Niedrige Wahlbeteiligung

Demokratie mit Schwindsucht

Eine Wählerin steckt ihre Stimme zur Bürgerschaftswahl in Bremen in die Wahlurne.
Die sogenannte "Partei der Nichtwähler" macht zwischen einem Drittel und - zuletzt in Sachsen und Bremen - der Hälfte der Stimmberechtigten aus. © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Von Peter Lange |
Welchen Wert hat eine Volksvertretung, in der nur das halbe Volk vertreten ist? Die sinkende Wahlbeteiligung, zuletzt in Bremen zu erleben, bekommt pathologische Züge - und beschädigt das ganze politische System, kommentiert Peter Lange.
"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Das schrieb vor fast 50 Jahren der Staatsrechtler und spätere Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde. In Anlehnung an das sogenannte "Böckenförde-Diktum" ließe sich auch formulieren: Der demokratisch verfasste Staat lebt von einer Voraussetzung, die er nicht selbst garantieren kann. Dass nämlich das Volk bereit ist, seinen politischen Willen mittels regelmäßiger allgemeiner und freier Wahlen zum Ausdruck zu bringen. Eine daraus entstehende repräsentative Volksvertretung setzt diesen politischen Willen um, und zwar durch eine Regierung, die aus ihrer Mitte hervorgeht.
Aber was ist, wenn diese wesentliche Voraussetzung nicht mehr oder nicht mehr ausreichend gegeben ist? Wenn immer mehr Bürger nicht zur Wahl gehen? Der Anteil der Nichtwähler nimmt mit ganz wenigen Ausnahmen seit Jahren und auf allen Ebenen kontinuierlich zu. Die sogenannte "Partei der Nichtwähler" macht zwischen einem Drittel und – zuletzt in Sachsen und Bremen – der Hälfte der Stimmberechtigten aus. Und da wird es nun kritisch.
Ein antiparlamentarischer Affekt aus der Mitte der Gesellschaft
Welchen Wert und welche Legitimation hat eine Volksvertretung, in der gerade mal das halbe Volk vertreten ist, und das dann auch nicht mehr repräsentativ? Die Politikwissenschaftler haben je nach Sichtweise drei bis sieben unterschiedliche Typen von Nichtwählern identifiziert. Klar scheint zu sein, und das hat sich besonders in Bremen gezeigt, dass politische Apathie mit sozialer Deklassierung einhergeht. Es gibt aber inzwischen auch einen antiparlamentarischen Affekt, der aus der Mitte der Gesellschaft und aus den Eliten kommt. Der zeigt sich in einem öffentlichen Diskurs, in dem Politiker und Parteien per se verachtet werden und dem Parlament als Institution nicht mehr viel zugetraut wird.
Nun steht der real existierende Politikbetrieb nicht außerhalb der Kritik. Besonders in Zeiten großer Koalitionen mit überreichlichen Mehrheiten ist der einzelne Abgeordnete in seiner Rolle abgewertet. In der Opposition ist er machtlos, im Regierungslager ist er zum Öffentlichkeitsarbeiter degradiert. Entsprechend blutleer und langweilig sind die Parlamentsdebatten. Und dass der einzelne Volksvertreter häufig inhaltlich überfordert ist, dass er der Maschinerie einer riesigen Ministerialbürokratie unterlegen ist, das ist alles keine üble Nachrede.
Die Parteien müssen ängstliche Denkverbote aufgeben
Dass die Politik mit kleiner Münze agiert, aber bei den großen, naturgewaltig daher kommenden Entwicklungen der Gegenwart nur noch reagieren kann – auch das trifft zu. Dass dieses Land geradezu lechzt nach einer politischen Führung, die Ausstrahlung hat und Charisma, die etwas will, die eine Idee von der Zukunft hat, Glaubwürdigkeit ausstrahlt und den Leuten auch etwas zumuten kann – das wissen wir doch seit den Auftritten von Barak Obama.
Im Moment erleben wir eine Spirale, die mit immer niedrigeren Wahlbeteiligungen die Defizite verstärkt. Kleine radikale Gruppen und Protestparteien geraten in die Parlamente, weil das Quorum für die Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde immer niedriger wird. Handlungsfähige Mehrheiten kommen dadurch immer schwerer und immer öfter nur noch als große Koalitionen zustande. Eine kraftvolle Opposition als Alternative zur Regierung kann sich nicht mehr formieren.
Diese Entwicklung wird der Parlamentarismus aus sich heraus nicht allein umdrehen können. Er wird nur dann wieder an Gestaltungskraft und Attraktivität gewinnen, wenn zwei miteinander verknüpfte Bedingungen erfüllt sind: Die Parteien dürfen sich nicht mehr in der politischen Mitte bis zur Unkenntlichkeit neutralisieren. Sie müssen alle ängstlichen Denkverbote aufgeben, klare politische Alternativen formulieren und den Wählern auch unbequeme Entscheidungen abverlangen. Gleichzeitig müssen die Nichtwähler ihre politische Apathie überwinden. Eine Demokratie, in der die Wahlen ohne die Mehrheit der Wähler stattfinden, wird auf Dauer nicht funktionieren.
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