Nina Hagen: "Lieben, lieben und nochmals lieben"
Die Skandalsängerin Nina Hagen begrüßt die Protestbewegung in den USA. Doch die Occupy-Bewegung könne nur überleben, wenn sie sich mit vielen Menschen zusammenschließe und gewaltfrei bleibe. Ihr neues Album "Volksbeat" ist auch schon als "Soundtrack für die Occupy-Bewegung" bezeichnet worden.
Andreas Müller: Mit Andreas Müller, schönen guten Tag, und einer berühmten Musikerin.
Nina Hagen: Genau!
Müller: Wahrscheinlich einer der bekanntesten Musikerinnen Deutschlands.
Hagen: Hallo! Ich bin's!
Müller: Eine Wahnsinnskarriere hat sie gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes schillernd war die, und man muss sie nicht mehr vorstellen, wenn man den Namen sagt: Nina Hagen, guten Tag!
Hagen: Ja, liebe Berliner und Berlinerinnen, ich grüße euch aus dem RIAS-Gebäude!
Müller: Ja, genau, das steht auch noch oben drauf.
Hagen: Das steht oben dran.
Müller: Ja, auch wenn wir jetzt Deutschlandradio Kultur sind.
Hagen: Aha?
Müller: Es gibt ein neues Album, das heißt "Volksbeat" - darüber wollen wir gleich unter anderem reden -, und wir hören erst mal ein erstes Stück daraus: "Ick lass mir doch vom Teufel nich‘".
((Musikeinspielung))
Müller: Unverkennbar - Nina Hagen: "Ick lass mir doch vom Teufel nich‘" von der neuen Platte "Volksbeat". Nina Hagen ist hier bei uns zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Im vergangenen Jahr haben Sie ja ein Gospelalbum veröffentlicht: "Personal Jesus". Jetzt kommt der "Volksbeat" - was bedeutet dieser Titel? Sind das neue Lieder fürs Volk oder was ist darunter zu verstehen?
Hagen: Ja, schon immer, schon immer, Leute. Wir sind doch schon immer das Volk, und ein Volk braucht Lieder, ein Volk braucht Vergissmeinnicht, Flower Power, damit wir uns wieder an die tollen Lieder erinnern oder einfach in der Schatztruhe rumwühlen und nach guten Liedern suchen, weil es gibt ja so viele tolle Lieder, die uns stark machen können.
Weil Musik ist Medizin, Musik ist Inspiration, Musik kann Kraft schenken, Freude sowieso, Tanzbein wird auch animiert, in dem Sinne, ja, Musik könnte die Welt retten, wenn denn alle Künstler sich das noch mal überlegen würden, wenn sie mal wie damals in der Protestbewegung, Woodstock.
Vorhin habe ich auch bei einem anderen Radiosender ein Interview gemacht, und da haben die mich gefragt, oh ja, jetzt steht ja überall geschrieben, du bist jetzt Protestsängerin geworden, wo ich gesagt habe: Nein, ich habe das doch nur erzählt bei der Pressekonferenz neulich, dass wir doch damals, wo ich noch jung war - 12, 13 - so inspiriert waren von Woodstock, von Joan Baez, Bob Dylan, und die nannte man damals Protestsänger. Das ist eine alte Tradition.
Müller: Sie haben ja auch - auf der Platte ist das als Hidden Track, wie es so schön heißt, versteckt ganz am Ende, und dann gibt es erst mal eine lange Pause auf der CD, und dann kommt "This Train is bound for Glory" in der deutschen Nina-Hagen-Version, im Original von Woody Guthrie. Und auf dessen Gitarre stand ja in den 30er-, 40er-Jahren "This Machine will kill Fascists", also diese Maschine - damit meinte er seine Gitarre - wird Faschisten töten. Also, kann Musik auch eine Waffe sein?
Hagen: Aber ja, die Liebe ist ja auch die einzige Waffe, die auch wirklich was taugt. Also mit Liebe die Welt verändern, genau das hat ja Jesus gebracht und hat uns ja noch mal das wichtigste Gebot gesagt, dass wir untereinander, dass wir uns fett liebhaben sollen, dass wir uns lieben sollen, dass wir uns nicht von irgendwelchen Machthabern gegeneinander ausspielen lassen sollen, irgendwie die Liebe hochhalten sollen, solidarisch sein. Lieben, lieben und nochmals lieben.
