"Niemand hatte eine Ahnung davon"

Thomas Böhm im Gespräch mit Frank Meyer |
37 Jahre nach seinem Tod ist ein bislang unbekanntes Werk von J.R.R. Tolkien aufgetaucht - dieses ähnnelt in vielen Punkten dem "Nibelungenlied". Doch der Text sei "einen Zacken brutaler", so Tolkien-Experte Thomas Böhm.
Frank Meyer: Zwerge, Drachen, Orks, magische Ringe – die "Herr der Ringe"-Romane von Tolkien, die stecken voller mythologischer Ideen. Tolkien hat vieles aus der nordischen Sagenwelt in seine Romane gesteckt. Diese Sagenwelt kannte er bestens, denn er war auch Professor für alte nordische Sprachen. Nach der altnordischen Lieder-Edda und anderen alten Quellen hat Tolkien vor 80 Jahren eine Versdichtung geschrieben, die erst jetzt, 37 Jahre nach seinem Tod, bei uns zu haben ist. In der englischsprachigen Welt ist dieser neue Tolkien schon zu einem großen Erfolg geworden, bei den vielen Tolkienfans auch bei uns könnte das hier genau so passieren. Ein Spezialist für die Werke von Tolkien und für die nordische Literatur ist Thomas Böhm, und der ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen!

Thomas Böhm: Danke schön!

Meyer: Hatten Sie denn eine Ahnung, Herr Böhm, dass im riesigen Nachlass von Tolkien, dass da so was schlummert, eine Nachdichtung der alten nordischen Sagen?

Böhm: Niemand hatte eine Ahnung davon, selbst sein ältester Sohn, der sich um die Pflege und Herausgabe seines Nachlasses bemüht, hatte das. Und Tolkien selbst hatte das Manuskript ja verloren. Er wollte es mal W.H. Auden schicken und hat es nicht gefunden. Also es ist wirklich eine große Überraschung!

Meyer: Wir wollen erst mal ein Stück hören, dass man auch ein Gefühl bekommt, was das eigentlich für eine Art Literatur ist. "Legende von Sigurd und Gudrun" heißt das Werk und wir hören ein Stück aus dem ersten Teil, "Uphaf" oder "Eingang" heißt das:

Sprecher: Rot glüht des Schwert des Riesen Surt, die schlummernde Schlage, jetzt schlägt sie die Wellen. Zum letzten Gefecht von Gefilden der Hölle, ein Schattenschiff schafft die Scharen der Wilden. Der Wolf Fenrir wartet auf Odin, auf Frey, den Feinen, die Flammen des Surt. Der düstere Drache bedroht jetzt Thor. Wird alles enden, die Erde vergehen? Steht zu der Stunde ein Unsterblicher auf, der das Sterben geschmeckt hat, und stirbt drum nicht mehr, der Schlangentöter, der Spross Odins, dann endet nicht alles, die Erde vergeht nicht.

Meyer: Aus der Legende von "Sigurd und Gudrun" von Tolkien, lauter Gestalten waren das aus dem altnordischen Götterwesen: der Chefgott Odin, der riesige Wolf Fenrir, der Feuerriese Surt. Herr Böhm, wie hat sich denn Tolkien diese ganze altnordische Götterwelt angeeignet für seine Legende, hat er da viel verändert?

Böhm: Er hat als 16-Jähriger angefangen, altisländische Texte zu lesen. Es gibt einen Bericht darüber, wie er die Wölsungen-Saga gelesen hat. Die Wölsungen-Saga ist quasi das Vorbild für die Geschichte, die wir gerade gehört haben. Und er hat dann später als Professor für Altenglisch unbedingt Zugriff nehmen müssen auf die altisländischen Quellen, denn man versteht das Altenglische nicht, man versteht solche Texte wie Beowulf nicht, wenn man nicht schaut, was gleichzeitig entstanden ist, wo gibt es Motivgleichheiten nicht nur mit Beowulf, sondern eben auch zum Beispiel mit dem "Nibelungenlied". Und er hat natürlich Veränderungen vorgenommen, aber das Personal ist erst mal das gleiche.

Meyer: In diesem Ausschnitt, den wir gehört haben, da taucht ja so ein Retter auf, und da heißt es dann, das ist ein Unsterblicher, der das Sterben geschmeckt hat. Und da sagen jetzt einige Interpreten von dieser neuen Tolkienlegende, ja da hat der Katholik Tolkien so eine Spur christlichen Glauben hineingeschmuggelt, mit dieser Anspielung vielleicht auf den wiederauferstandenen Jesus, eben ein Unsterblicher, der das Sterben geschmeckt hat. Was halten Sie denn davon?

