Nokia als Schicksal

Von Michael Frantzen |
Nokia geht es schlecht. 1700 Stellen werden im kommenden Jahr gestrichen, viele davon im finnischen Salo. Von den Veränderungen sind dann nicht nur Nokiamitarbeiter betroffen, sondern die ganze Stadt.
Die Flugblätter! Die hätte sie jetzt fast vergessen! Anne Malm, Vertrauensfrau der Nokiamitarbeiter im südfinnischen Salo, hastet zum Kopierer vor ihrem Büro, um sich einen dicken Stapel DINA4-Blätter zu schnappen, ohne nur einen Blick darauf zu werfen. Braucht sie auch nicht: Den Inhalt kennt die Frau mit den pechschwarzen, hochtoupierten Haaren und unzähligen Ohrringen, die aussieht, als sei sie aus einem 80er-Jahre-New-Wave-Video entsprungen, nur zu genüge. 1000 von 1700 Stellen will ihr Boss Stephen Elop in der einzigen finnischen Handyfabrik Nokias bis Ende des Jahres streichen, die meisten davon in der Produktion.

Die Produktion - das ist Malms Bereich. Sie lässt sich auf ihren Bürostuhl fallen und greift in die Gummibärchen-Box vor ihr auf dem Schreibtisch. Nervennahrung! Die Gewerkschafterin war gerade anderthalb Stunden in der Fußballfeld großen Fabrik unterwegs, um mit ihren Kollegen zu reden.
"Ich weiß gar nicht, wie viele Rat bei mir gesucht haben. Besonders den Älteren sitzt die Angst im Nacken. Sie wollen von mir wissen: Und? Fällt mein Job auch weg? Weißt du schon mehr? Das nimmt mich ganz schön mit. Ich bin seit 2007 Vertrauensfrau, die Verhandlungen jetzt über die Jobkürzungen sind meine neunten. Ich sitze als Arbeitnehmervertreterin mit am Tisch, das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Es geht an die Substanz. Selbst zu Hause kann ich nur noch schlecht abschalten. Die Sorgen verfolgen mich auf Schritt und Tritt."

Seit 1996 arbeitet Anne Malm bei Nokia in Salo - dieser behäbigen Provinzstadt 110 Kilometer westlich der Hauptstadt Helsinki, die nicht weiter auffiele, wenn sie nicht durch den Handyhersteller reich geworden wäre - so reich wie keine andere Gemeinde in Finnland. Damals, Mitte der 90er, herrschte Euphorie. Es war die Zeit, als die finnische Traditionsfirma, die bis dahin Kabel und Fernseher produziert hatte, den Mobilfunkmarkt aufmischte - und zur weltweiten Nummer Eins wurde. Malm schüttelt ungläubig den Kopf. Und jetzt das! Sie springt sie auf, um erneut aus ihrem Büro zu eilen. An der Sicherheitsschleuse am Fabrikausgang bleibt sie stehen und zeigt nach rechts: Da! Die Glasvitrine mit den Handys! Viele hat sie selbst zusammen geschraubt: Das "2110" etwa, eines der ersten Modelle überhaupt. Links daneben liegen die aktuellen Modelle - darunter die Smartphones mit dem veralteten Betriebssystem "Symbian". Malm verzieht das Gesicht. Sie weiß nur zu gut, dass die meisten Ladenhüter waren - und dafür sorgten, dass Finnlands ehemaliges Vorzeigeunternehmen allein im Schlussquartal 2011 weltweit ein Minus von 1,1 Milliarden Euro einfuhr.

"Natürlich würde ich in vier Jahren gerne mein 20. Dienstjubiläum feiern. Aber ich sehe da schwarz. Die Geschäftsführung hat den Trend bei den Smartphones verschlafen. Die haben sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Und ein bürokratisches Labyrinth geschaffen, das Innovationen im Keim erstickt. Jetzt zahlen wir die Zeche. Ich kann meinen Job wohl erst einmal behalten, aber wer sagt mir, dass wir in vier Jahren in Salo überhaupt noch Handys bauen?"