Müller: Jetzt gibt es ja diese Occupy-Bewegung, und natürlich ist diese Platte ja in den letzten Monaten entstanden, bevor es die irgendwie gegeben hat. Und jetzt passt die aber so - kommt so richtig zum richtigen Zeitpunkt. Man könnte fast schon sagen - oder das habe ich sogar schon gelesen -: Das ist so was wie ein Soundtrack für die Occupy-Bewegung. Occupy dies, Occupy das - Zufall oder Vorsehung, oder wie ist das so zu sehen?
Hagen: Na ja, im Grunde genommen der erste Mensch, der occupied hat in den USA, war die Cindy Sheehan, die ihren Sohn im Irakkrieg verloren hat. Das ist eine wunderbare Amerikanerin, die hat vor George Bush, seiner Ranch in Texas gecampt, also okkupiert, besetzt. Und diese Frau ist wunderbar, und dass sich in Amerika so eine Bürgerrechtsbewegung, Protestbewegung entwickelt hat, finde ich auch gut.
Ich finde das immer nur wahnsinnig traurig, wenn dann irgendwelche Leute das unterwandern und dann doch Gewalt anwenden, provozieren, aber mit Gewalt provozieren, nicht mit Liebe und Know-how. Es ist traurig, es ist traurig, mit anzusehen, wie halt eine friedliche Demonstration, wie dann immer ein Typ oder zwei Leute anfangen, die Polizei zu beschimpfen, und dann geht das alles nach hinten los.
Und ich hoffe nur, dass wenn diese Occupy-Bewegung überleben soll, dass die sich wirklich mit allen verbünden, die es nur gibt, auch uns Christen, denn viele von den Occupy-Leuten, die haben die Schnauze voll mit Religion und Bevormundung, und das kann ich auch gut verstehen, aber gerade deswegen hoffe ich - ja, ich hoffe, dass sich das international, dass die Bewegung nicht totzukriegen ist. Klar hoffe ich das.
Müller: Sie haben auf Ihrer Platte Songs von Bob Dylan, Woody Guthrie habe ich schon genannt, Larry Norman - über den reden wir vielleicht gleich noch - gecovert, aber auch ein Lied nachgesprochen ...
Hagen: Brecht.
Müller: ... Brecht ist mit dabei, aber auch ein ganz besonderer Protestsänger, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, und das hören wir jetzt mal, das Lied.
((Musikeinspielung))
Müller: "Noch ein Tässchen Kaffee" ...
Hagen: Happy Birthday!
Müller: Ja, das sollte ...
Hagen: ... mit einem Dylan-Song.
Müller: ... da sollte jetzt eigentlich ein anderes Stück laufen ...
Hagen: Happy Birthday und ein langes, langes, glückliches Leben.
Müller: Genau, denn Nina Hagen, die hier zu Gast ist im "Radiofeuilleton", hat auf ihrer Platte "Volksbeat" auch die "Ermutigung" von Wolf Biermann nachgesungen.
Hagen: Genau, das habe ich 68 auf dem Berliner Alex schon gesungen, damals war weltsozialistisches Jugendtreffen in der DDR, und damals habe ich verbotene Lieder gesungen, und das war auch eine sehr aufregende Zeit.
Müller: Heute dem Stiefpapa schon gratuliert zum Geburtstag?
Hagen: Ja. Ja, ja. Selbstverständlich, ist ja der 15. November.
Müller: Wir haben eben, als die Musik lief, über dieses Stück, was wir gerade gehört haben - es ist eine Nachdichtung von Nina Hagen von Bob Dylans "One more Cup of Coffee before I go", "Nur ein Tässchen Kaffee" in der deutschen Version - haben wir gesprochen.
Hagen: Ja.
Müller: Das Original ist auf dem legendären "Desire"-Album, und ich kann mich erinnern, in der DDR war das ein Riesending, das war geliebt ohne Ende, diese Platte, vielleicht auch, weil es eine Protestplatte zu einer Zeit war, als es kaum Protestplatten gab. Es gab dieses Engagement von Dylan für den Boxer Hurricane, der in einer Todeszelle damals saß und, ich glaube, dann auch sogar hingerichtet wurde.
Hagen: Ja.
Müller: Viele haben sich damals engagiert, dieses "Hurricane" ein achtminütiges Epos. Das hat die Leute damals sehr, sehr mitgenommen. Und Sie haben eben gesagt, Sie haben aber auch mit 15 schon Dylan dann eben auch nachgedichtet.
