Nils C. Kumkar: "Alternative Fakten"
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Nebelkerzen und Störmanöver
05:39 Minuten
Nils C. Kumkar
Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen ErkenntnisverweigerungSuhrkamp, Berlin 2022336 Seiten
18,00 Euro
Der Soziologe Nils C. Kumkar liefert eine neue Perspektive auf das Phänomen “alternative Fakten”. Seine Vorschläge helfen, mit der Herausforderung konstruktiver umzugehen.
Alternative Fakten: Für viele ist der Begriff ein Schreckgespenst, steht er doch für das Ende einer alten Grundregel, nämlich dass ein Fakt ein Fakt ist. Die Folgen: bedrohlich. Denn wie viel gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich noch herstellen, wenn Menschen Dinge für wahr halten, die ganz offensichtlich falsch sind? Der Schluss liegt nahe: Die Demokratie ist in Gefahr!
Ganz so dramatisch ist die Lage nicht, gibt der Soziologe Nils C. Kumkar Entwarnung. Und untermauert dies überzeugend mit einer äußerst erhellenden Analyse.
Bisher gehe es zu sehr um den Wahrheitsgehalt und die Inhalte, die im Rahmen von alternativen Fakten transportiert würden. Darum, was Menschen glauben und wie man sie vielleicht wieder von diesem Glauben abbringen kann. Kumkar lakonisch: „So kommen wir theoretisch nicht weiter.“
Rauschen im Kommunikationsprozess
Ihn interessiert stattdessen der Kommunikationsprozess. Wann werden Aussagen zu alternativen Fakten? Welche Eigenschaften haben diese Äußerungen? Und was soll mit der Irritation, die dabei entsteht, erreicht werden?
Seine These: Alternative Fakten sind kommunikative Ausweichmanöver, mit denen in einer spezifischen Situation verhindert werden soll, bestimmte Probleme politisch zu bearbeiten. „Nebelkerzen“ quasi, die es erlauben, „wider besseres Wissen weiterzumachen“.
An drei Fällen macht Nils C. Kumkar das plausibel: an den Kontroversen um Coronamaßnahmen in Deutschland, dem Wirken von Klimaleugnern und an der Debatte um die Größe des Publikums bei der Amtseinführung Donald Trumps, wo der Begriff alternative Fakten das erste Mal fiel.
Satz für Satz etwa nimmt er sich das NBC-Interview mit Trumps Beraterin Kellyanne Conway vor. Erkennbar wird, dass es der sich ständig widersprechenden Conway gar nicht (wie oft angenommen) um exakte Publikumszahlen ging, sondern um die Metaebene: nämlich den Anschein zu vermeiden, Trump hätte keinen Rückhalt in der Bevölkerung. „Rauschen erzeugen“ nennt der Soziologe diese Strategie, bei der sich Worte zu alternativen Fakten wandeln.
Der Konsens wird vorausgesetzt
Auch wenn die Aufregung darüber groß ist: Das Ende des demokratischen Diskurses insgesamt ist für Kumkar deshalb nicht in Sicht, weil dieser Störungsversuch implizit auf eine stabile und wirksame „Wahrheit der Gesellschaft“ verweise. Denn seine Beispiele zeigen auch: Alternative Fakten sorgen nur dort für Irritation, wo sich die Mehrheit überraschend einig ist, die Politik aber nicht (konsequent) nach Lösungen sucht.
Trump etwa wählte tatsächlich nur eine Minderheit, wegen des ungerechten amerikanischen Wahlsystems. Und Klimaleugner treten erst konzertiert auf den Plan, seitdem in der Wissenschaft Konsens herrscht über die Ursachen des Klimawandels.
Der kluge Vorschlag des Soziologen deshalb: einfach mal die Debatte runterkochen. Vor allem aber rät er, genau hinzuschauen. Auf welche schwelenden Konflikte verweist der kommunikative Störungsversuch? Und wie müssten sie (politisch) gelöst werden? Das dürfte tatsächlich allemal mehr bringen, als alternative Fakten immer wieder durch Aufmerksamkeit zu befeuern.