Die Nein-Sagerinnen
463.723 Genossen dürfen darüber abstimmen, ob die SPD noch einmal mit der Union regieren oder lieber in der Opposition regenerieren soll. Die Partei ist in dieser Frage tief gespalten. Drei Frauen in Nord-, West- und Ostdeutschland kämpfen für ein Nein zur GroKo.
Uschi steht der Schreck ins Gesicht geschrieben:
"Ich kenne Sie wirklich nicht."
"Ne, ist ja nicht schlimm, müssen Sie ja nicht."
"Uschi, bist Du nie zur Landtagswahl gegangen und hast sie gewählt?"
"Ne, ist ja nicht schlimm, müssen Sie ja nicht."
"Uschi, bist Du nie zur Landtagswahl gegangen und hast sie gewählt?"
Die ältere Frau steht in einem Lotto-Büdchen im Duisburger Stadtteil Hochfeld. Vor ihr steht Sarah Philipp, 34 Jahre alt, großgewachsen, braune, lange Haare, markante Brille. Sie ist die örtliche SPD-Landtagsabgeordnete, Zukunftshoffnung der Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr – und nun auf Tuchfühlung mit einer Stammkundin ihrer Eltern. Denn der Laden in den etwas heruntergekommen braun-roten Backstein-Arkaden gehört Philipps Eltern.
"Wo wohnen Sie denn?"
"In Wannheim."
"Ach in Wannheim. Das ist ja wirklich mein Wahlkreis. Da habe ich schon mal an einer Laterne gehangen auf jeden Fall."
"An der Laterne mit dem Auto?"
"Ne, als Plakat."
"In Wannheim."
"Ach in Wannheim. Das ist ja wirklich mein Wahlkreis. Da habe ich schon mal an einer Laterne gehangen auf jeden Fall."
"An der Laterne mit dem Auto?"
"Ne, als Plakat."
Uschi lacht.
Offen, direkt und humorvoll. So ist es hier im Ruhrgebiet. In Duisburg, wo die SPD bei der Bundestagswahl immerhin noch knapp 33 Prozent bekommen hat. Draußen fährt die Straßenbahn vorbei, gegenüber liegt ein Textil-Discounter und ein Wettbüro. Und drinnen braucht Uschi noch ein Feuerzeug.
Zigaretten und Feuerzeuge, Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Lotto-Scheine und Briefmarken gibt es hier – und dazu noch ein paar nette Worte oder gar ein kleines Gespräch mit Gudrun Philipp, der Mutter der SPD-Politikerin. Momentan geht es vor allem auch um die Sozialdemokraten.
"Ja, wir haben ja noch einige deutsche Kunden und die reden schon darüber. Also, was da im Moment los ist. Und die meisten sind im Moment auch sehr enttäuscht von allem, was da jetzt im Moment so abgeht."
Armut bestimmt den Alltag
Duisburg-Hochfeld gilt als sozialer Brennpunkt. Hier, das hat die Wochenzeitung "Die Zeit" einmal festgestellt, sind die Türken die bürgerliche Mittelschicht, die Deutschen die Minderheit und die Roma die meisten Neubürger. Seit einiger Zeit leidet der Stadtteil vor allem unter osteuropäischer Zuwanderung. Das sind vor alle arme Leute, die viele Probleme mit sich bringen. Armut und Wohnungsnot sind Themen, die den Alltag bestimmen - aber sich in der Politik nicht wiederfinden. Das bekommt auch Sarah Philipp oft zu hören.
"Die sagen am häufigsten: Jetzt reißt euch mal zusammen, ihr werdet noch gebraucht. Es ist ja schon so, dass die Leute wissen, wofür die SPD eigentlich stehen müsste. Die wissen auch, warum sie ganz lange SPD gewählt haben oder auch hier immer noch wählen. Schon seit Jahrzehnten und sagen auch: Was ist denn los mit Euch? Ihr müsst mal klare Kante zeigen!"
Übersetzt könnte das heißen: Nein zur Großen Koalition.