Hagen: Oh ja, klar, ich habe von der amerikanischen Country- und Westernsängerin Hedy West gelernt, wie man das Countryzupfen macht auf der Gitarre, dieses schöne Dylan-Zupfen. Und Bob Dylan habe ich leider nie kennengelernt bei Wolf, aber ich weiß, dass Dylan auch in der Chaussee-Straße war und Wolf besuch hat, aber leider habe ich das verpasst.
Müller: Ich weiß gar nicht, ob die Biografen das wissen. Da ist jetzt wahrscheinlich eine Riesenlücke gefüllt worden mit dieser Information.
Hagen: Really?
Müller: Na, für die Bob-Dylan-Fans ist doch jetzt ein neuer Kultort damit entstanden, zu dem man pilgern könnte.
Hagen: Ja, Chaussee-Straße!
Müller: Hier trafen sich Dylan und ...
Hagen: Gegenüber von der ehemaligen Westdeutschen Botschaft.
Müller: Man könnte eine Kupferplakette ans Haus anbringen: Hier trafen sich Wolf Biermann und Bob Dylan irgendwann.
Hagen: Ja, und Joan Baez war auch da!
Müller: Noch mal zum "Volksbeat": Also wie gesagt, letztes Jahr Gospel, jetzt eine Fusion aus Rock, Protestsongs, wenn man so will - das Christentum spielt aber eine ganz große Rolle wieder ...
Hagen: Na ja, und der Humanismus, Bertolt Brecht mit dem "Bitten der Kinder" und "An meine Landsleute", das ist ein ganz tief gehendes Friedenslied, ein richtiggehendes Friedensgebet. Die "Bitten der Kinder": "Die Häuser sollen nicht brennen, Bomber sollte man nicht kennen. Die Nacht soll für den Schlaf sein, Leben soll keine Straf‘ sein. Die Mütter sollen nicht weinen, keiner sollte müssen töten einen. Alle sollen etwas bauen, dann kann man allen trauen. Die Jungen sollen's erreichen, die Alten indes dergleichen."
Es ist perfekt, ein perfektes Gebet für Kinder. Und weil wir ja alle Kinder sind, die zwar schon erwachsen geworden sind, aber trotzdem sind wir ja Kinder eines Schöpfers, selbst wenn wir unterschiedliche Religionen haben, bedeutet das noch lange nicht, dass wir unterschiedliche Schöpfer haben. Das wird noch spannend.
Müller: Wenn man auf Ihre Website guckt, da sind dann auch so Ikonen: Martin Luther King zum Beispiel ist zu sehen, noch ein paar andere Menschen, die all das, was sie auch gerade noch mal zusammengefasst haben mit diesen schönen Zeilen, gelebt haben, gekämpft haben. Sie machen das auch schon sehr, sehr lange. Guckt man in die Welt, hört man sich die Nachrichten an, ist es alles aber ganz grauenvoll. Wie können Sie nach all den Jahren immer noch so laufen, sage ich mal, so intensiv diese Botschaft auch unter die Leute bringen?
Hagen: Na ja, weil ich halt als Christ absolute Gewaltlosigkeit und die absolute Liebe leben will. Und wenn ich das nicht täte, dann wäre ich auch kein Christ. Dann wäre ich ja nur einer, der behauptet, Christ zu sein, wie zum Beispiel der Herr George Bush, dem Amnesty International sogar vor einem Jahr noch den Kriegsverbrecherprozess machen wollte. Und jetzt gerade in Malaysia, in Kampur gibt es den ersten internationalen Prozess gegen George Bush und auch Tony Blair. Leider hört man das in unseren Nachrichten nicht, aber es ist ein Fakt, es passiert gerade in Malaysia jetzt, dieser Tage im November, und ich finde, da ist das letzte Wort selbstverständlich nicht gesprochen, auch wenn alle unsere Medien das nicht berichten.
Es gibt Gott sei Dank immer noch das freie Internet, und wir können uns informieren, aber der Schraubstock wird immer, immer doller angezogen, das weiß ich auch. Die Nationen dahinten im Mittleren Osten, die sind alle bis zu den Zähnen bewaffnet und tun sich mit Atombomben drohen - Drohgebärde, der ganze Planet ist in eine einzige Drohgebärde ausgeartet -, und, na ja, ich weiß auch nicht, wie man das verändern kann. Wahrscheinlich nur durch die Liebe, was anderes hat ja bisher nie funktioniert. Eine blutige Revolution hat ja, oder ein gewalttätiger Wandel hat ja immer wieder nur neue Gewalt hervorgebracht oder neue Diktaturen, und deswegen finde ich das auch so toll, was 1989 am 9. November hier bei uns in Deutschland passiert ist: Eine absolut friedliche Wende.
