Nils Binnberg über Orthorexie

"Ich war acht Jahre ein Essenssnob"

08:38 Minuten
Nahaufnahme von den Händen eines alten Mannes, der Schokolade über eine Papayahälfte raspelt.
Sieht lecker aus. Aber wenn man sich ständig damit beschäftigt, was "gutes Essen" ist, macht das krank. © imago / Westend61
Moderation: Dieter Kassel |
Audio herunterladen
Essen ist dank Social Media omnipräsent, die Beschäftigung mit Ernährung eine Art Ersatzreligion geworden. Doch die permanente Fixierung auf angeblich gesundes Essen kann auch krank machen, weiß Nils Binnberg aus eigener Erfahrung.
Dieter Kassel: Heute ist der Tag, an dem die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ihren Jahreskongress veranstaltet, und der steht in diesem Jahr unter dem Motto "Lebensjahre in Gesundheit: Was leistet die Ernährung", und die DGE erklärt uns immer wieder gerne, was sie denn leisten kann; die Ernährung, wenn man sie denn richtig nutzt.
Diese Gesellschaft ist damit aber auch nicht alleine: Viele andere verkaufen ständig Ideen darüber, was die einzig richtige Ernährung ist und was die 99,9 Prozent falschen Weisen sind. Das kann, wenn man sich damit zu sehr beschäftigt, durchaus zum Problem werden. Es kann sogar zu einer Krankheit werden – Orthorexie heißt diese Krankheit.
Der Journalist Nils Binnberg litt viele Jahre darunter, hat das inzwischen überwunden und über seine Erfahrungen ein Buch geschrieben, das gerade vor ein paar Tagen unter dem Titel "Ich habe es satt" erschienen ist, und er selber ist auch erschienen jetzt hier im Studio.
Wenn Sie gerade so einen Titel hören dieser Jahrestagung, der als seriös geltenden, sehr bekannten Deutschen Gesellschaft für Ernährung, "Lebensjahre in Gesundheit: Was leistet die Ernährung", also wir essen nicht einfach, wir leisten einen Beitrag zum ewigen Leben – was denken Sie über so eine Idee?
Binnberg: Dann schrillen bei mir alle Alarmglocken, weil wir inzwischen wirklich diese Vorstellung haben, dass Lebensmittel lebensverlängernd wirken können, also die richtige Ernährung, die gesunde Ernährung, oder eben lebensverkürzend, aber bisher gibt es in der Ernährungswissenschaft keinerlei Evidenz.
Die ernährungswissenschaftlichen Studien basieren auf Beobachtungsstudien, das heißt, wir haben hier Fragebögen, die Leute ausfüllen müssen, wie sind ihre Ernährungsgewohnheiten. Das machen sie vielleicht über einen Zeitraum von neun Jahren, und dann weiß man gar nicht, was geben diese Leute denn wirklich an, was sie tatsächlich gegessen haben.
Man weiß beispielsweise, die Menschen möchten besser dastehen und streichen vielleicht das Croissant weg und die Butter, weil sie denken, das ist eine ungesunde Ernährung, und am Ende des Tages hat man sozusagen eine reine Statistik. Also dann werden die Ergebnisse gegenübergestellt, und dann gibt es kein Ursache-Wirkungs-Prinzip, sondern es wird einfach nur geschaut, aha, diejenigen, die so sich ernährt haben, vegan, oder die sich fleischlastig ernährt haben, die haben weniger Risiko, an einer Herzkreislauferkrankung zu erkranken.
Zwei Hamburger mit Pommes
Ist das jetzt gesund oder nicht? Zwei Hamburger mit Pommes© imago stock&people
So funktioniert Ernährungswissenschaft, und deswegen widersprechen sich häufig auch in sehr, sehr kurzen Abfolgen diese Studien, und es kommt immer wieder dazu, dass wir hören, Wurst macht Krebs. Nein, Wurst ist gesund. Zucker ist Gift, nein, Zucker ist gut für den Organismus. Im Prinzip gibt es 250 neue ernährungswissenschaftliche Studien pro Tag, eine Million soll es geben, davon sind 96 Prozent fehlerhaft, weil wir auch dann so andere Störfaktoren haben wie: Wer hat die Studie in Auftrag gegeben? Ist es vielleicht die Softdrinkindustrie? Oder hatte der Studienleiter eine vorgefertigte Meinung? Das kann man alles sehr leicht tricksen.
Kassel: Wann haben Sie eigentlich gemerkt, um so weit zu kommen? Um das alles zu analysieren, muss man ja vorher erst mal auf zumindest einen Teil der ganzen Nummer reingefallen sein.
Binnberg: Ja.
Kassel: Und wann haben Sie gemerkt, ich bin nicht nur ein bisschen freakig und ein bisschen überdurchschnittlich interessiert an meinem Essen und was für Wirkungen das hat, sondern ich bin wirklich krank?

