Noémi Kiss: "Balaton"
Aus dem Ungarischen von Eva Zador
Europa Verlag, München 2021.
168 Seiten, 18 Euro
Von Honeckerlatschen und einem untergegangenen Lebensgefühl
05:43 Minuten
Der Balaton war besonders zur Zeit des Sozialismus ein legendärer Urlaubsort. Noemi Kiss spürt in ihren Novellen einem untergangenen Lebensgefühl nach. Und der ungarische See entpuppt sich nicht nur als Sehnsuchts-, sondern auch als Schicksalsort.
Der Balaton ist seit Jahrzehnten die "Badewanne Ungarns", ja Europas, insbesondere im Sommer. Nicht zufällig zieren also einige Urlaubsfotos den Band "Balaton" von Noémi Kiss. Tatsächlich erzählt die 1974 geborene Ungarin auch von den schönsten Monaten des Jahres. Allerdings ist der Plattensee ihr nicht nur ein Sehnsuchts-, sondern auch ein Schicksalsort.
Mehr-Bier-Deutsche
Mit "Honeckerlatschen" beginnt das Buch. Die Holzpantoffeln mit einem Lederriemen tragen Deutsche aus dem Osten. Kiss nennt sie die "Ein-Bier-Deutschen", die anderen sind die Mehr-Bier-Deutschen. Die Bierliebhaber aus der DDR und der BRD sind oft miteinander verwandt oder befreundet und wollen sich unkompliziert treffen. Die deutsche Einheit stellte sich zuerst am Plattensee her – weshalb die Stasi eine eigene Balaton-Brigade aufstellte. György Dalos hat diese Brigade vor Jahren zu einem Roman inspiriert.
Kiss war damals ein Kind. Sie erzählt von der innigen Freundschaft zu Heidi, die eines Tages mit den Eltern nach Budapest fährt und von dort in den Westen ausreist. Eine Postkarte trifft noch ein, auf der die Familie bittet, auf die in Budapest zurückgelassene Campingausrüstung achtzugeben, "die könnten sie noch brauchen, denn im Westen hätte man viel mehr Urlaubstage". Heidis Unterschrift fehlt auf der Karte.
Kein klarer Handlungskern
Ähnlich unspektakulär und lässig sind die anderen "Novellen", wie im Ungarischen eine anekdotische, am Ende überraschende Erzählung genannt wird. Manche wirken hingeworfen, andere sind aufwändig konstruiert, parallelisieren zwei Ebenen, integrieren Dokumente, entwerfen kleine Sittenbilder von verwandtschaftlichen Beziehungen und umspielen immer wieder die ungarische Sehnsucht nach dem Ausland.
Oft haben die Erzählungen keinen klaren Handlungskern, sind montiert aus einzelnen Szenen. Kiss erzählt, was die hochdekorierten, politisch wichtigen Sportler tun, die ins Ausland reisen dürfen, die ein Haus am Balaton besitzen und die ihre Privilegien ungeniert ausstellen. Sie folgt dem jungen Mädchen, das sich auszieht und nackt herumläuft, weil sie der Badeanzug stört, das ins Spiel vertieft bleibt, obwohl sie weiß, dass sie sich einen schmerzhaften Sonnenbrand holen wird; das sich lustvoll im Matsch wälzt, obwohl ihre Mutter sie dafür ohrfeigen wird.
Auch diese Kindheitsmotive lassen sich – wie die Sehnsucht nach dem Ausland – als Zeichen einer Abweichung lesen. Kiss spürt einem untergegangenen Lebensgefühl aus spätsozialistischen Zeiten nach.
Balaton auch als gefährlicher Ort
Sie zeigt den Balaton jedoch auch als gefährlichen Ort, an dem sich Scheidungen ereignen, Krankheiten ausbrechen, lebensgefährliche Unfälle passieren, Leichen angespült werden. Kiss tupft gekonnt, voller Auslassungen, hin, was sich dem Verständnis der meist kindlichen oder jugendlichen Erzählerin entzieht. Und wenn in "Mädchen aus dem Kanal" eine Erwachsene das Leben eines tot im Balaton gefundenen Mädchens recherchiert, zeichnen auch die Dokumente – das Geständnis der Mutter, ein psychiatrisches Gutachten, Verhörprotokolle, ein Gerichtsurteil, ein Gnadengesuch – ein unvollständiges, vieldeutiges Bild.
In Kiss' erstem Buch "Was geschah während wir schliefen" (2008) sind die Erzählerinnen existenzielle Wahrheitssucherinnen, die eine zweite Wahrheit und eine zweite, reflektierte Naivität kennen. Die neuen Erzählungen kreisen nicht mehr um die der Wahrheit, sie suchen und finden ein Schweben, Treibenlassen, Dümpeln, das dem Lebensgefühl am Balaton entspricht.