Böhm: Es handelt sich bei diesen altisländischen Texten sowieso um eine sehr interessante Mischung von heidnischen, paganen Glaubensvorstellungen und christlichen. Das liegt daran, dass Island im Jahre 1000 per demokratischem Beschluss – die Goten haben sich am Altyn getroffen und haben gesagt, wir sind christlich, aber jeder kann zu Hause die Götter verehren, die er möchte – gibt es da schon eine hybride Mischung zwischen Christentum und paganem Glauben. Und darauf rekurriert Tolkien.

Ich hielte es für eine Überinterpretation, in dieser Sigurd-Figur einen Erlöser zu sehen mit diesen ganzen Aufladungen, Vergebung der Sünden und so weiter, und so weiter. Es ist ein Strang, der christliche Strang ist in der altnordischen Mythologie angelegt, vor allen Dingen deshalb, weil diejenigen, die das aufgeschrieben haben, diejenigen, die diese Edda aufgeschrieben haben, das waren christliche Mönche in isländischen Klöstern des 13. Jahrhunderts. Da sind diese Texte niedergeschrieben worden.

Meyer: Sie waren gerade selbst in der Gegend unterwegs in Island, da hört man vielleicht solche Texte dann auch noch einmal ganz anders, und Sie haben eines der Sprachdenkmäler, sagt man ja dazu, einen der alten Texte in den Händen gehalten, aus denen sich auch Tolkien bedient hat. Was war das denn für eine Schrift?

Böhm: Herr Meyer, mein Herz klopft jetzt noch, wenn Sie das ansprechen, denn ich habe nicht eines, sondern ich habe das Buch in Händen gehalten, den sogenannten Codex Regius. Das ist die Handschrift, in der all diese Lieder aus der Älteren Edda, also das, was Tolkien hier variiert, überliefert sind. Und die sind überliefert in nur einem einzigen Exemplar! Gäbe es dieses Buch nicht, würden wir die sogenannte Ältere Edda nicht kennen. Es ist kulturgeschichtlich wahrscheinlich das wertvollste Buch überhaupt! Ich habe es in Händen gehalten, ich habe einen Professor kennengelernt, mit dem ein bisschen gesprochen, und der war so freundlich, das herauszuholen. Ich habe es in Händen gehalten. – Ich habe es nicht umgeblättert, ich habe die Seiten nicht berührt, aber ich durfte es in Händen halten. Davon werde ich meinen Enkeln noch erzählen!

Meyer: Thomas Böhm wird das tun, er ist hier bei uns zu Gast in Deutschlandradio Kultur, um über den neuen Tolkien zu reden. Mehr als 30 Jahre nach Tolkiens Tod ist ein Buch aus seinem Nachlass erschienen, "Die Legende von Sigurd und Gudrun". Und das klingt ja für uns erst mal sehr fremd, dieser Titel. Man kann sich es aber leichter machen und es gewissermaßen übersetzen in "Legende von Siegfried und Kriemhild", so heißen Sigurd und Gudrun in der deutschen Fassung sozusagen des "Nibelungenliedes". Tolkiens Legende, die ähnelt nun in vielen Punkten dem "Nibelungenlied". Wenn man das so liest, glaubt man, das kenne ich schon, davon hab ich schon mal gehört. Was sind denn für Sie die wichtigsten Unterschiede?

Böhm: Der wichtigste ist vielleicht: Beim "Nibelungenlied" wird schnell deutlich, dass es wohl im 13. Jahrhundert aufgeschrieben für ein höfisches, gebildetes Publikum. Deswegen kommt das ganze Hofleben drin vor, deswegen gibt es Bezüge zur Literatur der Zeit, insbesondere die Fürstenspiegel, die ja davon handeln, wie sieht eine gute Regierung aus. Deswegen gibt es diese ganzen Hofintrigen, deswegen gibt es die ganzen Bilder von guten und schlechten Königen. Gunther ist ein König, der mit einem Ministerapparat regiert, Siegfried ist ein Herrscher, der akzeptiert wird in seinen Königreich Xanten, weil er stark ist und prächtig.

Das alles muss man sich natürlich bei Tolkien wegdenken, er schreibt für ein ganz anderes Publikum. Man weiß gar nicht genau, aus welchen Gründen er dieses Buch geschrieben hat. Er schreibt wahrscheinlich – das ist meine These daran –, er hatte einen Lesekreis mit anderen Professoren in Oxford, die nannten sich Inklinge. Und die haben sich regelmäßig getroffen und sich gegenseitig Texte vorgelesen. Und vielleicht hat Tolkien sein Versepos geschrieben, um das da vorzulesen, denn es gibt eine Stelle, da rekurriert er auf die alten Skalden, die altisländischen Dichter, wie die wohl vor ihrem Publikum vorgetragen haben. Und da formuliert er: Die wollten ihre Zuhörer umhauen! Ja, mit der Pracht ihrer Gedichte! Und vielleicht hat er es deshalb geschrieben, um es vorzulesen. Aber man weiß es nicht genau.

