Niedrige Wahlbeteiligung in Hamburg

"Kein Rückgang des politischen Interesses"

Olaf Scholz (SPD), gibt am 15.02.2015 in einem Wahllokal in Hamburg seine Stimme für die Bürgerschaftswahl ab.
Olaf Scholz, alter und neuer Bürgermeister Hamburgs, hat selbstverständlich eine Wahlurne aufgesucht - viele andere Bürger nicht. © picture alliance / dpa / Christian Charisius
Tobias Rothmund im Gespräch mit Nana Brink |
Gerade einmal 55 Prozent der Bürger sind in Hamburg zur Wahl gegangen. Sind die Menschen politikmüde? Der Politikwissenschaftler Tobias Rothmund sagt nein - sie seien eher partei- und politikerverdrossen.
Der Politikwissenschaftler Tobias Rothmund führt die niedrige Wahlbeteiligung in Hamburg nicht auf eine Politikmüdigkeit in der Bevölkerung zurück. Im Deutschlandradio Kultur sagte er, nicht zur Wahlurne zu gehen sei ein Trend, den es schon seit Jahrzehnten und auch nicht nur in Deutschland gebe. Auch die Bereitschaft, sich in Parteien zu engagieren, sei zurückgegangen. Das politische Interesse selbst habe aber nicht abgenommen, betonte er.
Rund 70 Prozent der Bürger interessieren sich für Politik
So bezeichneten sich rund 30 Prozent der Bürger als stark politisch interessiert, 40 Prozent seien "mittelstark" und der Rest "wenig oder überhaupt nicht" interessiert. "Dieses Verhältnis ist seit ca. zwanzig Jahren relativ stabil, das heißt, es spricht dagegen, dass wir es mit einer allgemeinen Politikmüdigkeit zu tun haben."
Es gebe eher eine "Partei- und Politikerverdrossenheit", sagte Rothmund. Menschen verlagerten deswegen ihr politisches Engagement offenbar in andere Bereiche: "Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Bürgerinitiativen gesehen, die Teilnahme von Menschen an Demonstrationen, wir sehen auch ein relativ neues Phänomen, den politisch motivierten Konsum." Rothmund lehrt Politische Psychologie am Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik der Universität Koblenz-Landau.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Glücklich war er, aber ein bisschen ruppig kommt er schon daher, der alte und neue Erste Bürgermeister von Hamburg. Olaf Scholz ist keiner, der auf Schnörkel setzt, aber die Menschen scheinen das zu mögen, denn mit 45,7 Prozent hat die SPD zwar die Alleinregierung verpasst, aber in der Parteizentrale in Berlin ist man natürlich happy.
Aber für die SPD müsste diese Zahl auch ein Wermutstropfen sein: Die Wahlbeteiligung ist nämlich weiter gesunken, nur 54 Prozent aller Hamburger sind zur Wahl gegangen – 2008 waren es noch 63. War das schöne Wetter ein Hindernis? Dabei hat man auch das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt, um mehr junge Wähler einzubinden, aber es hat wohl alles nicht gezündet. Auch nicht der Wahlkampf, der ja diesmal wirklich lebhaft war – mit einer kämpferischen FDP-Spitzenkandidatin, einer kämpferischen Linkspartei und einer AfD, die, wenn auch knapp, zum ersten Mal in einem westdeutschen Parlament ist. Spezialist in Sachen Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit ist Tobias Rothmund, Professor für Politische Psychologie an der Uni Koblenz-Landau. Guten Morgen, Herr Rothmund!
Tobias Rothmund: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Was, glauben Sie, hat 54 Prozent aller wahlberechtigten Menschen gestern davon abgehalten, ins Wahllokal zu gehen?
Rothmund: Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Allgemein sehen wir natürlich nicht nur in Hamburg, sondern auch bei anderen Landtagswahlen und auch auf Bundesebene einen Rückgang der Wahlbeteiligung. Vielleicht zunächst, dieses Problem ist aber jetzt kein speziell Hamburger Problem und auch kein deutsches Problem. Wenn man ins europäische Ausland oder in die USA blickt, dann findet man zum Teil noch deutlich niedrigere Wahlbeteiligungen.
Brink: Aber für Deutsche ist es doch ganz ungewöhnlich, ich will mal das Verhältnis aufmachen: 54 gehen zur Wahl, 46 nicht – und das in Hamburg.
Rothmund: Ja, dieser Trend, dass die Wahlbeteiligung rückläufig ist, den sehen wir schon seit nicht nur mehreren Jahren, sondern Jahrzehnten. Das heißt, es handelt sich hier offenbar nicht um eine kurzfristige Wahlmüdigkeit, sondern einen durchaus längerfristigen, jahrzehntelang anhaltenden Trend.
Brink: Nun gucken wir uns das Wahlergebnis an. Also auf der einen Seite der sensationelle Sieg, vielleicht nicht ganz so sensationell, aber man kann ja davon ausgehen, bei der SPD war es eine Personenwahl mit Olaf Scholz, viele vergleichen ihn schon in seiner Art mit Angela Merkel, also der Merkel-Effekt. In Zeiten von Krisen setzen die Menschen auf Schnörkellosigkeit und Pragmatismus?
