Reinhard Kleist: "NICK CAVE - MERCY ON ME"
Carlsen Verlag, Hamburg 2017
328 Seiten, Hardcover, 24,99 Euro
Ein Mythos in Bildern
Nick Cave hat eigentlich schon fast alles gemacht: Er ist Musiker, Schauspieler, Filmemacher, Dichter. Kurz vor seinem 60. Geburtstag wird er nun auch noch zum Titelhelden der Graphic Novel "Nick Cave - Mercy On Me" vom Zeichner Reinhard Kleist.
Es ist ja nicht so, dass Reinhard Kleist unerfahren wäre, was den Umgang mit Musikern und ihren Biografien angeht: Nach Johnny Cash und Elvis Presley ist Nick Cave bereits die dritte Bühnenlegende, deren Geschichte der Zeichner zu Papier gebracht hat – und doch war in diesem Fall alles anders. Nicht nur, weil die Hauptfigur noch am Leben ist und durchaus klare Vorstellungen über die Umsetzung des Projekts mitbrachte; auch nicht, weil Nick Cave kurz vor seinem 60. Geburtstag auf ein außerordentlich bewegtes Leben zurückblicken kann – es ist der ständige Wandel und die bewusste Legendenbildung, die den australischen Superstar so schwer greifbar machen. Denn wie soll man einen Mann in Bilder bannen, bei dem Wahres und Erfundenes kaum noch zu trennen sind? Für Reinhard Kleist ein langer Entwicklungsprozess – angefangen bei den Grundlagen:
"Ich ändere ja gerne mal meinen Stil, und jetzt habe ich mehr so eine Richtung gefunden, die diesem 90er-Jahre Ruppigen eher entgegen kommt – weg von diesem, sagen wir mal: eher eleganten Strich in den letzten Jahren."
Faszinierendes Artbook
Allein das Artbook ist deshalb so faszinierend, weil es dokumentiert, wie sich Reinhard Kleist der Figur Nick Cave immer mehr angenähert hat – es sind Studien, Charakter- und Anatomiestudien, Momentaufnahmen der verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit; der Versuch, das umfangreiche Schaffen mit der Biographie von Nick Cave zusammenzubringen.
"Es gibt dann halt Momente, wo man auch merkt, wieviel er da verarbeitet hat von seinem Leben, was immer wieder auftaucht: Motive, die sich immer wiederholen, und er baut ja dann manchmal richtige Welten auf. Zum Beispiel von seinem ersten Roman: ´Und die Eselin sah den Engel` heißt der – da sind ganz viele Elemente drin, die immer wieder in seinen Songs auftauchen. Das ist ganz faszinierend. Auch Sachen, mit denen er sich beschäftigt hat zu der Zeit, also sehr viel Religion – er hat ja öfters die Bibel gelesen von vorne bis hinten. Und das sind so Elemente, die auch immer wieder in seinen Songs auftauchen."
Und gerade die intensive Auseinandersetzung mit den Songs scheint Reinhard Kleist dabei geholfen zu haben, den Geist von Nick Cave in seinen Bildern einzufangen. Immer wieder tauchen Figuren aus dessen Songs in der Geschichte auf, in Visionen oder gezeichneten Nacherzählungen – und man erkennt den Meister selbst in den verschiedenen Rollen seiner Protagonisten, ob als mörderischer Liebhaber in "Where the Wild Roses Grow" oder als gepeinigter und hasserfüllter Bauernjunge in "The Good Son".
Eine Graphic Novel über eine so komplexe Figur wie Nick Cave – für Reinhard Kleist ist das nur in Eigenregie möglich, vom Storyboard bis zum letzten Pinselstrich.
Eine Graphic Novel über eine so komplexe Figur wie Nick Cave – für Reinhard Kleist ist das nur in Eigenregie möglich, vom Storyboard bis zum letzten Pinselstrich.
