Noch viele Barrieren im Kopf beim Thema Inklusion

Armin von Buttlar von der Aktion Mensch kritisiert, dass die Idee der Inklusion in Deutschland zwar angekommen, in der praktischen Umsetzung aber noch nicht weit gekommen sei. So sei etwa die Zahl der Arbeitslosen mit Behinderungen gestiegen.
Korbinian Frenzel: Die starke Gesellschaft schließt Schwache ein. Joachim Gauck hat das vor ein paar Monaten beim Kirchentag gesagt und das ist so ein Satz, den wahrscheinlich alle sofort unterschreiben, vor allem, wenn es wie dort um Menschen mit Behinderung geht. Nur, diesen Satz nicht nur zu sprechen, sondern ihn zur Politik zu machen, das ist eine ganz andere Leistung. Wie es darum steht, wie gut das, was heute Inklusion genannt wird, funktioniert oder eben auch nicht, das ist jenseits der großen Schlagzeilen nach dieser Wahl ein Thema, das wir aufgreifen möchten mit Armin von Buttlar. Er ist im Vorstand der Aktion Mensch, jetzt am Telefon. Guten Morgen!

Armin von Buttlar: Ja, schönen guten Morgen!

Frenzel: Herr von Buttlar, alle reden heute von Inklusion. Was ist das eigentlich, was ist die Idee hinter diesem Begriff?

von Buttlar: Die Idee hinter der Inklusion ist, dass eigentlich jeder Mensch, egal welche Stärken oder Schwächen er hat, von Anfang an als voller Teil der Gesellschaft dazugehört, und dass man nicht unterscheidet zwischen Migranten oder nicht Migranten oder zwischen Menschen mit und ohne Behinderung oder Schwarz und Weiß, sondern dass man sagt, jeder hat Stärken und jeder hat etwas beizutragen.

Frenzel: Das heißt also, wenn es um Inklusion geht, da reden wir jetzt nicht nur von Menschen, ich denke natürlich sofort klassischerweise an Menschen im Rollstuhl zum Beispiel?

""Die Arbeitslosenzahl bei Menschen mit Behinderung ist gestiegen""
von Buttlar: Ja, wir tun das als Aktion Mensch natürlich auch, weil das unser Schwerpunktthema ist. Aber Inklusion geht weit darüber hinaus. Es besagt, dass man alle Menschen, die in der Gesellschaft vorhanden sind, auch vollwertig in der Gesellschaft leben lässt und sie als wertvollen Teil einschätzt und sie teilhaben lässt.

Frenzel: Bevor wir auf die ganz praktischen Dinge kommen, was dafür notwendig ist und wie weit wir da sind, erst mal von der Idee her, von der Idee der Inklusion, dass eben zusammen gelebt werden soll, nicht getrennt: Haben Sie den Eindruck, dass diese Idee in der Gesellschaft angekommen ist?

von Buttlar: Die Idee ist sicherlich in der Gesellschaft angekommen, aber die Frage der praktischen Umsetzung ist noch nicht beantwortet. Ich will mal eine ganz einfache Rückfrage stellen: Wie häufig hat der Mensch, der normal arbeitende und lebende Mensch zu tun mit Menschen mit Behinderung zum Beispiel? In der Schule, im Arbeitsfeld, im täglichen Umfeld der Freizeit? Normalerweise hat man eigentlich kaum Berührungspunkte. Und daher ist zwar die Inklusion vielleicht von der Idee angekommen, aber in der praktischen Umsetzung noch nicht sehr weit gekommen.

Frenzel: Dann schauen wir mal in die Praxis, nehmen wir zum Beispiel den Arbeitsmarkt: Wenn man sagt, Inklusion, Menschen mit Behinderung sollen dort auch einfach ganz normal mitarbeiten können, ist es denn besser geworden, gibt es mehr Menschen mit Behinderung in ganz regulären Jobs heutzutage?

von Buttlar: Wenn man sich die Arbeitsmarktentwicklung der letzten Jahre anschaut, da, muss man sagen, haben wir ja eine sehr schöne Entwicklung, die Arbeitslosigkeit ist deutlich rückläufig. Das ist leider für Menschen mit Behinderung anders. Selbst Menschen mit Behinderung mit guter Ausbildung nehmen leider an diesem Aufschwung nicht teil, die Arbeitslosenzahl bei Menschen mit Behinderung ist gestiegen.

Frenzel: Woran liegt das, haben Sie dafür Erklärungen?