Die sonst so resolut wirkende Frau von der Metallarbeitergewerkschaft kämpft mit den Tränen. Das große Foto vom "Salo-Campus", dem Fabrik-Gelände, gegenüber von ihrem Schreibtisch, gibt ihr den Rest. Malm zeigt mit pink lackiertem Zeigefinger auf zwei Gebäude auf dem Foto: Die stehen schon leer. Und die zwei weißen Hallen weiter vorne werden spätestens Ende des Jahres dicht gemacht.

"Ich bin ehrlich gesagt ziemlich enttäuscht von meiner Gewerkschaft. Unsere Gewerkschaftsführer unterstützen uns viel zu wenig. Was kann eigentlich daran so schwer sein, Proteste gegen die Entlassungen zu organisieren? Mir ist das ein Rätsel. Ich weiß nicht: Vielleicht gehen sie ja davon aus, dass es sich nicht lohnt zu kämpfen - angesichts der Übermacht von Nokia. Es gab hier in Salo null Proteste. Wirklich null. Vielleicht liegt es auch an mangelnder Solidarität innerhalb des Gewerkschaftslagers. Wir haben bei Nokia ja eine Reihe verschiedener Gewerkschaften, je nach dem, in welchem Bereich man arbeitet. Meine Metallarbeitergewerkschaft und die Gewerkschaften der Angestellten hätten viel enger zusammen arbeiten müssen. Aber jeder denkt nur an sich."

Die Arbeiter auf der einen Seite - die Angestellten auf der anderen: Bei Nokia in Salo sind sie auch räumlich getrennt: Rechts die Fabrik, links davon die Entwicklungsabteilung. Hier, in einem dunklen Glaskasten, residieren die Softwareexperten. Leute wie Mika Paukarinen. Der pausbäckige Projektmanager mit dem schütteren, blonden Haar tippt in seinem Büro auf sein knallrotes Smartphone, das neue Lumia-Modell. In Windeseile tauchen Fotos auf dem Display auf. Er vergrößert eines: Seine Frau vor ihrer Villa - mit den sieben Söhnen. Der Jüngste ist sieben, der Älteste bald 20.

Hinter Paukarinen liegen turbulente Jahre: unzählige Strategietreffen, Sitzungen und Brainstormings. Auch in Nokias Entwicklungsabteilung lief es zuletzt alles andere als rund. Bereits im April 2011 kündigte die Geschäftsführung an, bis Ende dieses Jahres 200 Stellen zu streichen. Nokia setzt jetzt auf Windows-Software bei seinen Smartphones. Sie soll das "sinkende Schiff", wie Nokia-Chef Stephen Elop das Unternehmen schon mal bezeichnete, wieder seetüchtig machen.

"Unser Team ist sehr gut, wir sind ausgesprochen erfahren. Deshalb sage ich mir: Wir schaffen das schon! Wissen Sie: Vor ein paar Jahren haben alle Nokia noch gehypt: Wow, wow, wow! Hieß es da. Was für ein starkes Unternehmen. Jetzt wird Apple gehypt. Das sind Wellen. Die kommen und gehen. Ich werde alles dafür tun, dass wir wieder die Nummer Eins werden. Uns wird es in Zukunft gut gehen. Ich will das einfach glauben."

Mitarbeiter mit Biss - so etwas kommt an in der Nokia-Zentrale im rund 100 Kilometer östlich von Salo gelegenen Espoo. Hierhin wird man nach einigem Hin und Her verwiesen, wenn man etwas über die Zukunft der Salo-Fabrik erfahren will. Die drei wuchtigen Glas-Klötze mit Hubschrauber-Landeplatz und Blick aufs Meer künden von Zeiten, als Nokia Inbegriff des finnischen, wissensbasierten Erfolgsmodells war - und aus den Vollen schöpfen konnte: 2007 machte der Handyhersteller noch einen Gewinn von über sieben Milliarden Euro. Gut ein Viertel der Gesamtexporte Finnlands gingen damals auf Nokias Konto.