"In Frankreich zum Beispiel, oder auch in Amerika bei den Superhelden-Comics, da ist es halt eher üblich, dass man sich für jede Tätigkeit einen unterschiedlichen Künstler sucht. In Deutschland hat es aber mit so einem ausgeprägten Individualismus zu tun, dass man das halt alles gerne selber macht. Ich habe eigentlich im Grunde genommen schon die Kontrolle über das ganze Produkt, und ich kann da halt selber entscheiden, in welche Richtung das gehen soll und was ich da jetzt betone. Deswegen ist es dann schon so, dass ein solches Comic auch unmittelbarer ist und direkter mit den Leuten spricht."
Das Verschwimmen von Realität und Fiktion
Und so ist "Mercy on Me" keine Dokumentation, keine detailgetreue Nacherzählung eines bewegten Lebens geworden – Reinhard Kleist widmet sich in seiner Graphic Novel vielmehr dem Mythos Nick Cave, der seine Karriere von Anfang an als zu erzählende Geschichte begriffen hat. Und er wendet dabei die gleiche Taktik an wie der Australier: Er lässt die Grenzen verschwimmen; das Werk dominiert sein Leben und man weiß nie, wo die Realität endet und die Fiktion beginnt – so wie bei den Wassermassen, die sich im 80er Jahre-Klassiker "Tupelo" nicht mehr nur über die besungene Stadt, sondern auch über die Bühne ergießen, auf der die Band spielt; Nick Cave auf der Suche nach einem neuen Sound:
Zitat: "Jetzt kann ich den Donner hören, den sintflutartigen Regen. Musik wie die alles vernichtende Welle nach einem Dammbruch. Das ist der Ton, den Du so lange gesucht hast."
Nick Cave von A bis Z – das hätte nicht funktioniert; das musste auch Reinhard Kleist nach einem ersten, rein chronologischen Entwurf für das Projekt schnell einsehen. Eine solche Kunstfigur erzählt sich durch ihre Songs, ihre Geschichten genauso wie durch die verschiedenen Stationen im Leben und erfordert von Seiten des Autors ein tiefes Verständnis für die von ihm einzufangende Künstlerpersönlichkeit. Das vielleicht größte von vielen möglichen Komplimenten für Reinhard Kleist muss daher lauten: Er hat Nick Cave wirklich verstanden! Sowohl seine Graphic Novel "Mercy on Me" als auch das dazugehörige Artbook sind das eindrucksvolle Ergebnis von jahrelanger Recherche, intensiver Auseinandersetzung und Wertschätzung für den Künstler und Menschen Nick Cave.
Nick Cave von A bis Z – das hätte nicht funktioniert; das musste auch Reinhard Kleist nach einem ersten, rein chronologischen Entwurf für das Projekt schnell einsehen. Eine solche Kunstfigur erzählt sich durch ihre Songs, ihre Geschichten genauso wie durch die verschiedenen Stationen im Leben und erfordert von Seiten des Autors ein tiefes Verständnis für die von ihm einzufangende Künstlerpersönlichkeit. Das vielleicht größte von vielen möglichen Komplimenten für Reinhard Kleist muss daher lauten: Er hat Nick Cave wirklich verstanden! Sowohl seine Graphic Novel "Mercy on Me" als auch das dazugehörige Artbook sind das eindrucksvolle Ergebnis von jahrelanger Recherche, intensiver Auseinandersetzung und Wertschätzung für den Künstler und Menschen Nick Cave.
"Darüber entwickelt man ja auch so eine Liebe zu dieser Person. Und das, glaube ich, merkt der Leser schon, wenn da Herzblut dahinter steckt."
Mit "Mercy on Me" ist Reinhard Kleist eine grandiose Liebeserklärung an einen der außergewöhnlichsten Künstler der letzten Jahrzehnte gelungen – ein spektakulärer Schwarz-Weiß-Trip durch Geschichte und Mythologie. Oder, wie es Nick Cave selbst treffend zusammenfasst: "ein beängstigendes Husarenstück aus Cave-Songs, historischen Halbwahrheiten und herrlichen Hirngespinsten".