Da ist die Mauer gefallen, und es ist niemand zu Tode gekommen, es ist kein Blut geflossen, es war eine riesige Solidarität unter den Menschen in der ehemaligen DDR, die haben sich in den Kirchenhäusern versammelt, dort haben sie verbotene Witze gerissen, verbotene Lieder gesungen, verbotene Gebete gebetet und verbotene Pläne geschmiedet, und sind montags in einer riesigen Einheit auf die Straßen gegangen zu den Montagsdemos, und haben etwas ganz einmaliges in der Weltgeschichte geschafft, und zwar die friedliche Wende 1989.
Und ich glaube, wenn wir diese Liebe und diese Solidarität, diesen nachbarschaftlichen Zusammenhalt wieder aufbauen können in Deutschland, dann können wir von Deutschland aus die ganze Welt retten. Aber wenn wir das nicht schaffen, wenn wir so weiter vor uns her mausern und diese alte Liebe und Solidarität nicht wieder herstellen und die Kirchen nur offen stehen für Christen und nicht für alle Menschen - ich finde sowieso, Kirchen ... der Liebe Gott braucht doch kein Stein aus Haus, ein Haus aus Stein, aber wir Menschen brauchen das. Mich wundert immer, warum keine Kochherde in den Kirchen sind, um Volksküchen draus zu machen, warum keine Doppelstockbetten da drin stehen mit schicken Vorhängen - kann man ja auf und zuziehen -, dass die Obdachlosen dort unterkommen in den kalten Jahreszeiten, warum die Türen nicht aufstehen, dass wir uns dort versammeln können, dass wir dort unsere Lebensverhältnisse verbessern können. Ich wünsche mir das sehr, dass die Kirchen wieder zu denjenigen Zufluchtsstätten werden, die für die Menschen da sind und nicht für den Lieben Gott. Der Liebe Gott, wie gesagt, der braucht kein Haus aus Stein.
Müller: Vielleicht hört das jemand und wird gleich tätig nach dieser Sendung, vielleicht erleben wir das. Vielleicht zum Abschluss noch: Sie haben eine wahnsinnige Karriere hinter sich. Sie sind Rock'n'Roll irgendwo auch auf eine gewisse Art und Weise.
Hagen: Oh ja!
Müller: Wie leben Sie heute, gehen Sie noch aus, oder sitzen Sie jetzt lieber zuhause, lesen in der Bibel? Wie sieht das Leben von Nina Hagen aus heute?
Hagen: Na ja, ich bin immer noch in der ganzen wilden weiten Welt unterwegs, und wir haben Konzerte in allen Kontinenten, in vielen Ländern, und ich freue mich schon riesig auf die Tour im März, die jetzt kommt. Ich werde zu Weihnachten bestimmt viel Musik und Charity machen bei meiner Tochter in der Sichtbar am Fischmarkt in Hamburg. Meine kleine Chefin ist nämlich eine Veranstalterin, und bei der kann ich Veranstaltungen machen, Lesungen und so weiter.
Ich baue an einem Landsitz für meine Charitys, für meine Freunde, für meine Familie, Cosma auch. Wir wollen auf dem Land was aufbauen, in den alten Bundesländern sind wir schon am Kucken, ich bin schon Immobilienexperte. Wer was von mir wissen will bezüglich Resthof und Bauernhof - also wirklich, in der gesamten ehemaligen DDR weiß ich bescheid, wo es was gibt, Schnäppchen und so weiter -, Hektar und Land. Und das ist ein großer Traum von mir, so was auf die Beine zu stellen, dass man da Ferienlager-Betrieb machen kann. Weil ich bin ja in so vielen Charities die Schirmfrau: Ich bin gegen Kinderarmut e.V., ich bin Schirmfrau von KUFA e.V., wir holen mit CLOF, Creative Lobby of the Future, holen wir jeden Sommer die Kinder aus Tschernobyl, gehen dann nach Berlin zum Sommercamp - ich quatsch mir schon wieder ...
Müller: Den Rest muss man dann auf der Website nachlesen, weil wir wollen zum einen noch ein bisschen Musik hören ...
Hagen: Also Leute, kauft meine Platte, damit das mit dem Bauernhof endlich was wird!
Müller: Nina Hagen, das Gesamtkunstwerk geht weiter, "Volksbeat" ist die neue Platte, und jetzt wollen wir ihn doch tatsächlich noch hören, den Stiefpapa, der heute 75 Jahre alt wird, in der Version allerdings von Nina Hagen. Vielen Dank fürs Kommen!
