Nörgeln statt singen

Von Blanka Weber |
Wenn der Chor die Bühne betritt, sind viele im Publikum überrascht: keine sanften Töne, sondern gesprochenes Wort flutet durch den Raum. Der Inhalt: alles, was die Chormitglieder nervt. Privates, Kultur, Politik - in Dramaturg Lennart Naujoks Chor wird genörgelt, was das Zeug hält.
"Also ich komme nicht aus Altenburg. Ob jetzt mehr genörgelt wird als woanders, weiß ich nicht genau. Aber es wird schon viel genörgelt. Ich glaube, dass ist sowieso so ein Nationalsport. Vielleicht auch international."

Lennart Naujoks stammt aus Berlin, ist 31 Jahre alt und vermutlich der bundesweit einzige Chef eines Wutbürger-Chores, der nicht singt, sondern nörgelt:

"Nörgeln ist billig, kostet gar nichts, ist effektiv. Man fühlt sich danach sofort gut, es werden Endorphine freigegeben, der Körper hat gleich das Gefühl, man hat ein Erfolgserlebnis, das macht auch noch glücklich das Nörgeln. Ich kann verstehen, warum das so ein Volkssport ist."

Seine Chormitglieder dehnen und zerren die Laute. Es ist ein fein gewebter Klangteppich aus wütenden Worten

Eine gute Stimme braucht man bei uns nicht, sagt Lennart Naujoks, der zwischen den Theaterhäusern in Gera und Altenburg pendelt, dort die Produktionen des Schauspiels betreut. Einmal pro Woche arbeitet der Dramaturg nicht mit Schauspielern, sondern mit Laien. Mit seinem Chor trifft er sich in einem alten Probenraum des Theaterhinterhauses, in einem leicht verfallenen Trakt mit hohen, vergilbten Wänden, abgeschabter Farbe und dem Charme einer vergangenen Zeit. Die Chormitglieder, so sagt er, kommen aus allen Berufs- und Altersgruppen, manche sind Rentner, manche in der Ausbildung und manche sind arbeitslos.

"Die haben alle sehr viel Courage. Und ich finde, es ist ja auch schon sehr mutig, sich hinzustellen und diesen Chor zu machen. Das alleine ist schon eine beachtliche Leistung. Und man merkt ihnen an, dass es couragierte Menschen sind, die sich Gedanken machen."

Knapp 20 Menschen gehören zum Nörgel-Chor. Die Jüngste ist 18 und die Älteste 71 Jahre. Monika Bachmann, eine ehemalige Kranführerin mit vier Zertifikaten, betont die zierliche Dame mit dem fein gewellten, weißen Haar.

"Wir sagen, was wir sagen können und dürfen, was andere auch gern sagen möchten und können es nicht."

Kulturabbau, störende Hundehaufen oder ein Bahnhof ohne Toilette - es gibt keine Tabus, sagt Lennart Naujoks:

"Das geht ziemlich durch die Bank weg. Wir haben Themen, die sind privat, der Körper, die Gesundheit und es geht bis hin zu gesellschaftsrelevanten Grundfragen. Ist das System, in dem wir leben, das falsche, das wir gar nicht mehr bei uns sein können und deswegen erstmal über andere nörgeln müssen, weil wir gar nicht mehr in uns reinhorchen."

"Wenn ich mal was zu sagen hätte, wenn mir mal jemand zuhören würde ..."

Mittlerweile hatte der Chor einige Auftritte. Meist im Theater von Altenburg vor Premieren oder zu Stadtfesten. Detlef Gensch ist einer von ihnen, 53 Jahre alt. Er arbeitet im Krankenhaus der Stadt:

"Es soll ja bei der Bevölkerung etwas hängen bleiben, ich denke schon, dass wir das treffen. Das sieht man auch an dem Beifall, den wir bekommen haben. Das war ja Wahnsinn."

Wortgeflüster, Klangcollagen, ein Rauschen und Summen. Ein Experiment, sagt Lennart Naujoks:

"Viele haben einen Schreck bekommen, das wir gar nicht anfangen zu singen, sondern zu sprechen. Das ist ja ein Theaterchor, der nörgelt und auch die Sprache benutzt, sprechende Sprache und eben nicht den Gesang."

"Also Theater- und Bühnekunst muss ja einfach immer wieder hinterfragen und soll das Publikum anregen eine Perspektive zu finden, überhaupt gesellschaftliche Fragen zuzulassen und nicht einen alltäglichen Trott hinterherzugehen. Diese Perspektive ist so unglaublich wichtig, nicht nur für einen selbst, sondern für einen Otto-Normalmenschen und die ganze Gesellschaft. Erst dadurch kommen die Impulse und neuen Ideen."

Wenn Lennart Naujoks was zu sagen hätte, dann wäre es ein eindeutiges Plädoyer für das Theater in Altenburg. Denn: Für die Kommune ist der Unterhalt des Hauses ein finanzieller Kraftakt. Wenn es schlecht läuft, müssen die Sparten Schauspiel und Puppentheater demnächst aufgegeben werden. Die Stellen für Dramaturgen sind schon um 50 Prozent gekürzt worden - und auch Lennart Naujoks wird im Sommer gehen. Doch - bei allem Nörgeln -- der Chor soll weitermachen - das ist der Wunsch aller:


Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.
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