Niedergang der alten Gesellschaft Portugals
Schauplatz des Romans "Der Archipel der Schlaflosigkeit" ist ein Landgut. Drei Generationen leben hier unter dem tyrannischen Regime des Großvaters. Das düstere Anwesen wird bei António Lobo Antunes zur Metapher für den Untergang des autoritären portugiesischen Staates.
Der Roman ist ein typisches Spätwerk, insofern er die Themen und Motive des Lebenswerks von Lobo Antunes noch einmal bündelt und die unverwechselbare Erzählform, die er für sein Romanwerk entwickelt und die ihn berühmt gemacht hat, ein weiteres Mal abwandelt. Treuen Lesern dieses schwierigen und melancholischen Autors werden daher das Milieu, das Personal und die Grundstimmung dieses jüngsten Romans, sein polyfones Stimmengewirr, seine Leitmotiv-Technik und sein Spiel mit Refrains und Requisiten recht vertraut vorkommen.
Schauplatz ist ein Landgut nahe der Tejo-Mündung, in dem drei Generationen zusammenleben. Als Familie kann man dieses Konglomerat unglücklicher Menschen aber schwerlich bezeichnen: Alle ducken sich unter dem Regime des Patriarchen, des tyrannischen Großvaters, der das Romanpersonal beherrscht – grob, grausam, rücksichtslos und unersättlich. Er hat das Landgut gegründet und hochgebracht, gemeinsam mit seinem Verwalter, der ihm an Skrupellosigkeit nicht nachsteht. Doch in welcher Beziehung die Mitbewohner des Gutes, die schwachen Nachkommen, zu dem alten Despoten stehen, dessen kann er sich keineswegs sicher sein.
Der Wortschatz des Großvaters beschränkt sich auf ein geknurrtes "Komm her", mit dem er eine Küchenmagd zum Beischlaf kommandiert, und auf ein verächtlich geschnaubtes "Idiot", das dem Sohn und dem jüngeren Enkelsohn gleichermaßen gilt. Die Magd gehorcht übrigens jedem "Komm her"-Kommando und schläft ergeben nicht nur mit dem Großvater, sondern auch mit dessen Sohn, dessen Verwalter und dem Gehilfen des Verwalters. Ist vielleicht sein Verwalter der Vater seines Sohnes? Und ist er selbst oder der Gehilfe des Verwalters der Vater seines Enkels?
"Der Archipel der Schlaflosigkeit" wäre nur ein schwächliches Recycling der Lebensthemen des Autors, hätte Lobo Antunes nicht ein interessantes Irritationsmoment in den Roman eingebaut: Das Phantasmagorische durchwirkt die Erzählung in ungewissem Ausmaß, sodass der Leser nie sicher sein kann, wo der Verismus aufhört und die Fantasien und Tagträume anfangen. Im Grunde ist das düstere Landgut selbst eine Phantasmagorie, seine Bewohner sind herbeihalluziniert – sie sind vielleicht nur Familienporträts, die an den Wänden der dämmrigen Villa miteinander wispern, Intrigen spinnen und grausige Mordfantasien ausbrüten. Besonders gespenstisch sind die Frauengestalten: Sie existieren nicht, sind nur imaginierte Wunsch-Geliebte und Todesbotin.
So erzählt Lobo Antunes hier abermals den Niedergang der alten Gesellschaft Portugals im Bild des Zerfalls einer Familie. Im zugrunde gerichteten, altmodischen Landgut spiegelt sich der Untergang des autoritären portugiesischen Staates. Lobo Antunes zeichnet auch hier wieder eine Welt, in der die verkommenen alten Substanzen des Landes kraftlos fortwesen, gänzlich unberührt von EU-Beitritt, Massentourismus und Modernisierungsfieber, die Portugal in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten gründlich durchgerüttelt haben. In der Romanwelt dieses Autors jedoch ist die Zeit stehen geblieben.
Besprochen von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: Der Archipel der Schlaflosigkeit.
Roman, aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Verlag, München 2012. 320 Seiten, 23,70 Euro
Schauplatz ist ein Landgut nahe der Tejo-Mündung, in dem drei Generationen zusammenleben. Als Familie kann man dieses Konglomerat unglücklicher Menschen aber schwerlich bezeichnen: Alle ducken sich unter dem Regime des Patriarchen, des tyrannischen Großvaters, der das Romanpersonal beherrscht – grob, grausam, rücksichtslos und unersättlich. Er hat das Landgut gegründet und hochgebracht, gemeinsam mit seinem Verwalter, der ihm an Skrupellosigkeit nicht nachsteht. Doch in welcher Beziehung die Mitbewohner des Gutes, die schwachen Nachkommen, zu dem alten Despoten stehen, dessen kann er sich keineswegs sicher sein.
Der Wortschatz des Großvaters beschränkt sich auf ein geknurrtes "Komm her", mit dem er eine Küchenmagd zum Beischlaf kommandiert, und auf ein verächtlich geschnaubtes "Idiot", das dem Sohn und dem jüngeren Enkelsohn gleichermaßen gilt. Die Magd gehorcht übrigens jedem "Komm her"-Kommando und schläft ergeben nicht nur mit dem Großvater, sondern auch mit dessen Sohn, dessen Verwalter und dem Gehilfen des Verwalters. Ist vielleicht sein Verwalter der Vater seines Sohnes? Und ist er selbst oder der Gehilfe des Verwalters der Vater seines Enkels?
"Der Archipel der Schlaflosigkeit" wäre nur ein schwächliches Recycling der Lebensthemen des Autors, hätte Lobo Antunes nicht ein interessantes Irritationsmoment in den Roman eingebaut: Das Phantasmagorische durchwirkt die Erzählung in ungewissem Ausmaß, sodass der Leser nie sicher sein kann, wo der Verismus aufhört und die Fantasien und Tagträume anfangen. Im Grunde ist das düstere Landgut selbst eine Phantasmagorie, seine Bewohner sind herbeihalluziniert – sie sind vielleicht nur Familienporträts, die an den Wänden der dämmrigen Villa miteinander wispern, Intrigen spinnen und grausige Mordfantasien ausbrüten. Besonders gespenstisch sind die Frauengestalten: Sie existieren nicht, sind nur imaginierte Wunsch-Geliebte und Todesbotin.
So erzählt Lobo Antunes hier abermals den Niedergang der alten Gesellschaft Portugals im Bild des Zerfalls einer Familie. Im zugrunde gerichteten, altmodischen Landgut spiegelt sich der Untergang des autoritären portugiesischen Staates. Lobo Antunes zeichnet auch hier wieder eine Welt, in der die verkommenen alten Substanzen des Landes kraftlos fortwesen, gänzlich unberührt von EU-Beitritt, Massentourismus und Modernisierungsfieber, die Portugal in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten gründlich durchgerüttelt haben. In der Romanwelt dieses Autors jedoch ist die Zeit stehen geblieben.
Besprochen von Sigrid Löffler
António Lobo Antunes: Der Archipel der Schlaflosigkeit.
Roman, aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Verlag, München 2012. 320 Seiten, 23,70 Euro