"Das fängt bei der Themensetzung an. Also, zum Beispiel war ich auch sehr skeptisch beim Thema Familiennachzug. Nicht was das Thema angeht und nicht die Tatsache, dass man das kritisch diskutieren muss, sondern einfach die Frage, dass wir in die Koalitionsverhandlungen gehen und das so als Thema nach oben ziehen und sagen: Das ist ein Punkt, da lassen wir es im Zweifel dran scheitern. Das war zum Beispiel eine Sache, die hier viele Leute nicht verstanden haben, weil die gesagt haben: Was ist eigentlich mit Wohnungen, was ist mit dem Zustand unserer Schulen? Warum kann mein Enkel, warum kann mein Kind in der Pause nicht auf's Klo gehen, weil die Toilette so versifft ist?"
Rente, Altersarmut - das sind hier die Themen. Und waren es auch schon früher, als Philipp im Lotto-Laden ihrer Eltern als Jugendliche gejobbt hat. Themen, die auch Uschi viel näher sind. Sie hat ihr Feuerzug zurück – und eigentlich alles erledigt.
"Ich wähl sowieso nur SPD, für mich gibt es keine andere Partei. Wenn ich das mal laut sagen darf."
Und die Frage nach der Großen Koalition?
"Ich weiß es nicht. Wird wohl dabei rauskommen, denke ich mal."
Dann macht sie eine längere Pause.
"Ich blick da gar nicht mehr durch, um ganz ehrlich zu sein."
Die große NRW-SPD ist tief gespalten
Schweigen. Die große, ruhmreiche NRW-SPD, die fast jedes vierte Mitglied bundesweit stellt, ist gespalten – und ihre Wählerschaft verunsichert. Das spürt auch Sarah Philipp:
"Ja, der Vorwurf ist schon da. 'Ihr da oben.' Oder: 'Die da oben, die kriegen nichts mehr mit.' Das bezieht sich sowohl auf Bürger, das bezieht sich auch innerparteilich auf Basis und Parteiführung und ich glaube, das ist in den letzten Tagen ja ganz deutlich geworden."
Philipp meint das ganze Personalchaos, die Wechsel, den Umgang miteinander.
"Wenn die Leute das Gefühl haben – außerhalb der Partei, innerhalb der Partei – die machen irgendwie, was sie wollen und die kriegen irgendwie gar nichts mit, dann werde ich die auch nicht dafür gewinnen, mich zu wählen beziehungsweise meine Inhalte zu unterstützen."
Philipp spricht jetzt über Andrea Nahles, über Olaf Scholz. Sie ist nicht glücklich mit der Parteiführung. Ein Mann mit einem Rollator steht an der Kasse, bezahlt, hört zu und murmelt etwas. Philipp dreht sich um:
"Bitte?"
"Ich sag, den hätten Sie mal ranlassen sollen."
"Den Scholz? Ja? Finden Sie den gut?"
"Hm."
"Der ist so ein bisschen dröge, oder?"
"Ja, aber… Ich finde, der hat Feuer im Arsch."
"Ja, in Hamburg macht er das gut, auf jeden Fall. Aber der kann ja auch noch ins Spiel kommen, der ist ja Vize-Chef, also, von daher … mal gucken. Sind genug da."
"Dann wird Deutschland wieder Deutschland."
"Ich sag, den hätten Sie mal ranlassen sollen."
"Den Scholz? Ja? Finden Sie den gut?"
"Hm."
"Der ist so ein bisschen dröge, oder?"
"Ja, aber… Ich finde, der hat Feuer im Arsch."
"Ja, in Hamburg macht er das gut, auf jeden Fall. Aber der kann ja auch noch ins Spiel kommen, der ist ja Vize-Chef, also, von daher … mal gucken. Sind genug da."
"Dann wird Deutschland wieder Deutschland."
Denn sie wissen, was sie tun – oder doch nicht?
Und jetzt? Große Koalition? Macht er sich Sorgen um die SPD?
"Nö, die wissen schon, was sie tun."
"Da bin ich mir nicht ganz so sicher…."
"Da bin ich mir nicht ganz so sicher…."
Sagt Monika Weichhold von ihrem Platz hinter der Theke. Die 66-Jährige steht hier ein paar Tage in der Woche, hilft im Laden aus. Sie ist gegen die GroKo.
"Eingefleischter SPD-Wähler, Vater 50 Jahre in der Partei. Ich habe jetzt ein kleines bisschen Problem mit meinem Vater, weil der natürlich dafür ist und ich bin dagegen. Aber ich habe da nix zu sagen, kann ich mit ihm ausdiskutieren solange ich will. Aber ist wahrscheinlich auch dem Alter entsprechend, ich weiß es nicht. Er meint, es wäre trotzdem das Allerbeste. Ich sag: Gut, ich kann es nicht ändern, wenn du meinst. Ich nicht ganz so sehr."
