Kraftquell für Unangepasste
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Ein unscheinbares Grab, ein kleines Museum - und eine Pilgerstätte für Fans aus aller Welt: Nietzsches letzte Ruhestätte in Röcken bei Leipzig besuchen Gäste aus Japan, China, Israel, Peru. Vom Arbeiter bis zum Professor.
Es ist ein milder Herbsttag Anfang Oktober, Stefanie Jung und Elmar Schenkel vom Nietzsche-Verein Röcken schließen die kleine Dorfkirche auf. Hier wurde Friedrich Nietzsche getauft und hier saß er als kleiner Junge auf der spartanischen Kirchenbank und hörte den Predigten seines Vaters zu. Die hölzerne Sitzbank ist immer noch da.
Den Vater wie einen Gott verehrt
Elmar Schenkel, emeritierter Professor an der Universität Leipzig, setzt sich in die erste Reihe und blickt auf den Altar. Er denkt laut darüber nach, wie diese frühen Jahre den jungen Nietzsche geprägt haben:
"Der Vater wird wie ein Gott verehrt und bewundert, geliebt. Und dann stirbt der Vater sehr schmerzhaft, sehr langwierig und das ist für den Sohn natürlich auch schon eine Art Tod Gottes", spekuliert er.
Das Nachdenken, Diskutieren, Streiten und Philosophieren über Nietzsche und die Welt ist das Ziel des 2015 gegründeten Vereins. Links neben dem Altar hängt ein in Stein gemeißeltes Epitaph eines Ritters aus der Röckener Dorfgeschichte.
In der Dorfkirche zum "Übermenschen" inspiriert
"Nietzsche hat ja über seine Röckener Zeit eine kleine Autobiografie geschrieben, mit 14 Jahren", weiß Elmar Schenkel. "Da beschreibt er die Kirche und den Vater und das Leben in Röcken und auch diese Epitaphien, diese Ritter. Er hat immer dahin geschaut während des Gottesdienstes und es kam ihm sehr unheimlich vor. Übernatürlich, möglicherweise auch übermenschlich, sodass man da auch wiederum so eine Wurzel finden könnte für den Übermenschen."
In seinen Erinnerungen an seine ersten Kindheitsjahre in Röcken schreibt Nietzsche in dieser Autobiografie:
"Noch muss ich etwas erwähnen, was mich immer mit geheimem Schauer erfüllte. Nämlich in der düsteren Sakristei der Kirche stand an der einen Seite das übermenschliche Bild des heiligen Georg, von geschickter Hand in Stein gegraben."
Vom Arbeiter bis zum Professor: Das Publikum ist divers
Direkt neben der Kirche das Grab, ein kleines Museum und das Geburtshaus von Friedrich Nietzsche. Ein Denk- und Gesprächsort zum alltagsphilosophischen und akademischen Austausch – oder einfach nur zum Entspannen, Schweigen und Nachdenken. Rund 1500 Besucherinnen und Besucher kommen jährlich hierher. Heute aber ist es still.
"Das finde ich auch das Faszinierende bei Nietzsche, dieses Publikum ist unglaublich bunt, also eine wahnsinnige Spannbreite", erzählt Stefanie Jung. "Wir haben einen Gabelstaplerfahrer, der kommt jedes Jahr an Neujahr hierher, der ist aus Köln, und dem ist es einfach wichtig, zum Neujahr hier zu sein und ein paar Stunden hier zu verbringen. Und der ist Lagerarbeiter, dem ist Nietzsche wichtig, in seiner Biografie spielte das eine Rolle. Wir haben Universitätsprofessoren, wir haben auch sehr viele Künstler."
Gäste aus der ganzen Welt
Die seltenen Gäste aus dem Ausland bleiben in Zeiten der Corona-Pandemie aus. Doch in der Vergangenheit machten sich einige Nietzsche-Fans sogar ganz aus Japan, Israel oder China auf den Weg nach Röcken. An einen Gast aus Peru erinnert Stefanie Jung sich besonders:
"Er war Lehrer an einer Schule, an einem Gymnasium und unterrichtete auch Nietzsche und hat wirklich lange auf diesen Flug gespart. Also, das war ihm wichtig und sein Ziel war tatsächlich Röcken, es war nichts anderes, es war keine Hauptstadt, kein München, kein Berlin. Das ist für viele eine ganz wichtige Reise und viele legen sehr, sehr viele Kilometer zurück, um das überhaupt mal erlebt zu haben."
