Nico Bleutge, nachts leuchten die Schiffe. Gedichte
C.H. Beck Verlag, 87 Seiten, 16,95 Euro
Das Meer ist eine Autobahn
Für das schwankende Element im "Dazwischen", das Verbindung herstellt und Ferne evoziert, für Meer- und Moorlandschaften, für Naturphänomene überhaupt, hat der Lyriker Nico Bleutge eine besondere Affinität.
2001 Gewinner des "open mike" in Berlin, hat Nico Bleutge seither jede Menge Preise erhalten für seine Gedichte. 2008 erschien ein Libretto mit dem Titel "Wasser". In dem neuen Band "Nachts leuchten die Schiffe" gibt er sich ganz dem Atem und der Faszination des Wassers hin, verbindet meditative Aspekte mit der Vorstellung von Veränderung und Rationalisierung auf den Wasserwegen – bis hin zur Verarmung und Fluchtursachen. Nico Bleutge, 1972 in München geboren, lauscht den Wörtern, auch denen anderer Dichter, lässt sich zu Sprachbeschwörung und Spielerei verführen, ruft Erinnerungsbilder auf – das alles ergibt atemberaubende und sinnliche Atmosphären.
Auf die Frage nach seinen Inspirationen sagte Nico Bleutge:
"Die eigene Kindheit kommt unbedingt ins Gedicht. Ich hatte das Glück, vor einiger Zeit in Istanbul zu sein, am Bosporus zu sitzen und mir diese Containerschiffe und Ölpötte tagtäglich anschauen zu können. Normalerweise zünden so fremde Orte bei mir nicht so besonders, aber da war das sehr extrem so. Ich bin in eine meditative Stimmung verfallen und habe mir das sehr genau angesehen. Das hat sich kurzgeschlossen mit einer Erinnerungsschicht eigener Kindheitserinnerungen: Meine Großeltern haben am Rhein gewohnt, und ich konnte mir dort immer die sehr viel kleineren Tanker und Frachter ansehen. Zusätzlich noch die Lektüreerfahrung mit Alfred Döblins "Berge, Meere und Giganten". Diese Orte kamen dann in der Recherche rein, das sind nicht beliebige Ortsnamen. Man lernt auch sehr viel über Sprache: Im Zuge dessen, was in den letzten Jahren passiert ist, werden solche Begriffe wie Fluchtpunkt und Fluchtlinie ganz anders semantisch aufgeladen. Wenn man dann nachrecherchiert und sieht, dass sich paradoxerweise alte Handelslinien mit heutigen Fluchtrouten überschneiden, kann man versuchen, das in einer bestimmten semantischen Schicht auch ins Gedicht reinzubringen."
Aufgeblasene Legosteine
Das Meer hat viel von seiner poetischen Kraft als ein Sehnsuchtsort eingebüßt, und das hat nach Nico Bleutges Beobachtung mit der heutigen Container-Schifffahrt zu tun:
"Durch den Container hat sich eine sehr funktionale Sicht des Ganzen und eine sehr starke Veränderung in wirtschaftlichen Zusammenhängen ereignet. Wenn man sich diese heutigen Containerschiffe anschaut ... der Container selbst sieht aus wie ein aufgeblasener Legostein, und Container-Terminals sind ja nichts anderes als von Robotern bediente Großlegoflächen, in denen die sehr funktional gestalteten Schiffe beladen werden. Die Ideologie, die hinter diesem ganzen Containerdasein steckt, ist ja, dass man versucht, alles das, was Landschaft und Leben generell vielleicht ausmacht – Zufall, historische Spuren, Verzögerung, Beschleunigung – auszuschalten und sich das Meer wie eine Autobahn vorzustellen, auf der Schiffe Waren transportieren."