Sie zuckt mit den Schultern.
"Das, was sie da jetzt in den Verträgen haben, ist mir zu wenig. Es ist viel Gutes drin, aber es ist mir letztendlich, für uns, als kleine Leute, sag ich jetzt mal, ist es mir einfach zu wenig. Für unsere Rentner, was ich hier immer erlebe und, und, und ... Also, da kommt zu wenig Soziales bei rum. Was ein Grundprogramm der SPD sein sollte. Die sollten sich wirklich - und da gehe ich mit den Jungen konform - sich auf ihre Grundsätze … Aber ich kann nichts anderes wählen, wählen tue ich sie trotzdem."
Sie zuckt wieder mit den Schultern. Rechte Parolen mancher Kunden aber machen ihr ernsthaft Sorgen.
"Möchte man wirklich fast manchmal zuschlagen bei einigen Meinungen, aber irgendwie auch hintergründig verständig. Und da sehe ich die Gefahr im größten im Moment. Da muss die SPD verdammt aufpassen, dat sie auch nicht dritte oder vierte Partei wird, 'ne."
Titanic-Aktion verstärkt Nein zur GroKo
Am Zeitungsständer hängt jene "Bild"-Ausgabe, in der Juso-Chef Kühnert russische Kontakte angedichtet werden. Es ist wohl eine Aktion der Satire-Zeitschrift "Titanic". Doch egal, ob es stimmt oder nicht: Bei Familie Philipp ist diese Kampagne eher noch ein Grund mehr, gegen die Große Koalition zu sein, sagt Sarah Philipp.
"Aber ehrlicherweise geht es natürlich um ein Gesamtpaket. Man kann den Mitgliedern ja nicht verbieten, das komplett auszublenden, wie es mit der Partei weitergeht und zu sagen: Hier liegen jetzt 177 Seiten und guckt Euch das mal an. Sondern natürlich wird es am Ende auch darum gehen: Wie geht es weiter?"
Philipp hat als Delegierte auf dem Bundesparteitag gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gestimmt. Nachdem sie den Vertrag dann gelesen hatte, war sie nochmal ins Grübeln gekommen, bleibt aber nun bei ihrem Nein. Es geht ihr um Glaubwürdigkeit.
"Der häufigste Spruch, den ich am Infostand gehört habe, war: Das hättet ihr doch längst machen können. Und: Da kann ich 100 Seiten Wahlprogramm schreiben, tolle Plakate haben, was auch immer, wenn die Leute eigentlich gar keine Lust mehr haben, mit mir inhaltlich zu diskutieren, weil die denken 'Das bringt nichts' oder 'Die erzählt mir eh irgendeinen Quatsch', dann habe ich einen ganz schweren Stand. Und ich möchte nicht zur Generation Sozialdemokraten gehören, die den Laden abwickeln. Ganz bestimmt nicht."
Leipzig: Skepsis im Osten
Daniela Kolbe ist auf dem Weg zu einer Parteiversammlung in der Leipziger Südvorstadt. Die Bundestagsabgeordnete möchte mit der Parteibasis über die Große Koalition diskutieren. Denn für sie stellen sich viele Fragen:
"Ob wir uns das leisten können. Und ob da ausreichend im Koalitionsvertrag drin steht, um AfD-Wähler zurückzuholen."
In der Karl-Liebknecht-Straße läuft Kolbe an einem Plakat von Sahra Wagenknecht vorbei. Die Spitzenfrau der Linkspartei kommt am nächsten Tag nach Leipzig, um zweifelnde SPD-Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Linke Volkspartei – das ist hier im Osten Deutschlands die Linke.
"Also wir laufen nicht nur an einem Wagenknecht-Plakat vorbei, sondern auch am Killy Willy – das war mal eines der Stammlokale von Bebel. Also hier steht die Wiege der Sozialdemokratie."
Doch bei der Bundestagswahl holt die SPD gerade noch 13 Prozent in der Stadt, in der sie einst mit begründet wurde. Die frühere Hochburg der Arbeiterbewegung ist geschleift – das weiß auch Kolbe.
