Nie mehr Sklavendarsteller

Von Beatrice Ürlings |
Die US-Bühnenkunst hat ihre ganz eigene Rassismusgeschichte. Lange traten die Afroamerikaner im Theater nur zur Belustigung des weißen Publikums auf, etwa indem sie tanzende Sklaven mimten. Auch das Black Arts Movement der 70er-Jahre ging am etablierten Kulturbetrieb so gut wie spurlos vorüber.
Heute allerdings gilt in der New Yorker Theaterwelt die junge, farbige Dramatikergeneration als die kreativste und kräftigste Stimme überhaupt, für viele interessanter und bewegender als die weiße. Es ist eine späte Genugtuung für diejenigen, die sich vor wenigen Jahren noch in Klischees eingezwängt sahen.

Das Joyce Café im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Noch vor ein paar Jahren gab es stattdessen einen Waschsalon. Den mehrheitlich afroamerikanischen Anwohnern fehlte es damals an Geld und Muße für Plauderstunden zu feinem Gebäck. Das hat sich geändert. Heute treffen sich im Café Modedesigner, Künstler und Manager: Die Vertreter der neuen, schwarzen Mittelklasse.

Lynn Nottage ist in der Gegend aufgewachsen. Hier spielt auch ihr Theaterstück, "Intimate Apparel". Es handelt von einer schwarzen Korsettmacherin namens Esther, die kunstvolle Unterwäsche für weiße Damen und für Prostituierte fertigt. Kurzes Stirnrunzeln, dann sagt die Dramatikerin:

"Es gibt eine ganze Welt der schwarzen Frauen, die nicht in der Literatur vorkommt! Powerfrauen wie Condolezza Rice sind Ausnahmen - kaum eine Afroamerikanerin erkennt sich in unserer ehemaligen Außenministerin wieder! Ich bin meiner Großmutter wegen Autorin geworden. Sie war eine fantastische Erzählerin, die nie aufgab: Sie hat ihren College-Abschluss noch nachgeholt, als ich fast schon erwachsen war! Um solche Storys geht es mir."

Lynn Nottage - lange Rastazöpfe, zierliche Figur, 43 Jahre alt - ist die zurzeit meistgespielte US-Bühnenautorin. Obwohl ihre Stücke alle im afroamerikanischen Milieu spielen, geht die Botschaft weit über die Rassenfrage hinaus. Nottage - die an der Eliteuniversität Yale studiert hat - aktualisiert die Kämpfe ihrer Elterngeneration

""Ich habe nach meinem Studium eine Weile für Amnesty International gearbeitet. Dort habe ich erkannt, dass es so viele Geschichten gibt, die noch nie erzählt wurden! Ja, ich bin schwarz, aber, wenn ich etwa mit der U-Bahn fahre, dann höre ich viele Stimmen in meinem Kopf, die nichts mit meiner Hautfarbe zu tun haben. Ob Terroristen oder Ludwig XIV: Auch diese Charaktere faszinieren und verfolgen mich!""

Eine Identität, die nicht nahtlos in der Bürgerrechtsbewegung aufgeht: So etwas kommt an. Die afroamerikanischen Dramatiker gelten heute als die kräftigste Stimme der New Yorker Theaterwelt. Längst sind es nicht nur mehr gestandene Erfolgsautoren wie Lynn Nottage oder Tony Morrison, die die Kassen klingeln lassen. Auch Nachwuchstalente bekommen eine Chance. Derzeit widmen sich rund ein Dutzend Produktionen in Big Apple afroamerikanischen Themen. Die erfolgreichste Premiere der Saison heißt "Memphis": Das Musical erzählt von der schwierigen Liebe zwischen einem weißen DJ und einer schwarzen Sängerin im Amerika der 50er-Jahre.

Black Power für die Theaterwelt: Viele Kulturschaffende behaupten, dass es ohne Barack Obama nie so weit gekommen wäre. Tatsächlich sind afroamerikanische Produktionen am Broadway beliebt wie noch nie, seitdem der Präsident sich dort ein Stück des schwarzen Erfolgsautors August Wilson angeschaut hat.

