Niklas-Luhmann-Archiv

Der Blick in den Zettelkasten ist jetzt online möglich

06:58 Minuten
Eine handbeschriebne Karteikarte liegt auf einer von mehreren herausgezogenen Schubladen eines hölzernenen Karteikastenschrankes.
Ein kleiner Teil von Niklas Luhmanns Zettelkastensytem mit handgeschriebenen Karteikarten. © imago images / teutopress
Markus Krajewski im Gespräch mit Max Oppel |
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Luhmann habe seinen Zettelkasten als einen gleichwertigen Kommunikationspartner verstanden, sagt der Medienwissenschaftler Markus Krajewski. Den weltberühmten Soziologen habe das System inspiriert: Es sei Ordnung und zugleich Unordnung.
Einmal in Niklas Luhmanns Zettelkasten stöbern – was Generationen von Studierenden nicht durften, ist jetzt sogar online möglich: Die rund 90.000 handschriftlichen Notizen des berühmten Soziologen waren über 50 Jahre in einem Holzkasten-System.
In einem ersten Schritt sind die Zettel des ersten Auszugs des ersten Kastens in einer transkribierten und verlinkten Fassung veröffentlicht worden. 3300 der Zettel kann man sich also jetzt im Netz erschlossen anschauen. Zudem sind alle Zettel der ersten Sammlung und ein Teil der zweiten als Bilder, aber ohne Transkription und Verlinkung, abrufbar.
Die erste Sammlung umfasst ungefähr die Jahre 1952 bis 1963 und 23.000 Zettel in sieben Auszügen, die zweite die Karten von 1963 bis Anfang 1997. Der wissenschaftliche Koordinator des Akademieprojekts "Niklas Luhmann – Theorie als Passion", Johannes Schmidt, kalkuliert, dass seine Mitarbeiter ungefähr ein halbes Jahr pro Auszug benötigen. 
Für Luhmann war der Zettelkasten eine Quelle der Produktivität. Der Soziologie-Professor an der Universität Bielefeld habe ein Werk geschaffen habe, das seinesgleichen suche, sagt Markus Krajewski, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Basel. Luhmann habe rund 50 Bücher und 600 Aufsätze geschrieben und dabei versucht, eine Universaltheorie zu schaffen, eine Theorie, die alles versucht zu beschreiben.

Motor der Textproduktion

Der Blick in den Zettelkasten sei auch ein Blick hinter die Kulissen, sagt Krajewski: "Wie arbeitet ein Gelehrter in einer ungeheuren Produktivität über viele Jahre hinweg? Wie gelingt es ihm immer wieder Neues zu denken, Neues zu schreiben? Und es ist eben vor allem diese eigentümliche Kommunikationsstruktur – mit einem Zettelkasten."
Der Zettelkasten habe als Motor dieser Textproduktion gewirkt. Für den Bielefelder Gelehrten sei sein System mehr als ein Hilfsmittel gewesen: "Luhmann hat seinen Zettelkasten als einen gleichwertigen Kommunikationspartner verstanden", sagt Krajewski.
"Der Autor, Luhmann, füttert über Jahrzehnte seine Ideen, seine Exzerpte, seine Paraphrasen, seine Überlegung hinein, und der andere, der Partner, nimmt das auf und ordnet das, nach einer bestimmten Struktur. Der Reiz dieser Struktur besteht darin, eine Ordnung und zugleich eine Unordnung zu sein."

Anordnung aus Holz und Paper

Interessant sei vor allem diese Struktur, sagt Krajewski: diese Art von Hyperlink oder Verbindung, "diese Art von Relationierung, die eine ungeheure Vielfalt, eine ungeheure Anschlussfähigkeit wie Luhmann das ja auch genannt hat, bereitstellt." Luhmann gelinge es mit seiner schlichten Anordnung aus Holz und Papier, "einen Kommunikationspartner zu schaffen, der mit Zufall, mit Überraschung, mit – in der Theoriesprache der Systemtheorie – mit Kontingenz umgehen kann."
Für Außenstehende sei das Zettelkastensystem nicht unbedingt verständlich, aber für Luhmann habe es Inspiration bedeutet: "Das ist tatsächlich ein Schreibgehilfe, ein System oder eine Notizensammlung, die nichts vergisst und in der kalkulierten Zufälligkeit, mit der man von einem Eintrag zum nächsten kommt, tatsächlich neue Verbindungen schafft."
(mfu)

In der Sendung "Fazit" hat Britta Bürger mit André Kieserling, Luhmanns Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld, über den berühmten Zettelkasten gesprochen. "Er hat im Grunde genommen den Hypertext erfunden, ehe es ihn gab, mit diesem Zettelkasten", sagt Kieserling zu dem Verweissystem von Luhmann.

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