"Die GroKo ist schädlich für die Demokratie"
Die 38-Jährige ist Generalsekretärin des sächsischen Landesverbandes – der winzig ist, im Vergleich zu den Westbundesländern. Sie fürchtet, dass die SPD noch weiter geschwächt wird, sollte die Partei sich wieder in eine Koalition mit der Union zwängen.
"Es war ein großer Einheitsbrei und das ist für unsere Demokratie schlicht schädlich. Ich komme aus einem Landesverband, Sachsen, da ist bei der letzten Bundestagswahl die AfD die stärkste Partei geworden."
Fast jeden Abend fährt sie zu Diskussionen mit Genossen, immer in eine andere Stadt und wirbt für ein Nein zur GroKo.
Die Leipziger SPD hat in die karge Halle einer ehemaligen Schlosserei geladen, die heute eine Galerie ist. Kolbe wird schon von ihrem Kollegen aus Chemnitz, dem SPD-Bundestagsabgeordneten Detlef Müller, erwartet. Er ist für die Große Koalition und will auch heute versuchen, die Skeptiker zu überzeugen.
"Am Montag war ich im Erzgebirge, da gab's eigentlich nur zwei. Und einen hab ich überzeugen können, doch mit Ja zu stimmen."
"Ich hätte dich da nicht alleine hinfahren lassen sollen", witzelt Kolbe noch. Dann beginnt die Podiumsdiskussion.
Kolbe will nicht mehr nett sein
Die Parteilinke Kolbe misstraut den Konservativen – trotz mancher guter Kompromisse im Koalitionsvertrag.
"Ich kenn doch meine Partei. Wir sind wieder im alten Schema drin, wir werden die Netten sein. Und wir werden vieles von dem, was jetzt Gutes drinsteht, wir werden vieles von dem nicht bekommen."
Statt einer erneuten Großen Koalition hofft sie auf eine Minderheitsregierung der Union. Ihr Gegenpart Müller dagegen warnt vor Neuwahlen, sollte die GroKo scheitern.
"Das werden wir nicht hinbekommen. Wir haben weder einen Kandidaten, noch haben wir ein Programm. Wir haben auch kein Geld. Sehenden Auges in Richtung Neuwahlen gehen – das ist Harakiri."
An diesem Abend geht es kaum um Personal, dafür viel um Inhalte: Rentenangleichung, Berücksichtigung der ostdeutschen Bundesländer, Braunkohleausstieg.
Rund 120 SPD-Anhänger sind gekommen, darunter viele Jüngere. Einige müssen stehen. Die Gesichter sind aufmerksam, angestrengt, nachdenklich. Eine Partei auf der Suche nach sich selbst.
Die GroKo-Gegner sind an diesem Abend in der Mehrheit, zumindest klatschen sie lauter. Und selbst Pro-GroKo-Mann Müller liefert ihnen Argumente.
"Wenn ich an Braunkohleausstieg denke - das haben wir doch nicht geklärt für uns. Denken wir, dass wir das Thema mit der CDU klären, wenn wir uns selber nicht einig sind? Geh doch mal in die Lausitz und frag mal nach was unsere Genossen in der Lausitz zum Thema Kohleausstieg denken – vom Ruhrpott gar nicht zu reden. Da haben wir doch selber gar keine Meinung zu."
Es ist diese Unentschlossenheit, die fehlende inhaltliche Klarheit, die viele an der Basis nervt. Daniela Kolbes klare Worte gegen die GroKo kommen hier an.
Im Vertrauen auf die Kaffeemaschine
Doch Kolbe wägt ihre Worte, bleibt überraschend diplomatisch. Denn egal wie die Abstimmung ausgeht: Schon jetzt ist die Partei tief gespalten. Es drohen Austritte, Abspaltungen, Bedeutungslosigkeit. Wie damals bei der USPD witzelt ein Juso in der zweiten Reihe. Soweit will es die sächsische Generalsekretärin Kolbe nicht kommen lassen.
"Jeden, der auch nur auf die Idee kommt, aus dieser Partei auszutreten, werde ich zum Kaffee trinken in mein Büro zitieren. Wagt es nicht, euch vom Acker zu machen. Ich hab' eine gute Kaffeemaschine – wirklich!"