20 verschiedene Ernährungslehren in sieben Jahren

Binnberg: Also zum einen, als ich den Begriff der Orthorexia nervosa gegoogelt habe zufällig in einem Artikel. Orthos heißt richtig, Orexia heißt der Appetit, und beides zusammen ist die krankhafte Fixierung auf eine gesunde Ernährung in Anlehnung an die Anorexia nervosa, die Magersucht. Da gibt es auch Ähnlichkeiten. Da geht es um einen geheimen Schlankheitswunsch. Ich wollte abnehmen, das habe ich auch erfolgreich geschafft. Bei der Anorexie macht man es über Kalorien zählen, bei der Orthorexie macht man es über den Ausschluss bestimmter Lebensmittel.
Aufgeschnittene Avocados auf einem Schneidebrett
"Ich habe am Ende nur noch fünf Lebensmittel gegessen. Das waren Räucherlachs, Avocado, Fleisch, Salat und ein paar Nüsse."© imago stock&people
Ich bin ungefähr in den letzten 7 Jahren 20 verschiedenen Ernährungslehren gefolgt, über Lowcarb, also keine Kohlenhydrate oder wenig Kohlenhydrate, Paleo, glutenfrei, laktosefrei, Clean Eating oder vegan, und am Ende bleiben da nicht mehr viele Lebensmittel übrig, die man sich zugesteht. Ich habe am Ende nur noch fünf Lebensmittel gegessen. Das waren Räucherlachs, Avocado, Fleisch, Salat und ein paar Nüsse.
Kassel: Das kann dann nicht die vegane Phase gewesen sein mit Lachs und Fleisch.
Binnberg: Das war nicht mehr die vegane! Aber es gibt ja sogar paleovegan. Das würde jetzt zu weit führen, das zu erklären. Aber am Ende steht man da, ist wirklich abgehungert, hat keine Energie und ist einfach sozial auch total unverträglich.
Kassel: Das heißt, sozial unverträglich wird unter anderem heißen, Sie haben mal missioniert.

Die Fixierung aufs Essen macht asozial

Binnberg: Ich habe missioniert. Ich saß bei schönen Abendessen und redete über Verdauungssäfte, Darmbakterien, Stoffwechselvorgänge und Verstoffwechslungsvorgänge, und das war wahnsinnig unappetitlich. Oder aber ich bin aggressiv geworden, weil irgendwas, was auf der Karte stand, mir nicht passte, und ich konnte nicht teilnehmen, weil am Ende des Tages ist Essen ein soziales Ereignis. Aber ich habe mich immer asozialer verhalten, habe mich zurückgezogen, habe Freunde nicht mehr getroffen, Verabredungen geschwänzt.
Kassel: Auch weil ein paar davon Sie da mal gewarnt haben, vielleicht gesagt haben, du bist langsam nicht mehr dünn, du bist zu dünn, oder man merkt auch: magst jetzt gut aussehen, aber das macht dich nicht attraktiver, weil du einem auf den Wecker gehst. Also haben Freunde versucht, Sie da auch zu warnen, oder Bekannte?
Binnberg: Gar nicht, weil interessanterweise hatte ich so den Charme eines Gurus. Ich habe die Leute bezirzt. Also, ich habe da wirklich dran geglaubt und habe das mit einem Charme an meine Freunde weitergereicht, dass ich die verunsichert habe. Viele haben auch wirklich Sachen befolgt, die ich ihnen dann aufgetragen habe zu tun.
Nils Binnberg steht vor einer weißen Wand und schaut freundlich in die Kamera.
Der Autor Nils Binnberg© René Fietzek
Also von daher ist es dann generell auch so, dass unsere Gesellschaft inzwischen so neurotisch ist mit Essen, dass es gar nicht mehr so auffällt, wenn jemand so überneurotisch ist und zwanghaft mit seinem Essen. Also wenn wir in ein Restaurant kommen, wird uns sozusagen schon, wenn wir den Stuhl unter den Hintern schieben, vom Kellner gefragt, welche Unverträglichkeiten wir dann haben. Wenn wir uns am Strand ausziehen und haben einen makellosen Körper, dann bekommen wir da wirklich positive Blicke.
Das heißt, alle diese Produkte, die es auch gibt – glutenfrei, laktosefrei – das ist ein riesiger Markt für Menschen, die übervorsichtig und überinformiert sind, und da fällt es gar nicht auf, wenn einer am Ende nur noch fünf Lebensmittel isst.
Kassel: Es gibt ja diesen Vergleich, den man inzwischen oft hört: Essen als Religion. Ist da für Sie was dran?

