Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?
Aus dem Amerikanischen von Michael Schoffmann
248 Seiten, 26 Euro
Suhrkamp, Berlin 2016
Sozialist und Skeptiker
Noam Chomsky ist einer der bekanntesten linken Intellektuellen der USA. Sein neues Buch stellt die titelgebende Frage: "Was für Lebewesen sind wir?" Die Antworten sind nicht so klar, wie man vermuten würde. Chomsky liest sich wie eine Mischung aus Sisyphos und Karl Marx.
"Fortschritt ist langsam, aber über lange Zeithorizonte hinweg dramatisch", befand vor ein paar Jahren US-Forscher Noam Chomsky. Der Linguist, politische Aktivist und weltweit vielzitierte Wissenschaftler gilt selbst als lebendes Beispiel für den Siegeszug geistiger Aufklärung.
Umso überraschter ist man, in seinem neuen Buch auf einen Fortschrittsskeptiker zu treffen. Darin beschwört der heute 88-Jährige nämlich die "Geheimnisse, die für die menschliche Intelligenz undurchdringlich sind".
"Was für Lebewesen sind wir" ist kein Buch im klassischen Sinn, bündelt der Band doch die vier Vorträge der Dewey-Lectures, die Chomsky 2013 an der New Yorker Columbia-University gehalten hat. Auf den ersten Blick gehören die vier Fragen, die er darin stellt, nicht zwingend zusammen. Doch was naturphilosophische Reflexionen wie "Was ist Sprache?", "Was können wir verstehen?", "Die Geheimnisse der Natur" mit der politischen Frage "Was ist Gemeinwohl?" verbindet, ist, dass die Antworten darauf immer unklarer werden.
Ein verkümmertes Konzept von Demokratie
Diese für die menschliche Intelligenz undurchdringlichen Geheimnisse lokalisiert Chomskys einerseits in der Sprache. Sie ermögliche dem Menschen zwar ein "unbegrenztes Spektrum hierarchisch strukturierter Ausdrücke" und kreativer Assoziationen, die ihn vom Tier unterscheiden. Die meisten Prozesse in diesem "biologischen Objekt" blieben uns aber ebenso unzugänglich wie der größte Teil dessen, was wir denken.
Seine "Unwissenheitshypothese" gründet Chomsky aber auch auf Newtons Schwierigkeiten, Gravitation und Bewegung mit dem mechanischen Weltbild zu erklären, auf Darwins Problemen, sich Denken als "Sekret" des Gehirns vorzustellen und auf dem Unvermögen der modernen Neurophysiologie, zu verstehen, wie das Nervensystem "rechnet" und einen "freien Willen" hervorbringt.
Diese Beschränkungen müssen die Menschen als "soziale Geschöpfe" aber nicht davon abhalten, sich die "Glückseligkeit der anderen zum Bedürfnis" zu machen. Gegen das "verkümmerte Konzept von Demokratie", das die Bürger "als Zuschauer, nicht als Handelnde" sieht, setzt Chomsky darauf, die "Plutokratie" USA in eine "demokratische gesellschaftliche Ordnung" zu transformieren.
Die USA als "Schurkenstaat"
Chomskys Überlegungen sind keineswegs neu. Mit ihnen reiht er sich ein in die Kette der Fortschrittszweifler von Aristoteles bis Daniel Stoljar. Trotz ihres rhetorischen Charakters sind diese Lectures aber vor allem das faszinierende Beispiel der Selbstprüfung einer Intelligenz: universal gebildet, unerbittlich logisch, souverän, aber immer selbstkritisch.
Chomsky stellt die These auf, dass die Welt letztlich nicht komplett verständlich ist. Trotzdem, argumentiert er, sollte man nicht aufhören, "verständliche erklärende Theorien" über sie aufzustellen. Fortschritt wäre also nichts anderes, als das Denken auch dann nicht aufzugeben, wenn wir an "Grenzen des Verständnisses" stoßen.
Da klingt der radikale Sozialist, für den die USA unbezweifelbar ein "Schurkenstaat" sind, plötzlich wie ein gemäßigter Skeptiker: eine Mischung aus Sisyphos, Karl Marx und Karl Popper.