Hagen: Ja!
Müller: Tschüss!
Hagen: Soldarity mit Occupy Wallstreet!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links bei dradio.de
Weltweite Proteste gegen die Macht der Banken
Demonstranten zeigen Solidarität mit Griechenland
Nina Hagen: Genau!
Müller: Wahrscheinlich einer der bekanntesten Musikerinnen Deutschlands.
Hagen: Hallo! Ich bin's!
Müller: Eine Wahnsinnskarriere hat sie gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes schillernd war die, und man muss sie nicht mehr vorstellen, wenn man den Namen sagt: Nina Hagen, guten Tag!
Hagen: Ja, liebe Berliner und Berlinerinnen, ich grüße euch aus dem RIAS-Gebäude!
Müller: Ja, genau, das steht auch noch oben drauf.
Hagen: Das steht oben dran.
Müller: Ja, auch wenn wir jetzt Deutschlandradio Kultur sind.
Hagen: Aha?
Müller: Es gibt ein neues Album, das heißt "Volksbeat" - darüber wollen wir gleich unter anderem reden -, und wir hören erst mal ein erstes Stück daraus: "Ick lass mir doch vom Teufel nich‘".
((Musikeinspielung))
Müller: Unverkennbar - Nina Hagen: "Ick lass mir doch vom Teufel nich‘" von der neuen Platte "Volksbeat". Nina Hagen ist hier bei uns zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Im vergangenen Jahr haben Sie ja ein Gospelalbum veröffentlicht: "Personal Jesus". Jetzt kommt der "Volksbeat" - was bedeutet dieser Titel? Sind das neue Lieder fürs Volk oder was ist darunter zu verstehen?
Hagen: Ja, schon immer, schon immer, Leute. Wir sind doch schon immer das Volk, und ein Volk braucht Lieder, ein Volk braucht Vergissmeinnicht, Flower Power, damit wir uns wieder an die tollen Lieder erinnern oder einfach in der Schatztruhe rumwühlen und nach guten Liedern suchen, weil es gibt ja so viele tolle Lieder, die uns stark machen können.
Weil Musik ist Medizin, Musik ist Inspiration, Musik kann Kraft schenken, Freude sowieso, Tanzbein wird auch animiert, in dem Sinne, ja, Musik könnte die Welt retten, wenn denn alle Künstler sich das noch mal überlegen würden, wenn sie mal wie damals in der Protestbewegung, Woodstock.
Vorhin habe ich auch bei einem anderen Radiosender ein Interview gemacht, und da haben die mich gefragt, oh ja, jetzt steht ja überall geschrieben, du bist jetzt Protestsängerin geworden, wo ich gesagt habe: Nein, ich habe das doch nur erzählt bei der Pressekonferenz neulich, dass wir doch damals, wo ich noch jung war - 12, 13 - so inspiriert waren von Woodstock, von Joan Baez, Bob Dylan, und die nannte man damals Protestsänger. Das ist eine alte Tradition.
Müller: Sie haben ja auch - auf der Platte ist das als Hidden Track, wie es so schön heißt, versteckt ganz am Ende, und dann gibt es erst mal eine lange Pause auf der CD, und dann kommt "This Train is bound for Glory" in der deutschen Nina-Hagen-Version, im Original von Woody Guthrie. Und auf dessen Gitarre stand ja in den 30er-, 40er-Jahren "This Machine will kill Fascists", also diese Maschine - damit meinte er seine Gitarre - wird Faschisten töten. Also, kann Musik auch eine Waffe sein?
Hagen: Aber ja, die Liebe ist ja auch die einzige Waffe, die auch wirklich was taugt. Also mit Liebe die Welt verändern, genau das hat ja Jesus gebracht und hat uns ja noch mal das wichtigste Gebot gesagt, dass wir untereinander, dass wir uns fett liebhaben sollen, dass wir uns lieben sollen, dass wir uns nicht von irgendwelchen Machthabern gegeneinander ausspielen lassen sollen, irgendwie die Liebe hochhalten sollen, solidarisch sein. Lieben, lieben und nochmals lieben.
Müller: Jetzt gibt es ja diese Occupy-Bewegung, und natürlich ist diese Platte ja in den letzten Monaten entstanden, bevor es die irgendwie gegeben hat. Und jetzt passt die aber so - kommt so richtig zum richtigen Zeitpunkt. Man könnte fast schon sagen - oder das habe ich sogar schon gelesen -: Das ist so was wie ein Soundtrack für die Occupy-Bewegung. Occupy dies, Occupy das - Zufall oder Vorsehung, oder wie ist das so zu sehen?
