Sonja Eismann ist Mitbegründerin und -herausgeberin des "Missy Magazine" und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie schreibt, referiert und unterrichtet zu Themen rund um Feminismus und Popkultur. Zuletzt gab sie im März 2019 gemeinsam mit "Missy"-Chefredakteurin Anna Mayrhauser die Literaturanthologie "Freie Stücke. 15 Geschichten über Selbstbestimmung" heraus.
Das einsame Genie gibt es nicht mehr
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Die diesjährige Nobelpreissaison ist fast vorbei. Wieder wurden außergewöhnlich kluge Menschen ausgezeichnet. Genies? Ja und nein, denn um als solches zu gelten, muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen, meint die Publizistin Sonja Eismann.
Seien wir ehrlich. Wenn wir das Wort Genie hören, ploppen vor unserem geistigen Auge spontan die immer gleichen Bilder auf: Personen mit wirrem Haar und noch wilderem Blick, die manisch ihr ganzes Leben ihrer Berufung in Kunst oder Wissenschaft unterordnen und dabei keinerlei Rücksicht auf Verluste nehmen. Diese Personen sind nicht nur in unserer Vorstellung meist männlich, weiß und schon etwas älter – ein bisschen so, wie sich Kinder einen biblischen Gott ausmalen –, sondern sie sind es auch de facto. Denn wer in unserer Gesellschaft den Stempel Genie verpasst bekommt, entspricht auch heute noch oft diesem Muster.
Wessen Leistung gilt als wichtig?
Dazu ein kleiner Test: Wenn Sie an das Wort Genie denken, fällt Ihnen da eher Albert Einstein oder Marie Curie ein? Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir? Joseph Beuys oder Rosemarie Trockel? Peter Handke oder Toni Morrison? Ganz egal, wessen Leistung wir bei genauem Nachdenken als wichtig einschätzen oder wen wir sympathisch finden: Das Genie ist selten jemand anderes als ein weißer Mann. Es sei denn, es handelt sich um populäre Domänen wie Unterhaltung oder Sport, in denen auch Schwarze Männer wie Miles Davis oder Michael Jordan Genialität beanspruchen dürfen, weil es dort eben nicht primär um Intellekt und künstlerische Feinsinnigkeit geht, sondern um Körper und Gefühl.
Bereits 1989 stellte die britische Philosophin Christine Battersby in ihrem Text "Gender and Genius" fest, dass wir bis in die Postmoderne hinein wesentlich von einem im 19. Jahrhundert geprägten Geniusbegriff ausgehen, der explizit antiweiblich grundiert war. Während Melancholie und Wahnsinn bei Männern der Genialität zuträglich waren, führten sie bei Frauen in der damaligen Vorstellung nur zu Hysterie und einem vernebelten Geist.
Ressourcen und Bildung sind entscheidend
Doch natürlich liegt es nicht ausschließlich an der gesellschaftlichen Wahrnehmung, dass nur ein bestimmter Personenkreis die Adelung als Genie für sich in Anspruch nehmen darf, sondern auch am handfesten Zugang zu Bildung, zu Ressourcen, zu Vorbildern. Wie wir alle wissen, waren dieser Zugang und das damit einhergehende Selbstbewusstsein, sich selbst als genial zu entwerfen, sehr lange Zeit nur der Gruppe vorbehalten, aus der die meisten Genies hervorgingen. So ist es sicherlich kein Zufall, dass es bis einschließlich letztes Jahr 869 Nobelpreisgewinner und nur 54 Gewinnerinnen gab.
Dass der Nobelpreis für Chemie dieses Jahr an zwei Frauen ging, Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, und der Literaturnobelpreis an Louise Glück, ist sicherlich ein Indiz dafür, dass die Zeiten sich ändern.
Den Geniusbegriff infrage stellen
Vielleicht sollten wir den Moment der Nobelpreisverleihungen aber nutzen, den Geniusbegriff an sich infrage zu stellen. Die Idee des manischen Wissenschaftlers, der alleine in seinem Kämmerlein an genialen Welterklärungszusammenhängen werkelt, ist im Zeitalter globaler Kooperation obsolet. Die meisten Papers werden heute in Teams geschrieben. Viele Ideen entstehen in großen Forschungsprojekten. Konzepte werden in Netzwerken diskutiert. Zudem verbirgt das Konstrukt des einsamen Genies auch, dass es eine Person braucht, die dessen Arbeitskraft durch Versorgung und Hausarbeit reproduziert.
Das ist in vielen Fällen eine Partnerin, die diese Konzentration überhaupt erst möglich macht. Ganz davon abgesehen, dass viele Genies ihre Ideen im Austausch mit ihren vermutlich nicht minder genialen Gattinnen hatten, letztere in den Geschichtsbüchern aber kaum Erwähnung fanden – wie heute auch die Armadas von studentischen Hilfskräften, die ihren berühmteren Profs zuarbeiten, ohne namentlich aufzutauchen.
Gerade die schwierigen letzten Monate haben gezeigt, dass es auch in der Wissenschaft keine absolute Gewissheit gibt und vor allem keine unfehlbaren Genies. Stattdessen bringt uns Kooperation als Gesellschaft weiter, wie auch die unermüdliche Einsatzbereitschaft von Menschen abseits von Spitzenpositionen in der Pandemie gezeigt hat. Und genau diese Kooperation war und ist, wenn auch auf ganz andere Weise, schlicht genial.