""Berührungsängste, Unwissenheit, Sorge""
von Buttlar: Es gibt sicher unterschiedliche Erklärungen. Man muss sagen, bei großen Unternehmen und auch bei öffentlichen Arbeitgebern ist heute die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung eigentlich schon sehr weit fortgeschritten. Schwerer tun sich mittelständische und Kleinunternehmen. Das hat sicherlich viel mit Berührungsängsten zu tun, mit Unwissenheit und auch mit der Sorge, dass man sich ein weiteres Problem, in Anführungsstrichen, einhandelt, wenn man Menschen mit Behinderung beschäftigt, anstatt die Chancen und die positive Seite von Menschen mit Behinderung zu erkennen und Fähigkeiten zu nutzen, die vielleicht andere Menschen nicht so haben.

Frenzel: In den Medien geht es ja beim Thema Inklusion immer ganz stark um die Bildung, um Schulen. Ich habe in der Vorbereitung auf unser Gespräch mal in unser Archiv geschaut und bei dem Stichwort Inklusion finden sich vor allem Berichte und Artikel darüber, dass an allen Ecken und Enden das Geld fehlt, dass häufig sogar noch zusammengestrichen wird, was mal da war an Geld, zum Beispiel beim behindertengerechten Umbau von Schulen. Haben wir da vielleicht eine gute Idee, aber schlicht zu wenig Mittel für die Umsetzung?

von Buttlar: Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt und ich glaube, das kann eigentlich nicht die Begründung sein, dass Inklusion insbesondere in der Bildung so schwierig ist. Unsere Erfahrung ist, dass es dort sehr viel Berührungsängste gibt, sehr viel Barrieren im Kopf, Ängste von Lehrern, weil sie die pädagogische Ausbildung nicht haben für Menschen mit Behinderungen, Ängste bei Eltern insbesondere von Kindern, die nicht behindert sind, dass sie nicht mehr die Förderung bekommen, die sie gerne hätten, Ängste von Eltern von Kindern mit Behinderung, dass sie nicht mehr die Unterstützung haben, die ihre Kinder in den Förderschulen haben. Also, da gibt es sehr viel in den Köpfen zu tun. Die reinen Kosten sind sicherlich anfangs etwas höher, weil man natürlich die Regelschule besser ausstatten muss, man muss Umbauten machen, man muss auch die Lehrer schulen, aber auf die Dauer wird es sicherlich nicht teurer, weil man, wenn die Regelschule entsprechend vorbereitet ist, ja auch die Förderschulen zurückbauen kann.

Frenzel: Aber ich verstehe Sie schon richtig, das ist jetzt nicht alleine ein finanzielles Problem, also da muss ganz viel in den Köpfen passieren?

""Es muss sehr viel in den Köpfen passieren""
von Buttlar: Das ist eigentlich das Hauptthema, es muss sehr viel in den Köpfen passieren und es muss natürlich auch sehr viel Ausbildung passieren, weil der Lehrer an der Regelschule heute auf dieses Thema nicht vorbereitet ist.

Frenzel: Wir reden ja ganz speziell über dieses Thema nach der Bundestagswahl, weil wir jenseits des Parteienstreits über die zentralen Probleme sprechen wollen, die anstehen. Was ist denn Ihr Eindruck? Ich kann Ihnen ja mal meinen schildern, in den Sonntagsreden sind sie alle für die Inklusion, und am Montag wird dann aber konkret gar nichts getan. Teilen Sie diesen Eindruck?

von Buttlar: Ich würde nicht teilen, dass gar nichts getan wird. Wenn man sich anguckt zum Beispiel die Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Menschen, hat sich schon in den letzten Jahren deutlich verbessert, in vielen öffentlichen Bereichen, im öffentlichen Verkehrsnetz ist für diese Art der Behinderung Abhilfe geschaffen worden. Es gibt noch viele Bereiche insbesondere bei den sinneseingeschränkten Menschen, wo Barrierefreiheit nicht funktioniert. Wir haben heute noch wenig auch für Menschen mit Lernbehinderungen, Thema zum Beispiel einfache Sprache, wo noch viel zu wenig gemacht wird. Ich würde nicht sagen, es sind Sonntagsreden, ich glaube aber, die Intensität könnte deutlich steigen, wenn etwas mehr Geld bereitgestellt würde und wenn vor allem an den Barrieren im Kopf noch stärker gearbeitet würde.

Frenzel: Haben Sie denn ganz konkrete Wünsche an eine politische Vereinbarung, die jetzt geschlossen werden müsste?

von Buttlar: Na ja, es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention, wo klar drin steht, dass wir in Deutschland uns der Inklusion verschrieben haben, und die politische Elite oder die politischen Verantwortlichen müssen diese UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen. Dazu sind sie verpflichtet. Und da muss aus meiner Sicht an vielen Stellen noch deutlich mehr getan werden.

Frenzel: Das sagt Armin von Buttlar, Vorstand der Aktion Mensch. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

von Buttlar: Ja, gerne, und einen schönen Tag noch!

Frenzel: Ihnen auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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