Hagen: Na ja, im Grunde genommen der erste Mensch, der occupied hat in den USA, war die Cindy Sheehan, die ihren Sohn im Irakkrieg verloren hat. Das ist eine wunderbare Amerikanerin, die hat vor George Bush, seiner Ranch in Texas gecampt, also okkupiert, besetzt. Und diese Frau ist wunderbar, und dass sich in Amerika so eine Bürgerrechtsbewegung, Protestbewegung entwickelt hat, finde ich auch gut.
Ich finde das immer nur wahnsinnig traurig, wenn dann irgendwelche Leute das unterwandern und dann doch Gewalt anwenden, provozieren, aber mit Gewalt provozieren, nicht mit Liebe und Know-how. Es ist traurig, es ist traurig, mit anzusehen, wie halt eine friedliche Demonstration, wie dann immer ein Typ oder zwei Leute anfangen, die Polizei zu beschimpfen, und dann geht das alles nach hinten los.
Und ich hoffe nur, dass wenn diese Occupy-Bewegung überleben soll, dass die sich wirklich mit allen verbünden, die es nur gibt, auch uns Christen, denn viele von den Occupy-Leuten, die haben die Schnauze voll mit Religion und Bevormundung, und das kann ich auch gut verstehen, aber gerade deswegen hoffe ich - ja, ich hoffe, dass sich das international, dass die Bewegung nicht totzukriegen ist. Klar hoffe ich das.
Müller: Sie haben auf Ihrer Platte Songs von Bob Dylan, Woody Guthrie habe ich schon genannt, Larry Norman - über den reden wir vielleicht gleich noch - gecovert, aber auch ein Lied nachgesprochen ...
Hagen: Brecht.
Müller: ... Brecht ist mit dabei, aber auch ein ganz besonderer Protestsänger, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, und das hören wir jetzt mal, das Lied.
((Musikeinspielung))
Müller: "Noch ein Tässchen Kaffee" ...
Hagen: Happy Birthday!
Müller: Ja, das sollte ...
Hagen: ... mit einem Dylan-Song.
Müller: ... da sollte jetzt eigentlich ein anderes Stück laufen ...
Hagen: Happy Birthday und ein langes, langes, glückliches Leben.
Müller: Genau, denn Nina Hagen, die hier zu Gast ist im "Radiofeuilleton", hat auf ihrer Platte "Volksbeat" auch die "Ermutigung" von Wolf Biermann nachgesungen.
Hagen: Genau, das habe ich 68 auf dem Berliner Alex schon gesungen, damals war weltsozialistisches Jugendtreffen in der DDR, und damals habe ich verbotene Lieder gesungen, und das war auch eine sehr aufregende Zeit.
Müller: Heute dem Stiefpapa schon gratuliert zum Geburtstag?
Hagen: Ja. Ja, ja. Selbstverständlich, ist ja der 15. November.
Müller: Wir haben eben, als die Musik lief, über dieses Stück, was wir gerade gehört haben - es ist eine Nachdichtung von Nina Hagen von Bob Dylans "One more Cup of Coffee before I go", "Nur ein Tässchen Kaffee" in der deutschen Version - haben wir gesprochen.
Hagen: Ja.
Müller: Das Original ist auf dem legendären "Desire"-Album, und ich kann mich erinnern, in der DDR war das ein Riesending, das war geliebt ohne Ende, diese Platte, vielleicht auch, weil es eine Protestplatte zu einer Zeit war, als es kaum Protestplatten gab. Es gab dieses Engagement von Dylan für den Boxer Hurricane, der in einer Todeszelle damals saß und, ich glaube, dann auch sogar hingerichtet wurde.
Hagen: Ja.
Müller: Viele haben sich damals engagiert, dieses "Hurricane" ein achtminütiges Epos. Das hat die Leute damals sehr, sehr mitgenommen. Und Sie haben eben gesagt, Sie haben aber auch mit 15 schon Dylan dann eben auch nachgedichtet.
Hagen: Oh ja, klar, ich habe von der amerikanischen Country- und Westernsängerin Hedy West gelernt, wie man das Countryzupfen macht auf der Gitarre, dieses schöne Dylan-Zupfen. Und Bob Dylan habe ich leider nie kennengelernt bei Wolf, aber ich weiß, dass Dylan auch in der Chaussee-Straße war und Wolf besuch hat, aber leider habe ich das verpasst.
