Netflix-Premiere "The Unforgivable"

Trübe Aussichten

10:41 Minuten
Sandra Bullock in ihrer Rolle als Ruth blickt in den Spiegel und schaut betrübt.
Nach dem Gefängnis kommt die Ungewissheit: Sandra Bullock in "Unforgivable". © imago images / Picturelux
Nora Fingscheidt im Gespräch mit Patrick Wellinski |
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Nora Fingscheidts "Systemsprenger" gewann acht Lolas und war Oscarkandidat. Ihren zweiten Langfilm hat sie in Hollywood gedreht, er feiert Mitte Dezember 2021 Premiere – beim Streamingdienst Netflix. Wie es dazu kam, erzählt sie Patrick Wellinski.
Patrick Wellinski: Wie schafft man es, nach seinem Debütfilm gleich im Anschluss einen Spielfilm in Hollywood zu drehen?
Nora Fingscheidt: Ja, das lief zu meiner großen Überraschung alles recht unkompliziert und fing damit an, dass ich von Veronika Ferres eine E-Mail bekam, die ich gar nicht kannte, und sie hatte „Systemsprenger“ gesehen und wollte sich unbedingt treffen. Und ich hatte Veronika bis dahin natürlich als Schauspielerin auf dem Schirm, aber nicht als Produzentin. Und wir trafen uns dann in Hamburg am Flughafen im Rewe-Bäcker zwischen Tür und Angel, und es war ein total tolles Treffen. Und sie erzählte eben von dem Projekt. Ich hatte damals ehrlich gesagt überhaupt keine Erwartung und nicht gedacht, dass das jemals was mit mir zu tun haben könnte, und habe dann gesagt, klar, lese ich gerne mal, das Drehbuch.

"Es hat mich gereizt, mal einen Ensemble-Film zu drehen"

Wellinski: Was war es denn am Ende bei dieser Geschichte von „The Unforgivable“, das Sie als Regisseurin jetzt so gereizt hat, dass Sie gesagt haben, ja, ich kann es mir vorstellen?
Fingscheidt: Erst mal hat mich das Drehbuch ziemlich berührt, die Geschichte der beiden Schwestern Ruth und Katie vor allem und wie sich das durchzieht und zum Ende hin entwickelt. Und gleichzeitig hat mich auch gereizt, mal so einen Ensemble-Film zu drehen, und logischerweise die Erfahrung, auf einer anderen Sprache zu arbeiten. Also da kamen ganz viele Sachen, wo ich dachte, ich probiere es zumindest mal oder gehe mal in Gespräche rein. Ich habe bis dahin immer noch nicht gedacht, dass ich wirklich jemals diesen Job kriegen würde.

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Wellinski: Diese Ruth Slater, ihre Hauptfigur, das ist ja so eine ganz spannende Figur eigentlich, weil sie aus dem Gefängnis kommt und ihre Schuld gebüßt hat nach dem Rechtssystem der Vereinigten Staaten, aber sie kommt raus in eine Welt, die sie gar nicht akzeptiert, und in gewisser Hinsicht in ein System, das sie sprengen muss. Da ist ja wieder der Systemsprenger in irgendeiner Form. Was ist das für eine Figur in dem Moment, wie wir sie kennenlernen, wenn sie aus dem Gefängnis kommt? Wer ist Ruth Slater da?
Fingscheidt: Also, sie kommt aus dem Gefängnis und ist ein sehr verhärteter Mensch mit einer dicken Schale, schwer zugänglich, sehr schweigsam, sehr schüchtern, die sich im Laufe des Films Stück für Stück öffnet, bis eben vieles an die Oberfläche kommt, was sie 20 Jahre lang verdrängt hatte. Und wir haben auch relativ viel recherchiert und hier mit Frauen gesprochen im Gefängnis, aber auch Frauen, die entlassen wurden aus dem Gefängnis, und die haben alle so ziemlich dasselbe erzählt, nämlich, dass sie rauskommen und haben wirklich das Gefühl, da steht „Insasse“ auf der Stirn tätowiert und jeder würde das sehen. Und das ist so verunsichernd, vor allen Dingen, wenn man lange im Gefängnis saß, die ganze Welt hat sich verändert, Technologie, auf einmal haben alle Handys, man versteht das alles noch nicht. – Das war uns wichtig, dass man das auch sieht im Film.

