponate und damit des Kulturerbes betrifft, eigentlich nicht zukunftsfähig."

Bis heute stehen auf den Listen immateriellen Kulturerbes mehr als 290 "kulturelle Ausdrucksformen" aus aller Welt. Die deutsche Liste wird gerade erst erstellt. Was genau auf ihr landet, wird erst Ende des Jahres klar sein. Was die "schützenswerten" Kulturgüter, wie Tänze, Bräuche, Handwerkskünste, dann davon haben, steht in den Sternen.

Klar ist schon jetzt: Die Suche nach immateriellen Kulturgütern hilft dabei, sich dessen bewusst zu werden, was unsere Kultur ausmacht. Schützenswertes immaterielles Kulturgut gibt es überall reichlich. Im Rheinland und auch anderswo. Man muss es nur erkennen.
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