Rothmund: Ja, das ist interessant. Wir haben in Landau im Rahmen des Wahlkampfs 2013 Bundestagswahlkampf-Studien zum Vertrauen in Politiker durchgeführt, und wir finden, dass es drei große Faktoren gibt, auf die es scheinbar auch bei Personenwahlen speziell ankommt: zum einen die wahrgenommene Kompetenz des Politikers, die wahrgenommene emotionale Wärme oder das Wohlwollen, das man als Bürger von einem Politiker wahrnimmt, und drittens die moralische Integrität. Diese drei Aspekte scheinen besonders wichtig zu sein, und offenbar hat Olaf Scholz es geschafft, mindestens auf einem dieser drei Faktoren entscheidend zu punkten.
Brink: Also ist es doch eine Personenwahl, wenn wir jetzt mal von der SPD weggehen zur FDP, die es ja geschafft hat, und zwar mit Spitzenkandidatin Katja Suding, da ist ja schon viel spekuliert worden, drei Engel für Lindner, mit ihren Kolleginnen ist sie im Hochglanzmagazin "Gala" abgebildet worden – hat das gezündet, so was?
Rothmund: Ja, also unsere Daten zeigen, dass das durchaus einen Effekt hat, wobei wenn wir diesen Personeneffekt neben dem Parteieneffekt sehen, dann fällt der Personeneffekt allgemein deutlich niedriger aus. Der Großteil der Menschen wählt Parteien oder ist durch eine emotionale oder auch langfristige Bindung an eine Partei motiviert, diese Partei zu wählen. Aber wir finden auch, dass gerade solche Personenfaktoren das i-Tüpfelchen darstellen können bei einer Wahl und dann in die eine oder in die andere Richtung ausschlagen können.
Brink: Also immer mehr in Richtung amerikanischer Wahlkampf, der ja ein extrem personalisierter ist. Ich will noch mal zurückkommen auf Ihr Argument, weil Sie sagen, wir haben schon seit Jahrzehnten einen Niedergang von Wahlbeteiligung zu beobachten. Ist das auch ein Synonym für Sie für politische Gleichgültigkeit, oder ist unsere Messlatte einfach verrutscht?
Rothmund: Also das ist durchaus interessant, weil wir finden einerseits einen Rückgang in der Wahlbeteiligung, wir finden auch einen Rückgang in der institutionalisierten politischen Beteiligung, beispielsweise einen Rückgang in der Parteimitgliedschaft von Bürgerinnen und Bürgern, aber wir finden keinen Rückgang im politischen Interesse. Es gibt seit ungefähr 20 Jahren ein relativ stabiles Verhältnis von 30 Prozent, die sich als sehr stark politisch interessiert beschreiben, 40 Prozent, die sich so als mittelstark politisch interessiert beschreiben, und 30 Prozent, die sich als wenig oder überhaupt nicht politisch interessiert beschreiben.
Dieses Verhältnis ist seit circa 20 Jahren relativ stabil. Das heißt, es spricht dagegen, dass wir es mit so einer allgemeinen Politikmüdigkeit zu tun haben. Was wir eher sehen, ist, dass es eine Art Partei- und Politikerverdrossenheit gibt, wie gesagt, einen kontinuierlichen Rückgang in der Parteimitgliedschaft, und es scheint so, als ob Menschen ihr politisches Engagement in andere Bereiche verlagern. Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Bürgerinitiativen gesehen, die Teilnahme von Menschen an Demonstrationen, wir sehen auch ein relativ neues Phänomen, den sogenannten politisch motivierten Konsum – Menschen versuchen, durch ihr Kaufverhalten Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Diese neuen Formen der politischen Beteiligung scheinen zunehmend Ausdruck von politischem Interesse zu sein, weniger die traditionellen, institutionalisierten Formen der politischen Beteiligung.
Brink: Das sieht man zum Beispiel bei der Beteiligung Stuttgart 21 auch oder Pegida in Dresden. Sie sind Professor für Politische Psychologische – was würden Sie denn dann einer angeschlagenen Partei raten?
Rothmund: Einer angeschlagenen Partei oder einen angeschlagenen Demokratie?
Brink: Einer angeschlagenen Partei, weil wir gerade über die Parteien reden, wo viele Menschen so verdrossen sind.
Rothmund: Ja, also wie gesagt, wir finden durchaus, dass das Vertrauen in Politiker einen entscheidenden Beitrag oder auch einen wichtigen Baustein darstellt, wieso Menschen a) zur Wahl gehen, also ob sie allgemein Politikern vertrauen, aber auch, welche Partei sie wählen. Und in dem Zusammenhang würde ich einfach noch mal diese drei Aspekte betonen wollen. Das ist zum einen die Kompetenz von Politikern, die wahrgenommene Wärme, das Wohlwollen, das Gefühl, dass Bürger denken, die Politiker kümmern sich um ihre Belange, und der dritte Punkt, die moralische Integrität, also die Wahrnehmung, dass Politiker die Werte und Normen der Gesellschaft achten und sich für Gerechtigkeit einsetzen, das sind wichtige Aspekte für Bürger bei der Wahl von Politikern.
Brink: Der Professor für Politische Psychologie Tobias Rothmund. Danke für das Gespräch, und wir haben die Hamburg-Wahl und die niedrige Wahlbeteiligung thematisiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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