"Solidarität wird von Libertären oft mit Misstrauen gesehen"
Die Rundfunkgebühren beschränkten die Freiheit des Individuums, klagten die Initiatoren des „No Billag“-Volksentscheids. Nach der libertären Logik sollte der Einfluss des Staats reduziert werden. Dabei gehen die Anhänger dieser politischen Philosophie weiter als viele andere.
Weg mit den Rundfunkgebühren – damit hat die No Billag-Initiative die Schweiz beinahe um den unabhängigen Rundfunk gebracht. Niemand sollte für Angebote zahlen müssen, die er selbst nicht nutzt – diese Perspektive hat immerhin ein knappes Drittel der Schweizer überzeugt. Die No-Billag-Befürworter bezweifeln, dass öffentlich-rechtliche Medien ein öffentliches Gut sind und teilen damit eines der zentralen Prinzipien des sogenannten Libertarismus.
Der Libertarismus ist eine Strömung des Liberalismus, erklärt die Philosophin Lisa Herzog. Die Strömung dringt auf radikale Freiheitsrechte der Einzelnen, will die Kompetenzen des Staates stark begrenzen und soziale Koordination weitestgehend dem Markt überlassen. "Was der Libertarismus nicht in den Blick nimmt, ist, dass wir auch gemeinsam mündig sein können und uns gemeinsam politisch für oder gegen bestimmte Dinge entscheiden können und auch für bestimmte öffentliche Güter stimmen können, wenn wir der Meinung sind, dass die besser von der öffentlichen Hand als vom Markt bereitgestellt werden", kritisiert Herzog.
Dass Libertäre öffentlich-rechtliche Medien nicht als unerlässliche öffentliche Güter anerkennen, hat aus Herzogs Perspektive vor allem damit zu tun, dass diese ein großes Interesse am Rückbau des Staats haben. Im Umkehrschluss stellt die libertäre Position sich nicht die Frage, "was die Bedingungen dafür sind, dass eine Demokratie gut funktionieren kann, was wir für die Bereitstellung von vielfältigen, unabhängigen Informationen brauchen, damit unser Gemeinwesen demokratisch gesteuert werden kann".
Typisch für den Libertarismus: Angst vor staatlicher Bevormundung
Charakteristisch für den Libertarismus ist die Angst vor staatlicher Bevormundung. Die starke libertäre Kritik an der von Obama eingeführten Krankenversicherung in den USA deutet Herzog exemplarisch als Unmut gegenüber staatlich verordneter Umverteilung von unten nach oben.
"Umverteilung wird so konzeptualisiert in diesem Denken, dass von den ökonomisch Starken an die ökonomisch Schwachen Geld fließt und das wird als schädliche Anreizsetzung gesehen, weil das so eine soziale Hängematte aufspannen würde. Was dabei unter den Tisch fällt, ist, dass eine Versicherung den Charakter hat, dass es jeden von uns treffen kann und wir deshalb gemeinsam einzahlen. Ein Gedanke gesellschaftlicher Solidarität wird von Libertären oft mit Misstrauen gesehen; wenn jemand sagt, das ist das Gemeinwohl, wird oft unterstellt, es seien in Wirklichkeit irgendwelche Partialinteressen dahinter", führt Herzog aus.
Dieses Misstrauen gegenüber dem Staat erklärt sich historisch aus dem Interesse des Libertarismus, sich vom Realsozialismus und dessen totalitären wie planwirtschaftlichen Auswüchsen abzugrenzen. Dieses Motiv erkennt Herzog auch im Werk des österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen Friedrich August von Hayek, einem der wichtigsten Theoretiker des Libertarismus im 20. Jahrhundert.
Friedrich August von Hayek predigte libertären Hyperindividualismus
"Bei Hayek gibt es ganz dezidiert den Gedanken, dass wenn man anfängt zu sehr die Gemeinschaft zu betonen gegenüber den Individuen, dass man sich dann auf einer schiefen Ebene hin zu einem totalitaristischen System bewegt, in dem am Ende das Individuum komplett von der Gesellschaft unterdrückt, für die Gesellschaft geopfert werden kann". Diese Angst hat, so Herzog weiter, zu einem libertären Hyperindividualismus geführt.
Der Libertarismus fordert entsprechend die Begrenzung des Staatswesens auf einen Minimalstaat, gern auch Nachtwächter-Staat genannt. Dieser soll sein Gewaltmonopol ausschließlich dazu nutzen, Gewalt unter den Bürgern zu verhindern und private Eigentumsrechte zu schützen. Abgelehnt wird hingegen die Vorstellung, erklärt Herzog, dass der Staat in den Dienst des Gemeinwohls gestellt beziehungsweise Ausdruck einer volonté générale sein sollte.
Der Markt eignet sich aus libertärer Sicht am besten für die Koordination gesellschaftlicher Belange, weil er als sich-selbst-steuernde-Maschine angenommen wird, die über den Preis-Mechanismus Angebot und Nachfrage automatisch ins Gleichgewicht bringt. Diese Logik wird im Libertarismus aber überstrapaziert, kritisiert Herzog: "Die Medienlandschaft funktioniert eigentlich nach einer ganz anderen Logik, aber dieses Bild wird dann einfach übertragen, wo es eigentlich nicht angemessen ist."
"Wenn jeder für selber sorgt, ist an alle gedacht"?
Frei nach dem Motto "Wenn jeder für selber sorgt, ist an alle gedacht", verstehen einschlägige Libertäre, wie zum Beispiel auch die prominente Autorin Ayn Rand, Egoismus als Tugend. Würden alle Menschen ungehindert ihren aufgeklärten Eigeninteressen folgen, würde dadurch die größtmögliche Produktivität entfacht, erklärt Herzog den Gedanken dahinter. Ein Teil davon, so die Annahme weiter, käme über freiwillige Spenden der Reicheren auch bei den Armen an und würde den Wohlfahrtsstaat überflüssig machen.
Herzog erkennt in der libertären Ideenwelt ein interessantes Spannungsverhältnis an dieser Stelle – denn warum sollten rationalistische Egoisten ein Interesse an Mildtätigkeit haben, am Ende doch Menschenliebe walten lassen? "Wie das letztlich zusammenzudenken ist, darauf geben diese Leute eigentlich keine Antwort, und vor allem beantworten sie nicht die Frage: Könnten wir nicht die Wirtschaftswelt von vornherein stärker so gestalten, dass Solidarität, Sinnstiftung und Anerkennung von anderen schon im wirtschaftlichen Prozess einen gewissen Raum haben", beanstandet Herzog.
Wie Selbstbestimmung heute denken, wie Freiheit vor staatlichen Übergriffen schützen, das sind wichtige Fragen, da ist sich Lisa Herzog sicher, die wir uns heute stellen müssen, allerdings ohne die Schwächen des Libertarismus zu übernehmen:
"Einer der zentralen Denkfehler, den die Libertären oft machen, ist, dass sie sehr unperfekte Staaten mit perfekten Märkten vergleichen und das erzeugt natürlich ein Ungleichgewicht. Realistischerweise müssen wir fragen: Wie können wir die Selbstbestimmung der Einzelnen gewährleisten, angesichts der Tatsache, dass sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen Strukturen nie zu hundert Prozent perfekt sind und wir oft nach so einem prekären Gleichgewicht zwischen beiden suchen müssen."