Teilweise wirkt die Diskussion um die GroKo wie ein Überlebenskampf – auch hier in Leipzig. Was als sachliche Diskussion begann, wird nach einer Stunde zunehmend emotionaler. Als Kolbe ihre Kollegen im Parteivorstand in Schutz nimmt, platzt einigen im Raum der Kragen:
"Ich hab Angst um die, was passiert denn, wenn es ein Nein gibt?"
"Neuwahlen!" ruft jemand von hinten. "Der Vorstand soll gehen!"
"Nein, nicht automatisch. Die einen sagen: Es gibt Neuwahlen, die anderen sagen: Die müssen dann alle weg. Und ich sage: Beides kann's nicht sein."
Nicht nur die Skepsis über die Inhalte des Koalitionsvertrags, sondern auch das Misstrauen gegenüber der Parteispitze sitzt tief – das wird an diesem Abend deutlich.
Nach eineinhalb Stunden ist die Veranstaltung vorbei. Doch viele bleiben noch, um weiter zu diskutieren. Daniela Kolbe hat bei vielen einen Nerv getroffen. Immer wieder wird sie in Gespräche verwickelt – erst nach einer halben Stunde kann sie sich losreißen.
Im Vorstand gegen den Parteikurs
Ihr Berliner Abgeordnetenbüro hat Kolbe im Paul-Löbe-Haus, direkt neben dem Bundestag. Ganz oben, im siebten Stock. Konzentriert tippt sie noch schnell eine E-Mail. Es ist Plenarwoche im Bundestag, doch bei Kolbe stehen dieser Tage vor allem Parteisitzungen im Terminkalender. Seit Dezember sitzt sie im Parteivorstand – und stimmte dort als eine von wenigen anderen gegen die Koalitionsverhandlungen mit der Union.
"Es ist ein merkwürdiges Gefühl im Parteivorstand eine kleine Minderheit zu sein, auch wenn das in meinem Ortsverband sehr viele goutieren. Das ist schon eine ungute Situation. Es wäre besser, wenn es einen Gleichklang gäbe zwischen dem, was Mitglieder der SPD denken und fühlen, und dem, was in den Führungsgremien diskutiert wird."
Solche Kritik an der eigenen Führung macht auch andere im Führungskreis der Partei nachdenklich. Leni Breymaier hat ihr Büro ein paar Stockwerke tiefer. Die Parteilinke sitzt ebenfalls erst seit Kurzem im Parteipräsidium. Sie ist für die Große Koalition – und dennoch:
"Ich glaube, kein einziges Parteivorstandsmitglied ist so unterwegs: Wir machen jetzt grad so weiter, einmal schütteln wie ein nasser Hund und dann weiterlaufen. Also, das glaube ich überhaupt nicht. Der Schuss, der gerade abgegeben wird von den Leuten, die strikt gegen eine GroKo sind, hallt schon laut und der wird gehört."
Daniela Kolbe schießt also weiter gegen die GroKo. Und pocht auf Erneuerung in der SPD. Das wird auch in der Parteiführung anerkannt. Die Diskussionen seien respektvoll – ein Zeichen innerparteilicher Demokratie – so sieht es Kolbe.
"Was ich mir wünsche, dass beide Positionen eine Debatte zelebrieren. Es ist ja auch tatsächlich etwas Tolles mal demokratisch ringen zu können um das bessere Argument und die richtige Richtung. Und gleichzeitig aber sich ihrer Verantwortung bewusst sind."
So könnte das Ringen um die Große Koalition die Partei stärken – wenn es sie nicht zerreißt.
Frau Langes Gespür für ein gutes Timing
Flensburg ist eine bunte Stadt. Da ist sich Imke Hensen ziemlich sicher.
"Also multikulturell, eher links als rechts. Also, wir haben ja nicht mal für die nächste Kommunalwahl 'n Kandidaten für die AfD, weil sich keiner aufstellen möchte."
Imke Hemsen hat sich auf eine der Bänke in der Eingangshalle des Flensburger Hauptbahnhofs gesetzt. Hier fühlt sich die 38-Jährige sofort zurückversetzt ins Jahr 2015. Damals, Anfang September, hatte sie ein Aufruf via Facebook erreicht. Hemsen machte sich auf zum Bahnhof.
"… als hier das Leben tobte, weil täglich hunderte Menschen diesen Bahnhof genutzt haben, um halt weiterzureisen."