Nietzsche, der Autor von "Also sprach Zarathustra", "Der Antichrist" oder "Zur Genealogie der Moral" wird auch noch 120 Jahre nach seinem Tod auf der ganzen Welt gelesen.
Zum Nietzsche-Geburtstag gibt’s Sekt am Grab
Sein Grab befindet sich direkt neben der Kirche. Eine schlichte Marmorplatte mit knapper Inschrift: "Friedrich Nietzsche, geboren 15. Oktober 1844. Gestorben 25. August 1900". Davor eine Holzbank. Jedes Jahr kommen zwei ältere Damen zu seinem Geburtstag, trinken hier Sekt und stellen auch ein Gläschen für den Philosophen aufs Grab. Zwei andere Frauen, erinnert sich Stefanie Jung, sind extra aus der Volksrepublik China angereist:
"Zwei Chinesinnen, die hier ganz glücklich Hand in Hand standen, sie sagten, bei uns können wir uns so nicht zeigen. Und Nietzsche gibt uns aber dann tatsächlich auch die Kraft, das durchzuhalten. Also, er hebelt natürlich so Zwänge auf."
Vorbild für Pippi Langstrumpf
Nietzsches Denken fußt auf keiner systematischen Philosophie, vielmehr sind es einzelne Gedanken, Schriften und Aphorismen, in denen er Kritik an Moral, Religion und der Philosophie selbst übt. Mit seinem berühmten Satz "Gott ist tot" sagte er den Rückzug der Religionen im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts voraus. Und er erkannte, dass die dadurch entstehenden Leerstellen durch andere "Götter" ersetzt werden würden – zum Beispiel durch politische Ideologien oder den Glauben an Konsum und Kapitalismus.
Das Komplizierte und Streitbare bei Nietzsche: Jeder kann sich den Nietzsche zusammensetzen, der ihm passt. Angeblich hat sich Astrid Lindgren von Nietzsches Übermensch inspirieren lassen und eine ganz liebenswürdige Version mit roten Zöpfen aus ihm gemacht: Pippi Langstrumpf.
Ein Denker voller Widersprüche
Ebenso beziehen sich die Transhumanisten aus dem Silicon Valley mit ihren Cyborg- und Unsterblichkeitsphantasien auf Nietzsche. Und auch die Nazis haben ihn für ihre Ideologie vereinnahmt. Widersprüche und Uneindeutigkeiten finden sich bei Nietzsche immer wieder, deshalb ist die kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk so wichtig, meint Elmar Schenkel:
"Gut, die Leute, die hier hinkommen, sind meistens Verehrer von Nietzsche, da kommt man nicht so schnell zum Streit. Aber wir hatten eine Ringvorlesung in Leipzig, da gab es viel Streit, weil wir eben auch Referenten hatten, die gesagt haben, Nietzsche ist ein Protofaschist. Und dann gibt es eine große Diskussion, was ist an ihm faschistoid und was ist genau das Gegenteil. Er ist ein sehr ambivalenter Denker, aber das ist eben auch heute wichtig, dass wir mit Ambivalenzen umzugehen lehren. Also, für mich ist Nietzsche auch jemand, an dem man zu reifen lernt, mit dem man sich nicht identifizieren muss, man kann ihn aber trotzdem zum Teil gut finden und zum Teil schlecht finden – man muss sich nicht immer nur schwarz und weiß mit Nietzsche beschäftigen."
Das passiert auch bei Lesungen, Vorträgen und Rundgängen, die vom Nietzsche-Verein in Röcken organisiert werden. Am späten Nachmittag wird die Dorfkirche wieder verschlossen – an diesem Tag haben nur wenige Gäste das unscheinbare Grab und das kleine Museum besucht.