"Nie wieder Gulag" hört man bis heute kaum

Rezensiert von Ulrike Ackermann |
Die Autorin beschreibt die nationale Erinnerungskultur der Deutschen anhand einiger Fallbeispiele: die Debatten über die Wehrmachtsausstellung oder über die Vertreibung der Deutschen. In allen Fällen ist ihr Bezugspunkt der Holocaust. Worüber man bei Aleida Assmann leider nichts liest: die immer noch herrschende Asymmetrie in der Erinnerung an den braunen und den roten Terror und das Tabu, Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus vergleichend in den Blick zu nehmen.
Aleida Assmann hat die Installation des Künstlers Horst Hoheisel programmatisch als Titelbild für ihr Buch über Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gewählt: er hatte 1997, ein Jahr nach Einführung des Auschwitz-Gedenktags, eine Lichtprojektion geschaffen, die für einige Augenblicke das Auschwitz-Tor mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei" auf dem Brandenburger Tor aufleuchten und mit ihm eins werden ließ.

Für Assmann ist dieses Bild Leitmotiv ihres Buchs: das triumphalistische Symbol der Wiedervereinigung in der Mitte Berlins und Auschwitz als traumatischer Tiefpunkt. Im ersten Teil ihres Buchs über Den langen Schatten der Vergangenheit führt uns die in Konstanz lehrende Literaturwissenschaftlerin pädagogisch und didaktisch in die theoretischen Grundlagen der Gedächtnistheorie und ihre individuellen, sozialen und kulturellen Träger ein.

Inzwischen ist die Vorstellung vom "kollektiven Gedächtnis", wie sie der 1945 in Buchenwald gestorbene französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 20er Jahren entwickelte, ausdifferenzierter: Heute spricht man vom sozialen, kommunikativen, kulturellen, politischen oder neuronalen Gedächtnis. Doch Assmans Schwerpunkt ist die nationale Erinnerungskultur und Geschichtspolitik der Deutschen, die sie anhand einiger Fallbeispiele beschreibt: die Debatten über die Wehrmachtsausstellung, über Jörg Friedrichs Buch Der Brand zum Bombenkrieg oder über die Vertreibung der Deutschen. In allen Fällen ist ihr Bezugspunkt der Holocaust, weswegen ihr auch das zentrale Mahnmal in Berlin so notwendig erscheint:

"Wenn heute ein auf Repräsentationen gestütztes mediales Holocaustgedächtnis entstanden ist, das wir als selbstverständlichen Teil unserer sozialen und kulturellen Umwelt erleben, dann liegt das an den vielen Formen der Institutionalisierung, die diese Erinnerung inzwischen festigt … Die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust ist so dauerhaft, wie die Strukturen dieser Institutionen stabil sind. Das riesige Stelenfeld von Peter Eisenman in der Mitte Berlins ist nicht nur unübersehbar, es konnotiert auch Dauer, denn es ist nicht so leicht wieder rückgängig zu machen."

Es wundert kaum, wenn Aleida Assmann in ihren abschließenden Überlegungen den Holocaust als "eindeutige gemeinsame Referenz für das neue Europa" bezeichnet. Jede kulturelle Identitätskonstruktion Europas habe von diesem Gedächnismittelpunkt auszugehen, betont sie im Rekurs auf Dan Diner. Für den Westen ist der Holocaust spätestens seit der Stockholmer Konferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs im Januar 2000 in den Rang eines negativen Gründungsmythos Europas erhoben worden. Aleida Assmann fürchtet jedoch, dass dieser Grundkonsens in Ostmitteleuropa nicht geteilt wird. Aber dort sieht man in dem Primat der Erinnerung an den Nationalsozialismus eine Relativierung der Verbrechen des Kommunismus.