"Essen ist Identität"

Binnberg: Definitiv. Also Essen ist Identität, ist ein großer Teil unserer Identität, schon immer gewesen, auch schon in der Antike und in der römischen Kaiserzeit. Nur heute im Zeitalter von Social Media, wo wir ständig unser Essen posten – die Quinoa-Bowl, die Avocado, den Cheeseburger, die Pizza – ist Essen so omnipräsent geworden und so ein großer Teil unserer Identität, dass sozusagen diese Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, ob es Paleo ist oder vegan oder Clean Eating, das ist ein großer Teil unserer Identität.
Eine junge Frau hält Äpfel, Mandarinen und eine Kaki in den Händen und riecht daran.
Die Beschäftigung mit Essen ist zu einer Art Religion geworden, sagt Nils Binnberg.© picture alliance / dpa-ZB / Jens Kalaene
Und noch ein zweiter Aspekt, der zeigt, wie religiös es geworden ist, zeigt diese Vorstellung von Reinheit und Schmutz, dass wir uns beschmutzt fühlen, wenn wir bestimmte Lebensmittel essen, die wir uns versagt haben oder uns rein fühlen oder heilig sogar, wenn diese Lebensmittel erlaubt sind. Das kennen wir auch aus dem jüdischen Glauben, wo Schweinefleisch tabuisiert ist und die Menschen sich unrein fühlen, wenn sie das essen. Das liegt aber eher daran, dass man sozusagen dann mit seinen Regeln bricht beziehungsweise, dass bestimmte Lebensmittel oder Ernährungsformen als moralisch gelten. Da spielt die Moral eine ganz wichtige Rolle.
Also Schweinefleisch oder Fleisch generell gilt als unmoralisch, weil wir Tiere töten, also ist es schmutzig, Fleisch zu essen, verursacht ein schlechtes Gewissen, und dann haben wir solche Schlagzeilen wie "Wurst macht Krebs". Bio hingegen gilt als rein und nicht, weil es nicht mit Pestiziden behandelt wird, sondern weil da so eine Nachhaltigkeitsidee dahintersteckt und der gute Mensch, der moralische Mensch. Deswegen fühlen wir uns rein, wenn wir das essen.
Das ist ein ganz großer Aspekt der Orthorexie, dieses Überlegenheitsgefühl über andere. Ich war einfach auch die letzten acht Jahre ein Essenssnob.
Kassel: Ich habe zum Schluss eine Frage an Sie, über die man sicherlich Ausführliches sagen könnte. Ich habe die Bitte, sagen Sie nur ja oder nein. Ich erlaube noch Jein, aber keine größeren Erklärungen. Nachdem das jetzt alles vorbei ist, Sie mit Ihrem Buch unterwegs sind, so offen darüber sprechen können: essen Sie jetzt wirklich wieder alles, worauf Sie Lust haben und können es essen, ohne groß drüber nachzudenken?
Binnberg: Ja.
Kassel: Nils Binnberg war das, der offen über seine inzwischen abgelegte Orthorexie spricht und ein Buch geschrieben hat über seine Erfahrungen. "Ich habe es satt" heißt dieses Buch, ist im Buchhandel erhältlich, und es ist ein bisschen ein dummer Spruch, aber an der Stelle passt er: Ich danke Ihnen fürs Kommen und wünsche Ihnen allzeit guten Appetit!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema