Arbeit schützt vor Armut nicht
In den Koalitionsverhandlungen wird ein bundesweit flächendeckender Mindestlohn debattiert. Stundenlöhne von vier oder fünf Euro reichen nicht zum Leben. Betroffene müssen zum Amt, um „aufzustocken". Der Staat subventioniert so Arbeitgeber, die keine anständigen Löhne bezahlen.
Kurze Haare, grau-blauer Ringelpulli, MarcoMeyer, Ende 40, sitzt in einem Büro in der Potsdamer Innenstadt und gießt Wasser in ein Glas. Lange hat er sich damit gequält, ob er seine Situation öffentlich schildern soll. Denn die Gefahr besteht, dass er seinen Job verliert, wenn öffentlich wird, unter welchen Bedingungen er arbeitet. Wir einigen uns darauf, seinen wirklichen Namen nicht zu nennen, auch nicht den Namen des Vereins, für den er momentan arbeitet.
"Mein monatliches Einkommen liegt bei 868,33 Euro."
Würde er gar nicht arbeiten, bekäme er nur 160 Euro weniger. So arbeitet er 30 Stunden in der Woche, Stundenlohn 6,24 Euro, hat er ausgerechnet. Aber Marco schimpft nicht auf seinen Arbeitgeber, der als kleiner Verein im sozialen Bereich tätig ist. Die Verantwortung sieht er beim Bund – denn Marco ist ein sogenannter "Bürgerarbeiter": Statt direkt vom Staat Leistungen zu beziehen, arbeitet er in einer gemeinnützigen Einrichtung, die durch das Programm Bürgerarbeit unterstützt wird. Allerdings ist die finanzielle Ausstattung so schlecht, dass Marco von seinem Lohn nicht leben kann. So legt das Jobcenter noch was drauf: Marco Meyer muss genauso "aufstocken" wie die Billiglohnarbeiter aus der Hotellerie, der Fleischindustrie, dem Baugewerbe. Auf dem ersten, dem 'richtigen' Arbeitsmarkt findet Meyer nichts, was ihn ernähren könnte.
"Ich hab' Kulturarbeit/Kulturmanagement an der Fachhochschule in Potsdam studiert. Dieses Studium soll dazu befähigen, dass man in verschiedensten Bereichen der Kultur Sozialarbeit, aber eben auch in freier Arbeit arbeiten kann. Handicap ist oftmals, dass nicht immer bei freiwilligen Leistungen ein Umsatz da ist."
Auf gut Deutsch: Die Arbeit ist gern gesehen, aber schlecht bis gar nicht bezahlt.
"Ich vergleich‘ das manchmal mit Schauspielern, die praktisch mal 'ne Zeit Drehtage haben und dann müssen sie sich wieder beim Jobcenter melden und sich wieder arbeitslos melden, damit sie überhaupt ihre Existenz sichern können."
Ernüchternde Gespräche beim Arbeitsamt
Jetzt organisiert Bürgerarbeiter Marco Meyer die Büroarbeit für einen sozialen Verein, er kümmert sich um die Außendarstellung, erledigt Archivarbeit. Alle zwei Monate muss er als Aufstocker zum Jobcenter.
"Meistens sind die Gespräche eher ernüchternd, weil eine Agentur für Arbeit keine Jobs vermittelt. Das wäre ja toll. Wenn die reingucken in den Computer, sind die genauso schlau wie ich, dass da am ersten Arbeitsmarkt nicht gerade rosige Zeiten angebrochen sind, sondern im Gegenteil es ist in dem Segment Kulturarbeit/Kulturmanagement, wo ich ausgebildet bin, nichts zu finden."
Das Jobcenter ist ein braun-geklinkerter Nachwende-Zweckbau im Süden von Potsdam. Zwei Leute in Uniform vom Wachschutz im Erdgeschoss gleich hinter der automatischen Glastür passen auf, dass hier keiner ausrastet. Aber die Stimmung ist heute friedlich, geordnet warten die Kunden, bis sie dran sind. Marco Meyer muss ins Erdgeschoss, der Reporter bekommt einen Termin im zweiten Stock.
Frank Thomann hat dort sein Büro mit Vorzimmer. Der Mann, Ende 40 mit ovaler Brille, ist Geschäftsführer des Jobcenters in der Landeshauptstadt. Aufstocker wie Marco Meyer machen zwar nur etwa drei Prozent der Hilfe-Bezieher aus, sind aber keine Einzelfälle. Die Debatte über einen gesetzlich festgelegten, bundesweit einheitlichen Mindestlohn verfolgt Thomann mit Interesse.
"Als wir hier angefangen haben war die Arbeitslosigkeit bei rund fünf Millionen – da war ich der Auffassung, dass ein Mindestlohn sicher konterkarierend ist, wenn man nicht genug Arbeit für Arbeitssuchende vorhalten kann. Heute, wo wir in deutlich besseren konjunkturellen Zeiten leben, da sehe ich eigentlich schon, dass es für den Arbeitsmarkt hilfreich wäre, wenn wir eine Begrenzung nach unten sehen würden."
Sittenwidrig: 1,59 Euro Stundenlohn
Die Brandenburger Jobcenter überprüfen die Löhne ihrer Kunden auf Sittenwidrigkeit. In letzter Zeit kam es zu Anzeigen gegen Arbeitgeber, zuletzt gegen einen Pizzeria-Betreiber, der 1,59 Euro Stundenlohn bezahlt hatte. Eindeutig sittenwidrig, urteilt das Gericht.
"Also ich denke schon, dass das zugenommen hat. Wir verfolgen jetzt aktuell 16 Fälle von Bezahlungen, bei denen wir den Eindruck haben, dass hier sittenwidrige Löhne vorliegen."
Allerdings ist es aus Thomanns Sicht die Ausnahme, dass die Arbeitgeber offen sagen: Wir zahlen nicht mehr, holt euch die Differenz zum notwendigen Lebensunterhalt beim Amt. Getrickst wird dagegen bei der Arbeitszeit.
"Das heißt auf einmal hat eine Stunde nicht mehr 60 Minuten sondern 90 oder 120 Minuten. Und wenn beide Seiten dort ein Verschleierungsinteresse haben, ist das sehr schwer nachzuweisen."
Die Schlangen im Erdgeschoss sind nicht kürzer geworden, Marco Meyer kommt von seinem Termin mit dem Arbeitsberater. Er zuckt die Schultern, wieder nichts dabei. "Working poor", arm trotz Arbeit, lebenslänglich aufs Amt angewiesen?
"In den meisten Fällen siegt hoffentlich die Existenzsicherung, allerdings wenn sie nicht gegeben ist durch ein Hauptamt, also sprich durch einen Job oder durch eine Arbeit, wo Existenzsicherung dabei herauskommt, dann ist es wirklich ‘working poor‘. Weil man natürlich auch gucken muss, wo man sonst noch Geld her kriegen kann."
Meyer wirkt hilflos, aber nicht resigniert. Er zuckt mit den Schultern und geht hinaus in das diesige Potsdamer Wetter.