Robert Anderson kann sich noch gut an die "goldene Zeit" erinnern. Wenn man so will, steht der Nokia-Vizepräsident, ein bedächtiger, unaufgeregter Mann, für den Wechsel, den der Handy-Riese gerade durchmacht. Er leitet das neu geschaffene weltweite "Bridge Program", das entlassenen Mitarbeitern dabei helfen soll, beruflich anderswo Fuß zu fassen. Ab- statt Aufbau: Noch vor kurzem wäre so etwas bei Nokia undenkbar gewesen. Doch die Zeiten haben sich geändert. "Und wir dazu gelernt" - ergänzt der Vize-Präsident. Anderson schaut auf das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch des hellen Besprechungszimmers liegt. Schnell scannt er den Text, bis er fündig wird. Er hat das sperrige deutsche Wort extra unterstrichen: Bochum!
"Nokia hat in Bochum seine Lektion gelernt; damals, 2008, als wir das Werk dort schließen mussten. Das hätten wir besser machen können. Wir waren nicht gut genug darauf vorbereitet. Das ist in Salo jetzt anders. Jetzt haben wir unser "Bridge Program". Wir zahlen Abfindungen, wer studieren will, wird von uns unterstützt - genau wie Leute mit einer guter Geschäftsidee. Denen geben wir bis zu 25.000 Euro in die Hand. Außerdem arbeiten wir eng mit der Stadt Salo zusammen - mit dem Bürgermeister und "Invest in Salo", der neu geschaffenen Stelle, die um Investitionen im In- und Ausland wirbt. Am besten wäre es natürlich, wir fänden jemanden, der Teile unserer Fabrik übernähme und Leute einstellte."

Die anstehenden Entlassungen im Nokia-Werk - zurück in Salo sind sie Gesprächsthema Nummer eins. Sei es auf dem weitläufigen Marktplatz, in einer der zwei Shopping Malls, die für eine 55.000-Einwohner-Stadt mehr als großzügig ausgefallen sind - oder in der Cafeteria des nagelneuen Rathauses.

Im November des letzten Jahres sind die 230 städtischen Mitarbeiter in das 12 Millionen-Euro teure Gebäude aus Glas und Birkenholz umgezogen. In Helsinki, der finnischen Hauptstadt, würde es gut und gerne als Repräsentanz eines mittelgroßen EU-Partnerlandes durch gehen. Alles vom Feinsten hier.

Automatisch verstellbare Schreibtische, um wechselweise im Sitzen oder Stehen arbeiten zu können: Antti Rankakokko strahlt wie ein kleiner Junge. Das wollte er unbedingt haben - und weil man in Salo viel von Egalität hält, spendierte der Bürgermeister kurzerhand jedem Angestellten einen solchen Hightech-Tisch. Der Mann mit der anthrazitfarbenen Porsche-Brille und dem Bürstenhaarschnitt, seit drei Jahren in Amt und Würden, schlendert zum Konferenztisch, auf dem neben "laktosefreien Vanilletörtchen" Lachshäppchen auf grünen Servietten drapiert sind. Grün ist die offizielle Farbe Salos. Und die der Hoffnung, erklärt das Stadtoberhaupt lächelnd - ehe er sich ein Häppchen schnappt.

Seinen Humor hat sich Rantakokko bewahrt, trotz allem: "Salo ist mehr" - meint der Bürgermeister: Damit habe die Nokia-Stadt bislang für sich geworben. Aber jetzt müsse man ja wohl eher sagen: War mehr. Weil es Nokia so schlecht geht. Rantakokko mag zwar ein hemdsärmeliger Spaßvogel sein, auf dessen Schreibtisch ein Salz- und Pfefferstreuer in Form zweier weißer Porzellan-Geister stehen: Der Ernst der Lage ist ihm durchaus bewusst. Bei elf Prozent liegt die Arbeitslosigkeit jetzt schon in seiner Stadt, Ende des Jahres, sagen ihm seine Statistiker im Arbeitsamt voraus, werden es 15 Prozent sein. Und dann sind da noch die weg brechenden Steuereinnahmen: 2010 überwies Nokia der Gemeinde 55 Millionen Euro. Dieses Jahr werden es voraussichtlich nur noch zehn Millionen sein.

