Nicolas Wouters (Text), Mikael Ross (Zeichnungen): Totem
Graphic Novel, aus dem Französischen von Claudia Sandberg
Avant Verlag, Berlin 2016
128 Seiten, 29,95 Euro
Coming-of-Age in surrealen Waldlandschaften
Louis muss in einem Pfadfinderlager in den Ardennen brutale Initiationsrituale über sich ergehen lassen. Als ihm als Totem-Tier der Fuchs mit entsprechender Maske zugewiesen wird, kommt ein ganz anderer Junge zum Vorschein. Eine ansprechende Coming-of-Age-Geschichte.
Die Graphic Novel "Totem" beginnt irritierend, mit einem ganzseitigen Bild, das einen aufgebahrten Jungen zeigt, neben ihm steht ein Hocker mit Operationswerkzeugen. Wird der Junge operiert oder seziert? Etwas stimmt nicht an diesem Bild: Der Junge liegt auf einem Schreibtisch!
Die wilde Szene danach löst die Irritation zunächst auf, da spielen zwei Brüder Operieren, der ältere Louis holt dem jüngeren Thomas eine Godzilla-Figur aus dem Magen. Als Blut wird reichlich Tomatensaft verspritzt, zwei Bügeleisen sind die Defibrillatoren, am Ende ist die dramatische Operation glücklich überstanden.
Aber nur im Spiel, tatsächlich bricht der jüngere Bruder kurz danach zusammen, er ist wirklich schwer krank.
Das ganze Buch von Nicolas Wouters und Mikael Ross spielt mit solchen Irritationen, mit einem Grenzgang zwischen Realität und Imagination.
Brutale Jungmännerrituale
Louis wird in ein Pfadfinderlager in den Ardennen geschickt, als Neuling ist er dort ein willkommenes Opfer für brutale Jungmännerrituale. Die Situation dreht sich, als Louis bei einem surrealen Initiationsritual sein Totem-Tier zugeordnet wird, ein Fuchs.
Unter der Fuchsmaske kommt ein anderer Louis zum Vorschein, ein selbständiger, starker und aggressiver Louis, der als Fuchs durch die Wälder zu streifen beginnt, an der Seite eines weißen Leoparden, der aus einem nahen Zoo entkommen sein soll. Zusammen verkriechen sie sich in einem Bunker der Maginot-Linie, deren Überreste in diesem Wald zu finden sind.
Spätestens hier weiß man nicht mehr, ob man als Leser in den Fantasien von Louis gelandet ist oder auf einer ganz anderen Ebene von Wirklichkeit. Am Ende des Buches führen Wouters und Ross die Geschichte zurück in die Realität, so sieht es zumindest aus. Wieder liegt Thomas auf einer Bahre, aber nach den Erfahrungen dieses Buches ist man vorsichtig geworden damit, etwas für real zu halten.
Surrealistische Erzählung
"Totem" ist eine Coming-of-Age-Geschichten, von denen es viele gegeben hat in den Graphic Novels der letzten Jahre, "Blankets" von Craig Thompson oder "Kinderland" vom Mawil sind herausragende Beispiele dafür. Daneben gab es viele langweilige Varianten, "Totem" ist eine sehr faszinierende, ein düsteres, spannendes und formal mutiges Buch.
Der Berliner Zeichner Mikael Ross lässt seine expressiven Waldlandschaften in dunklen Farben glimmen, seine Figuren sind flüchtig und skizzenhaft, die Nebenfiguren oft an der Grenze zur Karikatur. Viele kleine Panels geben der Graphic Novel einen schnellen, fiebrigen Rhythmus, in einigen Passagen folgt man über Seiten hinweg ausschließlich Bildern ohne jedes Wort.
"Totem" von Mikael Ross und dem belgischen Szenaristen Nicolas Wouters steht einer surrealistischen Erzählung weitaus näher als einem actiongeladenen Comic alter Schule. Schön, dass sich die beiden bei ihrer zweiten Zusammenarbeit so weit hinausgewagt haben!