Müller: Ich weiß gar nicht, ob die Biografen das wissen. Da ist jetzt wahrscheinlich eine Riesenlücke gefüllt worden mit dieser Information.
Hagen: Really?
Müller: Na, für die Bob-Dylan-Fans ist doch jetzt ein neuer Kultort damit entstanden, zu dem man pilgern könnte.
Hagen: Ja, Chaussee-Straße!
Müller: Hier trafen sich Dylan und ...
Hagen: Gegenüber von der ehemaligen Westdeutschen Botschaft.
Müller: Man könnte eine Kupferplakette ans Haus anbringen: Hier trafen sich Wolf Biermann und Bob Dylan irgendwann.
Hagen: Ja, und Joan Baez war auch da!
Müller: Noch mal zum "Volksbeat": Also wie gesagt, letztes Jahr Gospel, jetzt eine Fusion aus Rock, Protestsongs, wenn man so will - das Christentum spielt aber eine ganz große Rolle wieder ...
Hagen: Na ja, und der Humanismus, Bertolt Brecht mit dem "Bitten der Kinder" und "An meine Landsleute", das ist ein ganz tief gehendes Friedenslied, ein richtiggehendes Friedensgebet. Die "Bitten der Kinder": "Die Häuser sollen nicht brennen, Bomber sollte man nicht kennen. Die Nacht soll für den Schlaf sein, Leben soll keine Straf‘ sein. Die Mütter sollen nicht weinen, keiner sollte müssen töten einen. Alle sollen etwas bauen, dann kann man allen trauen. Die Jungen sollen's erreichen, die Alten indes dergleichen."
Es ist perfekt, ein perfektes Gebet für Kinder. Und weil wir ja alle Kinder sind, die zwar schon erwachsen geworden sind, aber trotzdem sind wir ja Kinder eines Schöpfers, selbst wenn wir unterschiedliche Religionen haben, bedeutet das noch lange nicht, dass wir unterschiedliche Schöpfer haben. Das wird noch spannend.
Müller: Wenn man auf Ihre Website guckt, da sind dann auch so Ikonen: Martin Luther King zum Beispiel ist zu sehen, noch ein paar andere Menschen, die all das, was sie auch gerade noch mal zusammengefasst haben mit diesen schönen Zeilen, gelebt haben, gekämpft haben. Sie machen das auch schon sehr, sehr lange. Guckt man in die Welt, hört man sich die Nachrichten an, ist es alles aber ganz grauenvoll. Wie können Sie nach all den Jahren immer noch so laufen, sage ich mal, so intensiv diese Botschaft auch unter die Leute bringen?
Hagen: Na ja, weil ich halt als Christ absolute Gewaltlosigkeit und die absolute Liebe leben will. Und wenn ich das nicht täte, dann wäre ich auch kein Christ. Dann wäre ich ja nur einer, der behauptet, Christ zu sein, wie zum Beispiel der Herr George Bush, dem Amnesty International sogar vor einem Jahr noch den Kriegsverbrecherprozess machen wollte. Und jetzt gerade in Malaysia, in Kampur gibt es den ersten internationalen Prozess gegen George Bush und auch Tony Blair. Leider hört man das in unseren Nachrichten nicht, aber es ist ein Fakt, es passiert gerade in Malaysia jetzt, dieser Tage im November, und ich finde, da ist das letzte Wort selbstverständlich nicht gesprochen, auch wenn alle unsere Medien das nicht berichten.
Es gibt Gott sei Dank immer noch das freie Internet, und wir können uns informieren, aber der Schraubstock wird immer, immer doller angezogen, das weiß ich auch. Die Nationen dahinten im Mittleren Osten, die sind alle bis zu den Zähnen bewaffnet und tun sich mit Atombomben drohen - Drohgebärde, der ganze Planet ist in eine einzige Drohgebärde ausgeartet -, und, na ja, ich weiß auch nicht, wie man das verändern kann. Wahrscheinlich nur durch die Liebe, was anderes hat ja bisher nie funktioniert. Eine blutige Revolution hat ja, oder ein gewalttätiger Wandel hat ja immer wieder nur neue Gewalt hervorgebracht oder neue Diktaturen, und deswegen finde ich das auch so toll, was 1989 am 9. November hier bei uns in Deutschland passiert ist: Eine absolut friedliche Wende.
