Noemi Harnickell: "Verstörend betörend"
© HarperCollins
Ein faszinierender Ritt durch die Kulturgeschichte der Orchidee
06:48 Minuten
Noemi Harnickell
„Verstörend betörend. Im Bann der Orchidee“Harper Collins, Hamburg 2022240 Seiten
20,00 Euro
Die Schweizer Autorin Noemi Harnickell erzählt die Kulturgeschichte der Orchidee von ihrer Entdeckung und Kultivierung, über ihre Bedeutung für die Kunst bis hin zum Supermarktprodukt. Auch was es mit dem Sphinxfalter auf sich hat, erfährt man dabei.
Angraecum sesquipedale – die Sternorchidee – hatte Charles Darwin Rätsel aufgegeben. 1857 war die in Madagaskar heimische Pflanze das erste Mal nach England verschifft worden. Sie galt als rare Schönheit, doch was hatte es bloß mit der über 30 Zentimeter langen Nektardrüse auf sich? Der Naturforscher und seine Zeitgenossen kannten kein Insekt, das ein solches Wunderwerk hätte bestäuben können.
Darwin experimentierte mit Härchen, Borsten und Stäbchen bis es ihm gelang, die klebrige Pollenmasse, Pollinium genannt, aus der Tiefe herauszuziehen. Das, so vermutetet er, könne nur ein großer Falter mit sehr langem Rüssel bewerkstelligen. Unvorstellbar, unkten die Kollegen, und es dauerte tatsächlich noch 41 Jahre bis 1903, 20 Jahre nach dem Tod des Forschers, der Sphinxfalter auf Madagaskar entdeckt und Darwins These bestätigt wurde.
Europa im "Orchideenfieber"
Es sind faszinierende Geschichten, die Noemi Harnickell in „Verstörend Betörend. Im Bann der Orchidee“ erzählt. Über zwei Jahre recherchierte die Schweizer Autorin in botanischen Gärten und Herbarien von London bis Leiden. Sie besuchte riesige Produktionsanlagen in den Niederlanden und kleine Illustratoren-Ateliers in Wien. Sie sprach mit Züchtern und Sammlerinnen, mit Vanille-Fans und Herstellern des aus den Knollen gewonnenen Getränks Salep und tauchte dabei tief ein in die Evolutions- und Kulturgeschichte der auf Bäumen, Steinen und der Erde wachsenden Pflanze.
Die Autorin geht auf ihren Streifzügen nicht streng systematisch vor. Vielmehr wird ihr der jeweilige Besuchsort zum Ausgangspunkt tiefer gehender Betrachtungen. So schreibt sie beispielsweise beim Besuch der Londoner Kew Gardens über die ersten Importe von Orchideen aus den britischen Kolonien im 19. Jahrhundert und die Anfänge der europäischen Orchideenzucht. Die ersten Gewächshäuser wurden dabei eher zu Friedhöfen, zu schwierig war die Handhabung der Exoten und zu wenig wusste man über Haltung oder Vermehrung.
Der Begeisterung der Europäer für die Pflanzen tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Europa war bald im „Orchideenfieber“, die Pflanzen wurden zum Luxus- und Handelsobjekt und hielten Einzug in Kunst und Literatur; etwa in Shakespeares "Hamlet", wo sie in Ophelias Haarkranz auftauchten. Das Motiv findet sich heute in vielen Gemäldegalerien. Schließlich bahnten sich die Blumen ihren Weg in die vornehmen Salons, dann in die bürgerliche Stube und heute sind sie gar im Supermarkt zu finden.
Großproduktion in Madagaskar
Das zu lesen, ist spannend, zumal Noemi Harnickell weite Erzählbögen schlägt. Ihr Exkurs etwa zur Vanille, der einzigen Orchidee, deren Früchte essbar sind, reicht von einem spanischen Kompendium über aztekische Heilkräuter aus dem Jahr 1552, über die Entdeckung der manuellen Bestäubung 1839 auf der Insel La Réunion bis zur heutigen Groß-Produktion in Madagaskar. Wer dort, unter welchen Bedingungen arbeitet, und wo der Gewinn landet – auch davon weiß die Autorin zu berichten.
Nur ein Manko hat das lesenswerte Buch: es findet sich darin nicht eine einzige Abbildung. Wie schade.