Harvard Professor Henry Louis Gates geht jedoch noch einen Schritt weiter. Die schwarzen Bühnenschreiber, sagt er, seien Teil einer ganzen Generation farbiger Senkrechtstarter. Und die seien deshalb so erfolgreich, weil sie sich nicht nur mehr durch die Verbrechen definieren, die die Weißen an ihren Vorfahren begangen haben.

"Ich werde mich immer an diesen gewaltigen Freudentaumel in den schwarzen Familien erinnern, als Barack Obama die Wahl gewonnen hat. Viele von uns haben nie geglaubt, dass wir je einen schwarzen Präsidenten haben, denn natürlich sind wir alle Kinder jener Millionen von desillusionierten Sklaven. Und doch ist Obama Teil eines breiteren Phänomens, das schon viel früher begonnen hat: seine Botschaft und Ausstrahlung verkörpert die Multikulti-Nation Amerika, die Grenzen zwischen den Hautfarben verschwimmen."

Eine Weltmacht, in der die Hautfarbe keine Rolle mehr spielen soll: Offiziell wurde die Sklaverei in den USA bereits Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft. 1964 verabschiedete Präsident Lyndon B. Johnson dann den Civil Rights Act, der die Diskriminierung Einzelner aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe oder nationaler Herkunft verbietet. Dennoch gehörte rassenmotivierte Schikane noch jahrelang zum Alltag. Vor allem im Süden des Landes waren brutale Einschüchterungen gang und gebe.

Theaterprobe bei den "Mockingbird Players". Die Truppe tourt ständig um die Welt, obwohl sie nur ein einziges Stück in ihrem Repertoire hat: Das auf dem gleichnamigen Roman von Harper Lee basierende Schauspiel "Wer die Nachtigall stört". Das Werk erschien 1960, wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und führt immer noch die Bestsellerlisten an. In den USA wird nur die Bibel mehr gelesen.

Der Schauspieler A.B. Blass ist in Monroeville aufgewachsen, wo die Handlung von "Wer die Nachtigall stört" spielt. Obwohl das Städtchen gerade mal 7000 Einwohner zählt, befand sich dort lange der juristische Hauptsitz des US-Bundestaates Alabama. Blass, der einen Laden im Ortskern besaß, konnte dennoch jeden Samstag mit ansehen, wie das neue Bürgerrechtsgesetz von Präsident Kennedy seine Wirkung verfehlte.

"Dann kamen die weißen Radikalen und blockierten alle Wege zum Zentrum mit ihren Autos. Kein Schwarzer wurde durchgelassen. Einmal im Monat trafen sie sich auch zu Hunderten auf der Wiese hinter der Sporthalle, wo sie dann zehn Meter hohe Kreuze anzündeten. Sie haben mit allen Mitteln versucht, die Rassentrennung aufrecht zu erhalten."

"Wer die Nachtigall stört" wurde in Hollywood verfilmt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Atticus Finch. Der Anwalt verteidigt einen Schwarzen, der beschuldigt wird, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Gregory Peck bekam einen Oscar für die Rolle. Die Szene, wo er bei seinem Plädoyer die Schuld und Ignoranz des weißen Amerikas anprangert, ist Filmgeschichte. Bis in die 60er-Jahre hinein hatten die Afroamerikaner im Süden der USA kaum eine Chance auf faire Gerichtsverhandlungen, erinnert sich A.B. Blass.

"Ich hatte selber große Probleme, weil ich mich als Weißer dafür eingesetzt habe, dass es auch schwarze Juroren bei den Prozessen gibt. Sie schimpften mich einen 'Nigger Lover' und schmierten Hassparolen an die Wände meines Ladens. Die Politiker machten mit. Der Landkreis hatte mir einen Großauftrag für Lkw-Reifen zugesichert, aber dann hieß es auf einmal, meine Ware entspreche nicht mehr den Anforderungen. Ich habe alles verloren damals."

Auch die darstellende Kunst in den USA hat ihre eigene Rassismusgeschichte. Auf der Bühne waren die Afroamerikaner lange nur in den sogenannten "Minstrels" zu sehen: Dort mussten sie zur Belustigung des weißen Publikums tanzende Sklaven mit Nasenringen mimen.

Selbst die aggressiv politischen Stücke des Black Arts Movement in den 70ern gingen spurlos am Mainstream vorüber. Die großen Bühnen blieben fest weißer Hand, erinnert sich die Broadway-Schauspielerin Tonya Pinkins.