Tausende Geflüchtete passierten binnen drei Monaten den kleinen Grenzbahnhof, ihr Ziel war Schweden. Hunderte Flensburgerinnen und Flensburger kamen zum Bahnhof und halfen. Auch die gelernte Friseurin Imke Hensen. Hier stieß sie auf Simone Lange.
"Bei meiner ersten Begegnung dachte ich: Besondere Person, Politikerin. Und dann habe ich aber sehr schnell festgestellt, dass sie eher als Mensch hier war denn als Politikerin. Also, es war ihr wirklich 'ne Herzensangelegenheit und das hat man auch durch und durch gemerkt."
Politikerin ohne Berührungsängste
Simone Lange – gebürtige Thüringerin, viele Jahre Kriminalbeamtin in Flensburg und in jenem Herbst 2015 noch Landtagsabgeordnete für die SPD. Sehr oft sei Lange hier gewesen, habe manche Nacht durchgemacht und keine Berührungsängste gehabt, sagt Hemsen.
"…ob's nun darum ging, den Fußboden mit sauber zu machen oder irgendwelche Tische aufzuräumen. Also, sie hat wirklich alles gemacht. Also, sie hatte da nicht irgendwie so "Ich bin was Besseres", sondern sie war genauso 'ne Helferin wie alle anderen auch."
Als langjährige Kriminalbeamtin hatte Lange eine Ahnung, wie die Polizei tickt. Und als Politikerin viele Kontakte und Organisationstalent. Für Imke Hemsen hat sich durch die gemeinsamen Erfahrungen mit der Sozialdemokratin auch das Bild von Politikern verändert. Bis dahin sei sie zwar immer brav wählen gegangen, habe aber doch eher den Eindruck gehabt: Die da oben machen doch eh was sie wollen …
"Na, ich bin in die SPD eingetreten, weil ich halt einfach gesehen habe, dass auch die Otto-Normal-Bürger durchaus was bewegen können. Und dass es auch nette Politiker gibt."
Im Flensburger Hauptbahnhof geht es mittlerweile wieder ruhig zu, es kommen kaum noch Geflüchtete. Hemsen engagiert sich weiterhin ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Und Simone Lange? Die ist seit einem knappen Jahr Oberbürgermeisterin. Und derzeit ein echtes Gesprächsthema, nicht nur im hohen Norden – weil sie angekündigt hat, Andreas Nahles den Posten als SPD-Bundesvorsitzende streitig zu machen.
Der Ringvejens Vuggestue ist einer von dutzenden Kindergärten der dänischen Minderheit im Grenzgebiet. Simone Lange ist an diesem frühen Mittwochmorgen zu Besuch. Die zierliche Frau ist alleine gekommen. Sie hört zu, antwortet mal auf Deutsch, mal auf Dänisch.
Angekommen im nordischen Multi-Kulti
Auch ihre Kinder haben einen dänischen Kindergarten besucht. Die 42-Jährige scheint angekommen im nordischen Multikulti und steht seit einem knappen Jahr an dessen Spitze. Warum will sie dann gerade jetzt dem Amt und der Stadt den Rücken kehren, falls sie am Ende tatsächlich die ganz große Überraschung schafft?
"Ich will das ja gar nicht aufgeben. Das wird mir in letzter Zeit ein bisschen unterstellt. Ich werde und will in Flensburg bleiben, das ist einfach 'ne ganz großartige Stadt. Und dass ich mich auf die Stelle der Bundesvorsitzenden beworben habe, heißt überhaupt gar nicht, dass ich hier weg will. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe, die sich aber miteinander vereinbaren lassen."
Sie will mit ihrer Kandidatur ein Zeichen setzen. Dagegen, dass eine kleine Gruppe von Spitzengenossen unter sich ausmacht, wer Parteivorsitzender wird. Und dafür, dass die Basis nicht nur über den Koalitionsvertrag entscheiden darf. Sondern auch darüber, wer die Partei führen soll. Egal ob nun in der Regierung oder in der Opposition. Denn was das "Ja" oder "Nein" zur Groko angeht – hält sich Lange zunächst noch zurück. Taktik? Als sicher gilt nur: Der SPD-Politikerin sagt man ein gutes Gespür für das richtige Timing nach.
Simone Lange sieht an diesem frühen Morgen etwas müde aus. Die letzten Tage waren ziemlich rummelig. Nach der Ankündigung ihrer Bewerbung um den SPD-Bundesvorsitz hagelte es Medienanfragen aus der ganzen Republik.