Meyer: Was einen bei dieser Tolkien-Legende ja auch umhaut – und da komme ich wieder auf die Unterschiede vielleicht zwischen dem deutschen "Nibelungenlied" und seinem "Nibelungenlied" –, das ist die Gewalt dieses Textes und buchstäblich die Gewalt, die er beschreibt. Also schon das deutsche "Nibelungenlied" geht ja ordentlich zu Sache, aber wie Tolkien da vorgeht oder wie diese Sage überhaupt vorgeht, das ist ja noch mal ein Zacken brutaler, oder?

Böhm: Das ist ein Zacken brutaler. Zum einen ist es natürlich der altnordischen Götterwelt überhaupt geschuldet, die Darstellung dessen, was da passiert, die war brutal. Wir sollten allerdings nicht unsere Vorstellung an Brutalität und so weiter, und so weiter anlegen. Das ist eine archaische Gewalt, die da zum Ausbruch kommt. – Ja, wie sollten die Götter auch anders sein, wenn nicht übermenschlich gewalttätig. Aber natürlich ist in den Text von Tolkien auch eingeschrieben die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, so wie in die Schlachtendarstellung des "Herr der Ringe" auch die Erfahrung der Schlachten des Zweiten Weltkriegs eingeschrieben sind.

Meyer: Nun kommen die "Nibelungen" ja aus der altnordischen Sagenwelt, auf Altnordisch oder manche Sachen auch auf Altisländisch festgehalten. Was sagen jetzt eigentlich die Isländer dazu, noch mal auf Ihren Besuch in Island zurückkommend, dass da ein britischer Fantasy-Autor und Gelehrter daherkommt und ihren alten Stoff umschreibt? Was halten die Isländer davon?

Böhm: Na ja, erst mal ist Tolkien ein Professor für Altphilologie. Und er wurde damals auch in der Zeit als Altphilologe wahrgenommen. Also man sagt jetzt erst mal nicht, das ist ein Fantasy-Autor, sondern das ist ein Altphilologe. Das ist schon mal satisfaktionsfähig. Abgesehen davon sind die Isländer zum einen gewohnt, dass ihr Beitrag zur Weltliteratur in den verschiedensten Formen vorkommt, aber man fühlt sich durchaus geschmeichelt, dass der bekannteste Autor der Welt auf diese Art und Weise auch dazu einlädt, sich mit altisländischer Literatur zu beschäftigen. Und das ist ein Paket, damit kann man sehr gut umgehen.

Meyer: Sie haben ja vorhin erwähnt, dass Tolkien selbst auf den Anspruch der alten Skaldensänger abgehoben hat, mit so einer Dichtung die Leute aus den Schuhen zu hauen. Was würden Sie denn sagen, die Legende, die er nun aufgeschrieben hat auf Englisch in diesem Buch, haut die einen aus den Schuhen?

Böhm: Sie irritiert einen. Sie irritiert einen, das ist zum einen auch der Übersetzung geschuldet, die versucht, diesen hohen Ton anzustreben. Und das Irritierendste ist zum Beispiel die Verwendung des Wortes "Heil", das geht einem ja kaum über die Lippen, aber wir sind ja hier im England der 30er-Jahre, das Wort "Heil" ist noch nicht dermaßen kontaminiert. Einen hohen Stil, der einen irritiert, der sehr, was sehr Unzeitgemäßes, was sehr Archaisches hat, es war sicherlich schwer für diesen Autor, nicht nur diesen hohen Stil, sondern auch all die Stilmittel – Stabreim und so weiter, und so weiter – anzustreben. Das finde ich sehr gelungen.

Und ansonsten, was mir sehr gelungen erscheint an diesem Buch, ist die Mischung: Man hat zum einen den Text von Tolkien im englischen Original und in der deutschen Übersetzung, sodass man sehr gut die Leistung des Übersetzers nachvollziehen kann. Aber dann hat man drum herum die ganzen Kommentare von seinem Sohn Christopher Tolkien. Und das ist ein Paradebeispiel für englische Gelehrsamkeit. Das ist nämlich philologisch sehr genau, aber in keinster Weise verstaubt oder angestrengt, sondern es kommt ganz leichthändig daher. Und dann immer wieder sind mal so ein paar trockene englische Witze eingestreut. Und das, finde ich, wird diesem Buch und diesem an sich doch ein bisschen kruden Projekt sehr gerecht.

Meyer: Ich muss auch sagen, diese Kommentare sind sehr hilfreich, damit man überhaupt versteht, um was es in diesen Versen geht. Ich danke Ihnen sehr für diese Erläuterung! Thomas Böhm zu dem Buch von Tolkien, "Die Legende von Sigurd und Gudrun", herausgegeben eben von seinem Sohn und kommentiert, Christopher Tolkien, jetzt auf Englisch und mit einer deutschen Übersetzung von Hans-Ulrich Möhring erschienen im Klett-Cotta-Verlag. 560 Seiten hat dieses Buch, der Preis: 24,90 Euro.
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