Nils J. Nilsson: Wie Überzeugungen entstehen
Aus dem Englischen von Manfred Weltecke
Berlin University Press 2016, 198 Seiten, 18 Euro
Wenn Ingenieure philosophieren
Der amerikanische Ingenieurswissenschaftler Nils J. Nilsson ist Techniker. Und von dieser Seite, der des Praktikers, hat er sich der Anthropologie genähert. Nilsson versucht, die Gefühle zu ordnen. So richtig gelungen allerdings ist ihm dies nicht.
Nilsson unterscheidet zunächst zwei Arten von Wissen: Über ein Fahrrad wissen wir beispielsweise, dass es zwei Räder hat. Das entspricht "deklarativem Wissen". Aber zur Fähigkeit, Fahrrad zu fahren gehört "prozedurales Wissen." Genauso wie zum Klavierspielen. Auch das Wissen der Tiere sei weitgehend prozedural organisiert, schreibt Nilsson. Zugvögel kennen ihre Flugrouten, Spinnen wissen ihr Netz zu bauen, obwohl sie keine Netzbauschule besucht haben.
Das könnte man genetisch generiertes Wissen nennen. Im Unterschied zum prozeduralen Fahrradfahren oder Klavierspielen, das Menschen durch Üben lernen müssen.
Aber diese feinen Unterschiede scheinen den Autor nicht besonders zu interessieren. Stattdessen spricht er dann schnell von "Überzeugungen". Überzeugungen beschreiben die Welt, in der wir leben.
"Die Gesamtheit aller dieser Beschreibungsweisen stellt ein Modell der Realität dar – einen greifbaren Ersatz der Realität selbst. Wir müssen uns mit diesem Ersatz zufriedengeben, denn wir können die Realität selbst nicht direkt erfassen. Wie der Pilot eines Flugzeuges. Sein Flugzeug rast durch die natürliche Welt, aber alles, was der Pilot darüber weiß, muss er von seinen Instrumenten ablesen."
Was wir für die Realität halten, ist nicht die Realität selbst, sondern nur ein Modell von ihr. Das ist schon deshalb interessant, weil diese Sichtweise eher von einem Philosophen als von einem Computerwissenschaftler zu erwarten wäre.
Die Gretchenfrage: Was sind Überzeugungen?
Überzeugungen sind nützlich. Im Berufsleben etwa. Für Ärzte, Architekten, Elektriker. Im Alltag helfen uns Überzeugungen, Entscheidungen zu treffen.
Empfänglich für die Wirkung von Ideen
Aber wie entstehen Überzeugungen? Entweder weil man etwas gelesen, gehört oder gelernt hat. Oder aus eigenen Erfahrungen und Sinneseindrücken. Insofern wären die Sinne das Tor zur Realität. Allerdings können Sinneswahrnehmungen auch täuschen.
"Vielleicht muss man, um ein guter Mathematiker oder Physiker sein zu können, für die Wirkung von Ideen so empfänglich sein, dass es den Anschein hat, als existierten sie unabhängig vom Denken und als warteten sie darauf, entdeckt zu werden. Ich glaube hingegen, dass es sich bei Überzeugungen, von denen wir ‚im Innersten wissen, dass sie wahr sind‘, in der Realität um mentale Konstrukte handelt, die wir mit Hilfe unserer kreativen und schlussfolgernden Denkprozesse aus Teilen bereits vorhandener Ideen zusammengesetzt haben. Alle unsere Überzeugungen sind mentale Konstrukte."
Worauf will der Autor eigentlich hinaus? Das bleibt über weite Strecken seines Buches unklar. Immer wieder zieht er das Beispiel des Klimawandels heran. Aber nicht, um daran zu zeigen, dass es keine absolute Wahrheit geben könne, sondern im Gegenteil: Er will für die wissenschaftliche Methode werben, Hypothesen und Schlussfolgerungen auf ihre Plausibilität überprüft.
Die These vom Klimawandel überzeugt beispielsweise durch den steigenden Meeresspiegel, durch höhere Luft- und Wassertemperaturen, durch das Abschmelzen der Gletscher und viele weitere Indizien.
Diese Erkenntnis dürfte in den USA vielleicht noch einige Menschen überraschen, hierzulande fragt man sich aber, ob es dazu einer eigenen "Überzeugungsphilosophie" bedarf.
Denken wie im 18. Jahrhundert
Erst am Ende seines Buches lässt Nils Nilsson, der bis zu seiner Emeritierung an der Stanford-University über künstliche Intelligenz geforscht hat, die Katze aus dem Sack. Die selbststeuernden Autos von Google sind für den Autor der Beweis, dass auch Roboter und Computer zu komplexem Verhalten fähig sind und "daher Überzeugungen" haben.
"Ich denke, wir Menschen sind – wie Roboter – Maschinen: wenngleich sehr, sehr komplizierte und bisher kaum noch verstandene Maschinen. Bezüglich unserer Fähigkeit nützliche Überzeugungen zu bilden, befinden wir uns so ziemlich in der gleichen Situation wie Roboter. Genau wie sie verwenden wir unseren Sinnesapparat zum Erstellen von Modellen unserer Umwelt. (…) Roboter verfügen über keine ‚magischen‘, nicht-physikalischen Methoden, mit denen sie Informationen erlangen, und ich glaube, dass das auf Menschen ebenso zutrifft."
Dies ist aber nach fast zweihundert Seiten eine ziemlich abgedroschene Pointe. Über das Verhältnis von Menschen und Maschinen haben viele Autoren von René Descartes bis E.T.A. Hoffmann facettenreicher und origineller nachgedacht. Und die heutigen Neurowissenschaften können nachweisen, dass Gefühle wenig mit Magie zu tun haben. Liebe, Mitgefühl und Intuition lassen sich physikalisch darstellen. Und sind doch unendlich viel mehr. Was ist der Geist? Was ist Bewusstsein? Und wie funktionieren beide? An diesen Fragen hat Nils Nilsson vorbeigeschrieben.