Westeuropa bezieht immer noch sein Selbstverständnis aus dem negativen Bezug auf Hitler und Osteuropa, darüber hinaus aus seinem negativen Bezug auf Stalin. Dieser Logik entspricht die immer noch herrschende Asymmetrie in der Erinnerung an den braunen und den roten Terror und das Tabu, Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus vergleichend in den Blick zu nehmen. Neben dem beschwörenden Satz "Nie wieder Auschwitz" hört man bis heute kein ebenso emphatisches "Nie wieder Gulag", denn entlang der Erinnerung an Holocaust und Gulag ist Europa immer noch gespalten. Darüber liest man bei Aleida Assmann leider nichts. Stattdessen werden von ihr die Ostmitteleuropäer ob ihrer Rückständigkeit getadelt:

"Während im westlichen Europa ein Brüchigwerden der nationalen Mythen zu beobachten ist, ist das in den östlichen Ländern keineswegs so selbstverständlich der Fall ... Hier ist im Gegenteil festzustellen, dass sich nationale Mythen mit erheblicher politischer Stoßkraft neu etablieren und Geltung verschaffen können. Hier macht das Geschichtsbewußtsein immer häufiger Halt an den Grenzen der Nation, die damit die Selbstbezüglichkeit nationaler Mythen aus der Phase vor den Weltkriegen wieder aufnimmt und weiterführt ... Wenn sich demgegenüber im westlichen Teil der EU eine Erosion der nationalen Mythen abzeichnet, so deshalb, weil dort der Blick über die nationalen Grenzen immer mehr zum europäischen Habitus geworden ist."

Den von Assmann gelobten ominösen ‚europäischen Habitus‘ verdanken die westlichen Staaten der EU allerdings schlichtweg dem Glück, nach 1945 auf der "guten" Seite des Eisernen Vorhangs gelandet zu sein. Während hier die Demokratie gedeihen konnte, herrschte auf der anderen Seite die kommunistische Diktatur! Während sich die Westeuropäer in unterschiedlichen Sequenzen mehr oder weniger erfolgreich mit ihrer Vergangenheit, ihren nationalen Mythen, Täter- und Opferzuschreibungen öffentlich auseinandersetzen konnten, war dies bis 1989 jenseits des Eisernen Vorhangs nur im Untergrund möglich. Gerade auf diesen Umstand hat der ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy 2004 in seiner Friedenspreisrede in der Paulskirche hingewiesen:

"Was vereinigt sein sollte, ist auseinander gerissen in Selbsthass und Selbstmitleid ... Neben der Unwahrheit des ausschließlichen Täters existiert die Unwahrheit des ausschließlichen Opfers und hinter beiden verbirgt sich das unausgesprochene ‚Wir‘ des nationalen Gedächtnisses ... Ein geteiltes europäisches Wissen über uns selbst als Täter und Opfer ist noch nicht in Aussicht."

Dieser realistisch bis pessimistischen ostmitteleuropäischen Sichtweise begegnet Aleida Assmann hoffnungsfroh mit der Vision eines Gedächtnisrahmens jenseits der Nationen.

"Die Gefahr eines Partikularismus und gar eines Bürgerkriegs der Erinnerungen wird in dem Maße gebannt, in dem es gelingt, Europa als einen transnationalen Gedächtnisrahmen zu etablieren, der auf einem gemeinsamen historischen Bewusstsein beruht ... In einem solchen Rahmen könnten die Europäer lernen, sich ihren Erinnerungen zu stellen und die der anderen mit Empathie anzuhören."

Einspruch, Euer Ehren! Denn dies kann nur gelingen, wenn nicht nur das Jahr 1945 und der Sieg über den Nationalsozialismus als historische Zäsur in der europäischen Geschichte gesehen wird, sondern ebenso das Jahr 1989 und der Sieg über den Kommunismus.

Mit dem Beitritt der Ostmitteleuropäer und der baltischen Länder ist Bewegung und produktiver Streit in die bis dato westlich dominierte europäische Erinnerungskultur gekommen. Ein europäisches Gedächtnis kann sich indes nur aus vielfältigen nationalen und regionalen Gedächtnissen zusammensetzen, die kollidieren und in Konkurrenz um die Deutungshoheit treten, denn die Nationalstaaten sind bis heute Grundlage der mentalen Orientierung.

Buchenwald, in dem heute der Opfer des Nationalsozialismus ebenso gedacht wird wie jenen des Kommunismus, ist deshalb einer europäischen Erinnerungskultur wesentlich förderlicher. Denn im ehemaligen KZ auf dem Ettersberg, in Fußnähe von Weimar, liegen die Toten beider totalitärer Diktaturen in Massengräbern verscharrt.


Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik
C.H. Beck Verlag, München 2006
Aleida Assmann: "Der lange Schatten der Vergangenheit"
Aleida Assmann: "Der lange Schatten der Vergangenheit"© C.H. Beck Verlag