Nora Bossong: Auch morgen. Politische Texte
Edition Suhrkamp, Berlin 2021
194 Seiten
Vom Bösen erzählen
11:52 Minuten
Ruanda, Gelbwestenproteste oder Konflikte um die Klimakrise: In "Auch morgen. Politische Texte" erzählt die Autorin Nora Bossong von menschlichen Abgründen und warum es gefährlich ist, Menschen strikt in "gut" und "böse" einzuteilen.
"Auch morgen. Politische Texte" heißt das neue Buch der Autorin Nora Bossong. Darin sind Arbeiten aus den Jahren 2016-2020 versammelt. Und obwohl das Buch "politische Texte" verspricht, schreibt sie gleichwohl ganz am Anfang über Literatur: "Literatur erzählt nicht vom richtigen Menschen, sondern vom Menschen", heißt es dort.
Die Unterscheidung vom Menschen und vom richtigen Menschen verweist darauf, "dass wir uns in Ideologien einfach den richtigen Menschen zusammenbasteln", so Bossong.
"Ich glaube, die Aufgabe von Literatur ist es, wirklich vom Menschen zu schreiben. Das meint den Menschen in all seiner Brüchigkeit, in all seinen Verfehlungen, in all seinem Zweifel und seiner Ungenügsamkeit und Ungenügendheit."
Denn erst so könnten wir wirklich einen fairen Blick auf uns Menschen werfen – und zeigen, "wir sind nicht richtige Menschen in dem Sinne, dass wir alles richtig machen, sondern wir sind stets vom Ungenügen begleitet". Wenn wir das ausblendeten, werde es unangenehm.
"Rückkehr zu Ideologien"
Der Gedanke, wie gefährlich und bedrohlich eine strikte Unterscheidung zwischen "richtigen" und "falschen" Menschen sein kann, zwischen den "Guten" und den "Bösen", zieht sich durch viele der Texte.
"Ich beobachte eine Abnahme an Ambivalenzfähigkeit in der Gesellschaft, vielleicht auch eine Rückkehr zu Ideologien", erklärt Nora Bossong. Ideologien hätten das Problem, "dass sie meist sehr stark zwischen Gut und Böse unterscheiden – und die eigene Vorstellung davon, wie sich Menschen zu verhalten haben, gar nicht in Dialog setzen mit anderen Vorstellungen". Von links wie von rechts werde wieder verstärkt so gedacht. Das sei problematisch für das Zusammenleben.
Von rechts fasse der Neonationalismus Fuß und breite sich aus. Das sei beispielsweise daran zu sehen, dass die AfD im Bundestag sei. Aber auch weltweit an einer wachsenden Macht autokratischer Regierungen und Ausgrenzungsmechanismen in Gesellschaften.
Andererseits sehe sie bei Linken eine gewisse Arroganz, dass "jeder für sich seine Weltrettung zum PR-Objekt macht und dabei der Narzissmus eine viel größere Rolle spielt, als das Ergebnis und der Weg dorthin".
Dem Bösen etwas entgegensetzen
Stattdessen müssten wir zusammen an der Lösung von Problemen arbeiten und uns fragen, ob in unserer Perspektive vielleicht auch der eine oder andere blinde Fleck ist.
Das Buch hat für Nora Bossong aber auch eine spirituelle Dimension. Es sei für sie auch ein Weg gewesen, wieder Zuversicht zu finden, nach der wohl "schlimmsten Glaubenskrise meines Lebens", nach der Rückkehr aus Ruanda. Erst durch den Verlust ihres Glaubens sei sie sich dessen wirklich bewusst geworden, so Bossong. Vorher sei sie "ab und an mal in die Kirche gegangen".
In Ruanda sei ihr klar geworden, zu welchen schrecklichen, menschlichen Katastrophen die Menschheit auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Lage war. Angesichts dessen sei es ihr schwergefallen, noch einen Halt zu finden.
Ein Text von Johannes Paul II. aus seiner Zeit im von den Nationalsozialisten besetzten Krakau habe ihr wieder so etwas wie Trost vermittelt: ob es der Glaube an Gott sei oder – abstrakter gesagt – der Glaube daran, dass es noch Sinn macht, weiterzugehen, dass man noch irgendwo Trost finden kann. Es gehe darum, dem Bösen trotz allem etwas entgegenzusetzen.
(abr)