Niemand ist frei von unbewusst gepflegten Vorurteilen
Inzwischen geht die Gesellschaft mit antisemitischen Äußerungen wesentlich strenger um als noch vor wenigen Jahrzehnten. Nun gilt es, ihre Wurzeln bloßzulegen. Das spielt auch beim Gedenken an die sogenannte Reichskristallnacht eine Rolle.
Die Warnungen klingen vertraut, und die Hinweise gibt es zuhauf. Erst vor wenigen Wochen war von einer Studie der Universität Tel Aviv zu hören, wonach der Antisemitismus im letzten Jahr weltweit um 30 Prozent zugenommen hat.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Zuwachs nicht das Ergebnis einer Radikalisierung des Judenhasses darstellt. Vielmehr dürfte er einer größeren Sensibilität geschuldet sein. Vorkommnisse, die heute als antisemitisch ausgewiesen werden, blieben vor zehn und mehr Jahren vielfach unbeachtet. Die Grenzen dessen, was noch gesagt werden darf, ohne dass es als problematisch und judenfeindlich bezeichnet wird, werden demnach immer enger.
Ein anschauliches Beispiel dafür bildet ein Kreuzworträtsel, das im vergangenen Sommer in einer amerikanischen Zeitung erschien. Eine Frage daraus lautete "Shylock aus 'Der Kaufmann von Venedig'", ein Stück von William Shakespeare. Die Antwort war "Jude".
Shylock stellt in dem Stück einen Juden dar, der für einen Kredit, den einer seiner Schuldner nicht zurückzahlen kann, ein Stück Fleisch aus dessen Körper verlangt. Es handelt sich dabei zweifelsohne um eine abgeschmackte, antisemitische Charakterisierung.
Doch kann allein schon das artikulierte Wissen, dass Shylock jüdisch ist, als antisemitisch ausgelegt werden? Barry Edelstein beispielsweise, einer der besten Shakespeare-Kenner und künstlerischer Leiter des bekannten Old-Globe-Theater in San Diego, verneint dies mit Nachdruck. Die Anti-Defamation-League wiederum glaubt dies sehr wohl, weil mit dem Kreuzworträtsel ein negatives, kulturelles Stereotyp ständig wiederholt werde.
Manch einer mag die 'neue Sensibilität' für eine Form übertriebener 'political correctness' halten und sich provokant erkundigen, ob die Lektüre von "Der Kaufmann von Venedig" in der Schule oder dessen Erwerb in einer Buchhandlung verboten werde. Und es kann durchaus sein, dass einzelne Fälle, vielleicht auch der des Kreuzworträtsels, zu rigide ausgelegt werden.
In Wirklichkeit aber will die 'neue Sensibilität' nicht die Handlungs- und Denkfreiheit ungerechtfertigt einschränken, sondern latente Formen von Antisemitismus aufzeigen, die durch kulturell tradierte Denkmuster transportiert werden. Solche Aspekte werden von uns zumeist nicht erkannt, eben weil wir so sehr Teil dieser Kultur sind und von ihr geprägt wurden.
Heutzutage geht es kaum mehr darum, traditionellen Judenhass oder groben Antisemitismus verurteilen zu müssen. Diese sind in einer Weise diskreditiert, dass sie nur mehr von radikalen Gruppen artikuliert und in weiterer Folge sehr wohl auch sanktioniert werden. Stattdessen gilt es, die kulturellen Wurzeln eines subtil vorgetragenen Antisemitismus bloßzulegen.
Den Dingen auf den Grund zu gehen, gehört jedenfalls zum Anspruch eines aufgeklärten Bildungsbürgertums, weil niemand frei von unbewusst gepflegten Vorurteilen ist, genauso wenig von absichtsvoll wiederholten Irrtümern.
Letztlich spielt die 'neue Sensibilität' auch im Umfeld des Gedenkens an die euphemistisch genannte "Reichskristallnacht" eine Rolle. Eine der großen Fragen ist nämlich, warum Juden die Zeichen der Zeit nicht früh erkannt haben und rechtszeitig geflüchtet sind? Eine These in der Forschung lautet, dass der Antisemitismus ein integraler Bestandteil der deutschen Kultur war. Wollte man zur deutschen Gesellschaft gehören, so bekannte man sich auch zu ihm, selbst wenn man persönlich keine Feindseligkeit gegenüber Juden empfand.