Jeden Tag erreichten sie viele Zuschriften und Ermutigungen, erzählt sie. Doch innerhalb der schleswig-holsteinischen SPD spürt sie auch ordentlich Gegenwind. Eine ganze Reihe von Leuten aus dem Landtag oder dem Bundestag glauben nämlich: Simone Lange sorgt sich weniger um das Wohl der Bundes-SPD. Sondern möchte vor allem Aufmerksamkeit, um ihre Partei-Karriere in Schleswig-Holstein voranzubringen. Sei es nun als mögliche Nachfolgerin für den schon länger in der Kritik stehenden Landesvorsitzenden Ralf Stegner oder aber die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl. Wobei letztere noch sehr weit weg ist …
"Ich höre das, dass viele das sagen. Ich empfinde das so: Das wäre ja so 'ne Strategie von hinten durch die Brust ins Auge. Das wäre aber nicht Simone Lange. Und wer mich kennt, weiß, dass ich immer die Dinge direkt ansteuere. Beziehungsweise wenn ich mich positioniere, dann stehe ich auch dazu."
Dicke Luft im SPD-Landesvorstand
Stehvermögen musste Lange auch am Montagabend in Kiel beweisen. Der SPD-Landesvorstand hatte die Flensburger Oberbürgermeisterin eingeladen, sich zu erklären. Viele hat geärgert, dass sie von Langes Kandidatur erst viel zu spät etwas erfuhren. Zwei Stunden später lässt sie durchblicken: Drinnen war dicke Luft.
"Ja, man kann schon sagen, dass wir konstruktiv-angespannt diskutiert haben. Das ist, ich glaube auch, das ganz Normale jetzt in dieser Situation."
Dann tritt Ralf Stegner hinaus in die Kieler Nacht. Er trägt einen roten Pulli und eine Aktentasche. Schon lange ist Stegner das Gesicht der Nord-SPD. Zu lange, sagen seine Kritiker. Erst recht nach der verlorenen Landtagswahl 2017 und dem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl. Doch Stegner hat gerade andere Sorgen: Als Bundesvize hat er in Berlin die GroKo mit ausgehandelt und hofft nun vor allem eines:
"Dass unsere Mitglieder jetzt über den Koalitionsvertrag reden und dass wir keine Debatten über Personen führen. Weder wer Parteivorsitzender werden soll. Auch nicht die Frage, wer welchen Außenminister toll findet oder nicht."
Jedes Mitglied könne für den Parteivorsitz kandidieren, sagt Stegner. Doch er will Andrea Nahles unterstützen.
Noch einmal zurück nach Flensburg in ein kleines Café in der urigen Altstadt. Dort sitzt Arne Rüstemeier. Er führt die CDU in der Ratsversammlung und steht auch dem Kreisverband vor. Seine Partei hat die Bewerbung von Simone Lange zur Oberbürgermeisterin mitgetragen, zusammen mit den Grünen und der SPD. Dass Lange sich nun für den SPD-Bundesvorsitz ins Spiel bringt, bereitet dem Wirtschaftsinformatiker Bauchschmerzen.
"Zunächst mal war ich enttäuscht, dass wir nicht vorab informiert sind. Denn aus meiner Sicht gehört sich das so unter Partnern, dass man zumindest mal ein Stichwort gibt und sagt: "Achtung, da kommt jetzt Presse auf euch zu." Es hat ja auch viel Kommunikation ausgelöst im Nachgang. Und das wäre ein guter Einstieg gewesen in einen einvernehmlichen Umgang in der Situation."
Schwieriger Spagat
Gleichzeitig hat der CDU-Mann auch Verständnis für Langes Vorstoß. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wie sie aber den Spagat zwischen Parteivorsitz und ihrer Arbeit in Flensburg hinbekommen will, kann er sich nur schwer vorstellen.
"Also, unser Zug nach Hamburg dauert schon um die zwei Stunden. Das ist dann schon weit vom Rest der Republik. Und wie man das dann aus Flensburg handeln möchte und beides gleichzeitig unter einen Hut bekommen möchte, das erschließt sich nur schwer."
Am Mittwochmittag lässt Simone Lange eine E-Mail verschicken. Darin kündigt sie an: Sie werde gegen den Koalitionsvertrag stimmen.