Nina Bußmann: Dickicht
Suhrkamp, Berlin 2020
317 Seiten, 24 Euro
Verlorene Seelen im Großstadtdschungel
06:19 Minuten
Zwischen Rausch, Verlorenheit und Empathie schwanken die drei Figuren, die Nina Bußmann in ihrem neuen Roman "Dickicht" durch die Großstadt streifen lässt. Ein herausforderndes Buch, das mit brillanten Beobachtungen und einer großartigen Sprache besticht.
Wie ist sie hier gelandet? Im Krankenhaus mit einem zertrümmerten Arm und einem Gesicht voller Prellungen. Eigentlich war es ein ganz harmloser Abend, erinnert sich Ruth, die Hauptfigur, am Anfang von Nina Bußmanns neuem Roman "Dickicht".
Sie war nach einer Party auf dem Heimweg, ging im Dunkeln durch den Park, stürzte. Nein, sie hatte nichts getrunken - zumindest nicht an diesem Abend. Aber der Rausch ist ein Dickicht, in dem sich Ruth gerne verfängt.
Selten hat ein Titel auf so vielen Ebenen so gut zu einem Buch gepasst wie dieser. Dickicht, das ist der Dschungel einer namenlosen Großstadt - vielleicht Berlin? - durch den sich Ruth und ihre Bekannten Max und Katja - oder sollte man doch von Freunden sprechen? - im Alltag bewegen: eine Welt zwischen Hochhäusern am Stadtrand, den Bio-Läden der Hipster-Viertel, selbstgezimmerten Gartenlauben in der Nähe der Ringbahngleise, letzte Station vor der Obdachlosigkeit.
Das Dickicht verwehrt den Durchblick
Ein Dickicht verwehrt den Durchblick, wuchert wild - so wie die Handlung dieses vielschichtigen Romans. Sie folgt keiner Chronologie. Stattdessen ranken die Geschichten der verschiedenen Figuren ineinander, springen in der Zeit, Monate zurück vor Ruths Unfall, als sie den gut 20 Jahre jüngeren Max kennenlernt.
Als Fahrradkurier liefert er das Essen aus, das sie online bestellt hat. Katja dagegen, die freiberuflich als Coach arbeitet, trifft auf Ruth, als die sich auf eigenes Risiko aus dem Krankenhaus entlässt. Ruth bittet sie um Hilfe - und ehe Katja es begreift, hat sie für einige Wochen eine Mitbewohnerin.
Um diese Begegnungen geht es in "Dickicht": aufrichtige Versuche, eine andere Person zu verstehen, zu helfen, obwohl man selbst Hilfe bräuchte:
"Es gab solche Tage, an denen er hinter die Schichten blickte, nicht mehr auf Graustufen im Haar schaute, auf überschminkte Rosazea und nervös klimpernde Finger, sondern eben auf einen lebendigen Menschen, ein Bündel aus Unruhen und Vorlieben."
Gefühl der Verlorenheit
Nina Bußmann, geboren 1980, gelingen meisterhafte, präzise Beschreibungen in einer kunstvollen und gleichzeitig klaren Sprache. Ihre Bilder und Vergleiche treffen und überraschen, etwa wenn sie schildert, wie Ruth bei steigendem Alkoholpegel redet: "nicht verwaschen, nur sprunghafter und schneller, Inseln der Genauigkeit, die sie mit Würde davonschwimmen ließ."
Dabei stehen Sucht und Rausch nicht im Zentrum des Buches. Sie sind vielmehr Reaktionen auf die Umstände, unter denen Max, Katja und Ruth leben: Sie kämpfen mit Haarausfall, WG-Castings, Mieterhöhungen, Ehekrisen, prekären Arbeitsbedingungen.
Ein Gefühl der Verlorenheit, des Auf-der-Suche-Seins vereint diese drei Figuren mit der Ich-Erzählerin aus Nina Bußmanns vorherigem Roman "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen". Darin macht sich eine junge Akademikerin aus Frankfurt am Main auf die Suche nach einer Freundin, die in Nicaragua verschollen ist. Eine Reise, die vielmehr eine Flucht ist aus ihrem Alltag in Deutschland, aus der Orientierungslosigkeit, die sie nach ihrer gerade beendeten Promotion erfasst hat.
Manche Erzählstränge verlieren sich
Wie geht es weiter, wenn man nicht mehr weiter weiß? Vor diese Frage stellt Nina Bußmann ihre Figuren immer wieder, ohne eindeutige Antworten zu geben.
Vieles bleibt vage in ihren Büchern. Einen klassischen Spannungsbogen, eine klare Entwicklung gibt es nicht. Gerade für diesen Mut, mit traditionellen Erzählmustern zu brechen, feiern die Feuilletons die Suhrkamp-Autorin seit ihrem Debüt "Große Ferien".
Mit "Dickicht" verfolgt Bußmann, die Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert hat, diesen Ansatz weiter und fordert ihre Leser heraus. Die Handlung verästelt sich, immer mehr Nebenfiguren kommen hinzu. Manche Erzählstränge verlieren sich, münden in Sackgassen. Aber wer sich auf dieses Labyrinth einlässt, wird belohnt: mit Sätzen, Stimmungen und Bildern, die noch lange nachhallen.