"Ich konnte mich in meiner Kunst nie wirklich entfalten, denn die Stücke, in denen ich auftrat, waren nun mal nicht für uns geschrieben! Wie oft habe ich nicht hören müssen, dass ein weißer Regisseur mir sagte, meine Darstellung sei 'nicht schwarz genug'! Sie hatten alle diese Bild im Kopf, all diese TV-Klischees, was es heißt, schwarz zu sein!"

Erst Mitte der 1980er-Jahre wendete sich das Blatt, als der inzwischen verstorbene August Wilson für seinen Dramenzyklus "Pittsburgh Cycle" mit dem renommierten Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Das Werk gehört bis heute zum Stammrepertoire jedes US-Theaters, es verbindet weiße und schwarze Elemente. Formal knüpft es an realistische Sozialdramatiker wie Arthur Miller oder Tennessee Williams an. Inhaltlich schildert es die afroamerikanische Lebenserfahrung im 20. Jahrhundert. Für den Schauspieler James A. Willliams ist jeder Auftritt zugleich ein Stück Realgeschichte:

"August Wilson hat uns eine Stimme gegeben! Seine Stücke waren die ersten, in denen wir authentisch bleiben durften. Seine Sprache entspricht den Rhythmen, die schwarze Schauspieler wie ich unser Leben lang gehört haben, zu Hause am Küchentisch, im Urlaub oder wenn wir als Kinder den Erwachsenen zuhörten."

Das schwarze Amerika in all seinem Reichtum und all seinen Facetten: Die junge Autoren-Generation setzt die Tradition von August Wilson fort, verbindet sie aber mit Elementen der Obama-Philosophie: Ähnlich wie der Präsident in seiner Autobiographie thematisieren viele Autoren jetzt das Phänomen der Klassenschranken, jener unsichtbaren, oft psychologisch begründeten Grenzen, die Afroamerikaner immer noch von sozialer Anerkennung und vor allem: von wirtschaftlicher Angleichung abhält.

Das Economic Policy Institut hat die Lage in Zahlen festgehalten. Alles in allem sind Fortschritte erzielt worden: Die jungen Afroamerikaner sind viel besser ausgebildet als ihre Eltern. Verglichen mit der weißen Mehrheit hinken sie allerdings immer noch hinterher.

Obwohl es heute rund 15 mal mehr schwarze Topmanager in den USA gibt als Mitte der 80er Jahre, lebt ein großer Teil der Afroamerikaner weiter am Rande des American Dream. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt 6.500 Dollar unter dem weißer Familien, weiß der Finanzexperte Alvin Hall:

"Diese Diskrepanz ist das Vermächtnis der 50er- und 60er -Jahre. Bis dahin hatten die Afroamerikaner kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Das heißt: Unsere Generation ist die erste, die sich ein Eigenheim kaufen konnte, Jobs bekam, Zugang zu den Kreditmärkten hatte. Aber das Zeitfenster war einfach zu gering. Zu viele von uns können, wenn die Wirtschaft einbricht, nicht auf Rücklagen oder Ersparnisse der Eltern oder Großeltern zurückgreifen, und müssen dann von Lohntüte zu Lohntüte leben."

Und so trifft die Rezession in den USA die schwarze Minderheit in diesen Tagen stärker als alle anderen Bevölkerungsschichten. Am gravierendsten ist die Kluft am Arbeitsmarkt: Die Erwerbslosenquote der Afroamerikaner liegt mit 15 Prozent fast zweimal höher als der Landesdurchschnitt, erläutert der Kolumnist Jonathan Mahler.

"Das Problem ist, dass viele Afroamerikaner im Zuge der Rassenunruhen damals in den Norden gezogen sind, wo sie nicht nur mehr Freiheit, sondern auch Arbeit in den Autofabriken fanden. Das ermöglichte ihnen über die Jahre, zum Mittelstand aufzusteigen - ist nun aber auch ihr Verhängnis. Jeder vierte Arbeiter in den US-Autofabriken ist schwarzer Hautfarbe und entsprechend viele verlieren jetzt mit dem Zusammenbruch dieser Industrie ihre Existenzgrundlage. Das ist endgültig, denn selbst, wenn die Aktienkurse wieder steigen, und die Wirtschaft sich wieder erholt: diese Art von Jobs kommt nie wieder zurück."