Dieser kulturelle Antisemitismus tritt heutzutage zwar viel nuancierter auf. Aber ihn aufzuzeigen und zu bekämpfen, lohnt sich trotzdem.
Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001-2007 war, und Autor von sechs Monografien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung, zuletzt "Kultur und Gedächtnis", September 2012, Verlag Ferdinand Schöningh.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Zuwachs nicht das Ergebnis einer Radikalisierung des Judenhasses darstellt. Vielmehr dürfte er einer größeren Sensibilität geschuldet sein. Vorkommnisse, die heute als antisemitisch ausgewiesen werden, blieben vor zehn und mehr Jahren vielfach unbeachtet. Die Grenzen dessen, was noch gesagt werden darf, ohne dass es als problematisch und judenfeindlich bezeichnet wird, werden demnach immer enger.
Ein anschauliches Beispiel dafür bildet ein Kreuzworträtsel, das im vergangenen Sommer in einer amerikanischen Zeitung erschien. Eine Frage daraus lautete "Shylock aus 'Der Kaufmann von Venedig'", ein Stück von William Shakespeare. Die Antwort war "Jude".
Shylock stellt in dem Stück einen Juden dar, der für einen Kredit, den einer seiner Schuldner nicht zurückzahlen kann, ein Stück Fleisch aus dessen Körper verlangt. Es handelt sich dabei zweifelsohne um eine abgeschmackte, antisemitische Charakterisierung.
Doch kann allein schon das artikulierte Wissen, dass Shylock jüdisch ist, als antisemitisch ausgelegt werden? Barry Edelstein beispielsweise, einer der besten Shakespeare-Kenner und künstlerischer Leiter des bekannten Old-Globe-Theater in San Diego, verneint dies mit Nachdruck. Die Anti-Defamation-League wiederum glaubt dies sehr wohl, weil mit dem Kreuzworträtsel ein negatives, kulturelles Stereotyp ständig wiederholt werde.
Manch einer mag die 'neue Sensibilität' für eine Form übertriebener 'political correctness' halten und sich provokant erkundigen, ob die Lektüre von "Der Kaufmann von Venedig" in der Schule oder dessen Erwerb in einer Buchhandlung verboten werde. Und es kann durchaus sein, dass einzelne Fälle, vielleicht auch der des Kreuzworträtsels, zu rigide ausgelegt werden.
In Wirklichkeit aber will die 'neue Sensibilität' nicht die Handlungs- und Denkfreiheit ungerechtfertigt einschränken, sondern latente Formen von Antisemitismus aufzeigen, die durch kulturell tradierte Denkmuster transportiert werden. Solche Aspekte werden von uns zumeist nicht erkannt, eben weil wir so sehr Teil dieser Kultur sind und von ihr geprägt wurden.
Heutzutage geht es kaum mehr darum, traditionellen Judenhass oder groben Antisemitismus verurteilen zu müssen. Diese sind in einer Weise diskreditiert, dass sie nur mehr von radikalen Gruppen artikuliert und in weiterer Folge sehr wohl auch sanktioniert werden. Stattdessen gilt es, die kulturellen Wurzeln eines subtil vorgetragenen Antisemitismus bloßzulegen.
Den Dingen auf den Grund zu gehen, gehört jedenfalls zum Anspruch eines aufgeklärten Bildungsbürgertums, weil niemand frei von unbewusst gepflegten Vorurteilen ist, genauso wenig von absichtsvoll wiederholten Irrtümern.
Letztlich spielt die 'neue Sensibilität' auch im Umfeld des Gedenkens an die euphemistisch genannte "Reichskristallnacht" eine Rolle. Eine der großen Fragen ist nämlich, warum Juden die Zeichen der Zeit nicht früh erkannt haben und rechtszeitig geflüchtet sind? Eine These in der Forschung lautet, dass der Antisemitismus ein integraler Bestandteil der deutschen Kultur war. Wollte man zur deutschen Gesellschaft gehören, so bekannte man sich auch zu ihm, selbst wenn man persönlich keine Feindseligkeit gegenüber Juden empfand.
Dieser kulturelle Antisemitismus tritt heutzutage zwar viel nuancierter auf. Aber ihn aufzuzeigen und zu bekämpfen, lohnt sich trotzdem.
Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001-2007 war, und Autor von sechs Monografien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung, zuletzt "Kultur und Gedächtnis", September 2012, Verlag Ferdinand Schöningh.