"Die Stadt muss sparen. Dieses Jahr bereits fünf Millionen Euro. Aber das wird erst der Anfang sein. 2013 werden wir den Gürtel noch enger schnallen müssen. Alles steht auf dem Prüfstand: Die städtischen Gehälter. Alle Dienste. Das wird natürlich hart: Die Bevölkerung in Salo ist daran gewöhnt, sehr gut versorgt zu werden. Nur: Kostenlose Schwimmbäder oder lange Öffnungszeiten in den Behörden - das sind Extraleistungen, die wir uns nicht mehr leisten können. Wir gehen nach dem Rasenmäher-Prinzip vor: Jeder Bereich muss mit fünf Prozent weniger auskommen. Bei Bildung und Gesundheit können wir nicht sparen, wohl aber bei den freiwilligen Diensten: den Sportstätten, Museen, der Bücherei. Sparen müssen alle."

Vom Rathaus ist es nur einen Steinwurf bis zur Stadtbücherei von Salo. Punkt halb zehn öffnet der rosafarbene Bau aus den 80ern werktags seine Pforten - und wenn Salo nicht gerade im Winter in Schneemassen versinkt oder im Sommer von Dauerregen heim gesucht wird, spielt sich kurz vor halb immer die gleiche Szene ab: Gut ein Dutzend Leute wartet schweigend auf der Treppe des Haupteingangs, um möglichst als erste reinzukommen. Kari Pohjola kennt das schon. Meist lässt es sich der Bibliotheksleiter nicht nehmen, einige von ihnen selbst zu begrüßen. So wie an diesem sonnigen Morgen.

"In Salo ist es immer schon fast eine Frage der Ehre gewesen, die Stadtbücherei gut auszustatten. Bei uns leiht sich jeder einzelne durchschnittlich im Jahr 40 Bücher oder andere Materialien aus - doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Aber uns ist natürlich klar: Wenn überall in der Stadt gespart werden muss, dann auch bei uns."

500.000 Bücher hat die Bibliothek im Bestand: Auf Finnisch, aber auch auf Englisch, Deutsch oder Persisch; dazu im Fuhrpark einen 300.000 Euro teuren Bibliotheksbus; plus Extras wie das schallisolierte Übungszimmer mit dem Elektro-Klavier für die Schüler der nahen Musikschule: Die Fallhöhe in der Stadtbücherei ist hoch.

" Du meine Güte! Das wird hart. Wir haben uns noch nicht endgültig entschieden. Was wir auf keinen Fall machen werden, ist weniger Geld für neue Bücher auszugeben. Weil: Dann wären wir ja keine Bibliothek mehr, sondern nur noch ein Bücherdepot. Auf unsere 44 Angestellten können wir auch nicht verzichten. Wenn es hart auf hart kommt, werden wir wohl darüber nachdenken müssen, unser Bücherei-Netz auszudünnen. Wir haben ja noch neun Ableger in den Dörfern. Da fragen die Leute schon: Und?! Jetzt, wo Nokia so viele Leute entlässt: Habt ihr überhaupt noch Geld für unsere Bücherei? Müssen wir bald in die Stadt, nach Salo fahren, um Bücher auszuleihen? Könnt ihr uns versprechen, dass ihr demnächst immer noch da sein werdet?"

Dieses Jahr feiert Salos Stadtbücherei ihr 150. Jubiläum. Im Sommer soll es Konzerte geben, Autoren werden lesen. Alle sind eingeladen. Früher, meint Pohjola, seien zu solchen Anlässen auch viele Nokia-Mitarbeiter gekommen. Und dieses Jahr? Bis zum Sommer, heißt es aus der Firmen-Zentrale, soll ein Großteil der wegfallenden Jobs gestrichen sein. Schlechte Aussichten - für Kari Pohjola. Und Salo, die Nokia-Stadt.
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