Keine Chance ohne Bildung: Barack Obama setzt auf Ausbildung und Umschulungen, um das Arbeitsmarktdebakel in den Griff zu kriegen. Die schwarze Bevölkerungsschicht kann seit 1965 sogenannte "Affirmative Action” beanspruchen: Im Rahmen dieses Programms werden schwarze US-Bürger bevorzugt gefördert – im Studium oder Beruf.

Obama hat selber mehrfach verlauten lassen, dass er es selber ohne diesen Fördermechanismus nie so weit gebracht hätte. Allerdings glaubt der neue Mann in Washington auch, dass es nun an der Zeit ist, dass man die Vergangenheit ruhen lässt, sprich: über die Hautfarbe hinwegblickt und künftig eher diejenigen fördert, die es finanziell nötig haben, egal ob schwarz oder weiß. Obama propagiert ein post-rassitisches Zeitalter für Amerika: die Kulturschaffenden sind da keine Ausnahme.

Es war ein bewegender Moment bei der Amtseinführung des Präsidenten: Obama ließ seine Jugendfreundin Elizabeth Alexander vor Milliarden von Menschen ein Gedicht rezitieren. Es war ein Zeichen, dass die Literatur nach Jahren der Marginalisierung unter George Bush wieder einen Platz im Weißen Haus hat. Und mehr noch: ein Aufruf, an den Schmerz der schwarzen Unterdrückung zu erinnern und ihn gleichzeitig zu überwinden.

Improvisationsnachmittag mit Suzan-Lori Parks. Die quirlige Experimental-Dramatikerin hat sich dem - wie sie es nennt - "verinnerlichten Rassismus" verschrieben. Für sie liegt die wirtschaftliche und soziale Diskrepanz zwischen dem schwarzen und weißen Amerika vor allem am psychologischen Trauma der Rassentrennung. Das sei immer noch so präsent, dass das schwarze Amerika sich selber im Wege stehe. Parks Antwort auf die Problematik: Sie hat ein ganzes Jahr lang, jeden Tag ein kleines Theaterstück geschrieben, um zu zeigen, das alles möglich ist.

"Wir müssen lernen, an unsere eigenen Fähigkeiten zu glauben! Das ist auch die Essenz des Schreibens. Es darf erst einmal nur um diesen befreienden Schaffensprozess gehen, darum, dass du deiner Kreativität freien Lauf lässt! Erst danach fängst du an, mit dir zu hadern. Wenn ich meine Texte überarbeite, denke ich oft an Wagners Walkürenritt. Die Schwerter, die wir ziehen müssen, sind kein rassistischen, sondern, selbstkritische!"

Andere Erfolgsautoren beschäftigen sich mit der Frage, was es bedeutet, ein Schwarzer im heutigen Amerika zu sein. Daniel Beaty ist Autor und Hauptdarsteller des Kritikererfolges "Emergence-See!”. Im Mittelpunkt der Ein-Mann-Show stehen die Reaktionen von vier Dutzend afroamerikanischer Charaktere, als plötzlich ein versunkenes Sklavenschiff im New Yorker Hafen auftaucht.

"Egal, ob du nun reich bist oder in den Ghettos lebst: Als Schwarzer lebst du mit dem Schicksal deiner Vorfahren. Aber wir identifizieren uns nicht nur dadurch. Jeder hat seine eigene Geschichte. Ich selber bin ohne Vater aufgewachsen, mein Bruder ist Crack-süchtig, und doch habe ich diese liebevolle Mutter und einen Uniabschluss. Wir alle verinnerlichen diesen Konflikt zwischen unserer Vergangenheit und dem, was wir heute sind!"

Beaty ist 1,80 Meter groß und sehr breitschultrig. Doch egal, ob er auf der Bühne einen winzigen Greis oder eine zierliche Dame mimt: Man nimmt es ihm ab. Und vielleicht liegt gerade darin der Reiz des zeitgenössischen, afroamerikanischen Theaters: Dass es einer zu lange als einheitlich betrachteten Gruppe die ihr gebührende Vielfalt zuspricht.