Da ist die Mauer gefallen, und es ist niemand zu Tode gekommen, es ist kein Blut geflossen, es war eine riesige Solidarität unter den Menschen in der ehemaligen DDR, die haben sich in den Kirchenhäusern versammelt, dort haben sie verbotene Witze gerissen, verbotene Lieder gesungen, verbotene Gebete gebetet und verbotene Pläne geschmiedet, und sind montags in einer riesigen Einheit auf die Straßen gegangen zu den Montagsdemos, und haben etwas ganz einmaliges in der Weltgeschichte geschafft, und zwar die friedliche Wende 1989.
Und ich glaube, wenn wir diese Liebe und diese Solidarität, diesen nachbarschaftlichen Zusammenhalt wieder aufbauen können in Deutschland, dann können wir von Deutschland aus die ganze Welt retten. Aber wenn wir das nicht schaffen, wenn wir so weiter vor uns her mausern und diese alte Liebe und Solidarität nicht wieder herstellen und die Kirchen nur offen stehen für Christen und nicht für alle Menschen - ich finde sowieso, Kirchen ... der Liebe Gott braucht doch kein Stein aus Haus, ein Haus aus Stein, aber wir Menschen brauchen das. Mich wundert immer, warum keine Kochherde in den Kirchen sind, um Volksküchen draus zu machen, warum keine Doppelstockbetten da drin stehen mit schicken Vorhängen - kann man ja auf und zuziehen -, dass die Obdachlosen dort unterkommen in den kalten Jahreszeiten, warum die Türen nicht aufstehen, dass wir uns dort versammeln können, dass wir dort unsere Lebensverhältnisse verbessern können. Ich wünsche mir das sehr, dass die Kirchen wieder zu denjenigen Zufluchtsstätten werden, die für die Menschen da sind und nicht für den Lieben Gott. Der Liebe Gott, wie gesagt, der braucht kein Haus aus Stein.
Müller: Vielleicht hört das jemand und wird gleich tätig nach dieser Sendung, vielleicht erleben wir das. Vielleicht zum Abschluss noch: Sie haben eine wahnsinnige Karriere hinter sich. Sie sind Rock'n'Roll irgendwo auch auf eine gewisse Art und Weise.
Hagen: Oh ja!
Müller: Wie leben Sie heute, gehen Sie noch aus, oder sitzen Sie jetzt lieber zuhause, lesen in der Bibel? Wie sieht das Leben von Nina Hagen aus heute?
Hagen: Na ja, ich bin immer noch in der ganzen wilden weiten Welt unterwegs, und wir haben Konzerte in allen Kontinenten, in vielen Ländern, und ich freue mich schon riesig auf die Tour im März, die jetzt kommt. Ich werde zu Weihnachten bestimmt viel Musik und Charity machen bei meiner Tochter in der Sichtbar am Fischmarkt in Hamburg. Meine kleine Chefin ist nämlich eine Veranstalterin, und bei der kann ich Veranstaltungen machen, Lesungen und so weiter.
Ich baue an einem Landsitz für meine Charitys, für meine Freunde, für meine Familie, Cosma auch. Wir wollen auf dem Land was aufbauen, in den alten Bundesländern sind wir schon am Kucken, ich bin schon Immobilienexperte. Wer was von mir wissen will bezüglich Resthof und Bauernhof - also wirklich, in der gesamten ehemaligen DDR weiß ich bescheid, wo es was gibt, Schnäppchen und so weiter -, Hektar und Land. Und das ist ein großer Traum von mir, so was auf die Beine zu stellen, dass man da Ferienlager-Betrieb machen kann. Weil ich bin ja in so vielen Charities die Schirmfrau: Ich bin gegen Kinderarmut e.V., ich bin Schirmfrau von KUFA e.V., wir holen mit CLOF, Creative Lobby of the Future, holen wir jeden Sommer die Kinder aus Tschernobyl, gehen dann nach Berlin zum Sommercamp - ich quatsch mir schon wieder ...
Müller: Den Rest muss man dann auf der Website nachlesen, weil wir wollen zum einen noch ein bisschen Musik hören ...
Hagen: Also Leute, kauft meine Platte, damit das mit dem Bauernhof endlich was wird!
Müller: Nina Hagen, das Gesamtkunstwerk geht weiter, "Volksbeat" ist die neue Platte, und jetzt wollen wir ihn doch tatsächlich noch hören, den Stiefpapa, der heute 75 Jahre alt wird, in der Version allerdings von Nina Hagen. Vielen Dank fürs Kommen!
Hagen: Ja!
Müller: Tschüss!
Hagen: Soldarity mit Occupy Wallstreet!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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