Nir Baram: "Im Land der Verzweiflung"

Reportagen gegen den Fatalismus

Straßenszene aus dem Flüchtlingslager al-Amari bei Ramallah. Ein Mann begrüßt einen anderen im Rollstuhl per Handschlag. Im Hintergrund eine heruntergerkommene Häuserzeile, rechts eine Hauswand mit Davidstern.
Das Flüchtlingslager al-Amari bei Ramallah © AFP / Patrick Baz
Von Carsten Hueck |
Der israelische Schriftsteller Nir Baram ist in die besetzten Gebiete gereist und hat mit vielen Palästinensern gesprochen. Seine Schilderungen arbeiten Klischees über Gründe und Lösungsmöglichkeiten des Konfliktes entgegen.
Es gibt derzeit keinen israelischen Autor, der politisch so umtriebig und medial so präsent ist wie der 1976 geborene Nir Baram. Vier Romane hat er geschrieben, zwei davon sind ins Deutsche übersetzt.
Vor etlichen Jahren bereits publizierte Baram gemeinsam mit dem antizionistischen Historiker Shlomo Sand drei kritische Artikel über Staat und Gesellschaft Israels. Er setzte sich darin mit dem Rassismus in seiner Heimat auseinander und forderte eine neue israelische Identität.
Seine Kritik am Status quo im Land setzt er nun in einem neuen Buch fort. "Im Land der Verzweiflung" ist eine Sammlung von Reportagen, die Baram in den vergangenen zwei Jahren für die israelische Tageszeitung "Ha’aretz" verfasst hat.
Der Untertitel verweist auf das Besondere dieses Buches: "Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete". Für europäische Ohren mag das alltäglich klingen. Doch Reisen unternehmen Israelis zwar in die ganze Welt, nicht jedoch über die "Green Line" hinweg. Es sei denn, sie fahren in Uniform in jene Gebiete, die vor allem von den Nationalreligiösen als von Gott verheißen, als das biblische Samaria und Judäa begriffen werden.
Nir Baram widersetzt sich mit seinen Reisen auch dem wachsenden Fatalismus seiner Landsleute. Er sucht das Gespräch mit ehemaligen Häftlingen, die in israelischen Gefängnissen gesessen und dort zu studieren begonnen haben, mit Vertretern palästinensischer Kommunen zwischen israelischen Sperranlagen, israelischen Schikanen und einer korrupten Autonomiebehörde.
Baram erfährt vom unumstößlichen Willen einiger, alle Israelis nach Europa "zurück" zu schicken. Oder von einer verbreiteten Methode der Existenzsicherung: Junge Männer laufen mit Messern auf israelische Soldaten zu und bitten diese, sie zu verhaften. Denn die Familie derjenigen, die in einem israelischen Gefängnis sitzen, wird von der Autonomiebehörde finanziell unterstützt.

Zwei-Staaten-Lösung ist kaum mehr vorstellbar

Der Autor geht in Flüchtlingslager, passiert die Kontrollpunkte der israelischen Armee, trifft in Ramallah junge Frauen, die Hebräisch lernen, um sich beruflich zu qualifizieren, aber noch nie einen Israeli in Zivil kennen gelernt haben. Er spricht mit Kindern, die ihn immer wieder neugierig fragen: "Bist du Jude?"
Und er spricht mit den Bewohnern jüdischer Siedlungen im Westjordanland, deren Standpunkte überraschend differenziert dargestellt werden. Manche rechtfertigen aus realpolitischen Gründen die Unterdrückung der Palästinenser, andere plädieren dafür, deren Lebensverhältnisse zu verbessern, ohne aber den Anspruch auf das Land aufzugeben.
Die Reportagen in der Tradition von Amira Hass oder David Grossman präsentieren Fakten und Befindlichkeiten unideologisch. Sie arbeiten weitverbreiteten Klischees über Gründe und Lösungsmöglichkeiten des israelisch-palästinensischen Konfliktes entgegen. Vor allem macht Baram deutlich, dass beiden Parteien eine Zwei-Staaten-Lösung kaum mehr vorstellbar ist. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass es mögliche Alternativen aufzeigt.

Nir Baram: Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Hanser Verlag, München und Wien 2016
316 Seiten, 22,90 Euro

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