Im Kern geht es um Vergebung

Wellinski: Ich fand es interessant, was Sie jetzt erzählt haben über die Recherche. Aber diese Frage nach Vergebung und Gemeinschaft, das ist ja eigentlich so der Mythos, der da mit erzählt wird, nicht wahr? Also es ist jenseits einer dokumentarischen Erzählung, der Film, der hat auch etwas Mythisches.
Fingscheidt: Genau. Also ich glaube, im Kern hat die Erzählung ganz viel zu tun über Vergebung, Wiedergutmachung und ob so was überhaupt möglich ist. Also ja, es ist ja eigentlich eine englische Geschichte in ihrem Ursprung, aber sie wurde natürlich auf die amerikanische Gesellschaft hin angepasst und passt auch ganz gut da rein.
Wellinski: Wie war eigentlich der visuelle Plan für den Film, denn das Seattle, das Sie zeigen, das ist so bleich, so entsättigt, kalt. Es gibt so Orte, die Sie zeigen, das sind eher so Unorte, so Fischfabriken, provisorische Unterkünfte, Flure, Hinterzimmer. Es herrscht auch so ein ruppiger Ton zwischen allen Figuren.
Fingscheidt: Genau. Es war uns wichtig, dass es eben kein glamouröser Film wird. Ich hätte das Gefühl gehabt, wenn man das irgendwie in so einem schönen Hollywood-Licht mit tollen Skylines erzählt, würde man der Figur nicht gerecht werden. Es geht ja um jemanden, der wirklich eigentlich da am Bodensatz der Gesellschaft unsichtbar jeden Tag ums Überleben kämpft. Und da gibt es eben viele, die hier nicht gesehen werden. Und diese Welten sind dann oft nicht so schön. Und es gibt natürlich trotzdem die Seattle-Skyline irgendwann im Film, aber dann wird sie eher als das Gegenteil eingesetzt, also da ist Ruth wo ganz anders und kann sich überhaupt nicht drauf einlassen.

Die Montage war ein Prozess, der sich entwickeln musste

Wellinski: Wie entsteht eigentlich so ein Moment, es ist ja eine Geschichte, die auch von einer Sünde der Vergangenheit spricht, aber Sie erzählen sehr stark in der Gegenwart und wie das eine das andere bedingt, und ich finde die Eröffnungsmontage des Films sehr spannend, sie zeigt ja schon das, was passiert ist, aber gleichzeitig verlassen wir gerade mit Ruth das Gefängnis. Ich habe mich gefragt, weil das ein hoch spannender, sehr dichter Moment ist, diese Montage: Steht so was schon in dem Drehbuch oder haben Sie das entwickelt? Weil der Anfang dieses Films, der setzt die Tonlage und auch natürlich so eine Binnenspannung, die dann durch den Film hindurch ausgebaut wird.
Premiere: Sandra Bullock (4. von links) mit Nora Fingscheidt (3. von llinks) und Cast bei der Premiere des Netflix-Films "The Unforgivable".
Premiere: Sandra Bullock (4. von links) mit Nora Fingscheidt (3. von llinks) und Cast bei der Premiere des Netflix-Films "The Unforgivable". © imago images / Starface
Fingscheidt: Ja. Nein, die Anfangsmontage war so nicht geschrieben. Im Drehbuch war am Anfang eigentlich die ganze Szene des Mordes, und die haben wir auch gedreht, und das hat so aber nicht funktioniert. Wir hatten aber gleichzeitig eben diese ganzen Erinnerungen gedreht und haben dann gedacht, dass die eigentlich als Mysterium besser funktionieren. Und so war das ein Prozess, mit unseren Editoren zusammen, über auch einen langen Zeitraum da den richtigen Ton zu finden. Es gab auch mal eine Fassung, da war der Anfang nur mit schönen Ruth-und-Katie-Erinnerungen. Aber das war dann irgendwie zu seicht, das hat eben nicht den richtigen Ton gesetzt.

Die Arbeit bleibt im Kern die selbe

Wellinski: Wie ist das eigentlich, wenn Sie das vergleichen, die Arbeit an „Systemsprenger“ im deutschen Filmfördersystem, überhaupt im deutschen Filmemachen-System, und jetzt Ihre Arbeit an „The Unforgivable“ in Amerika, was sind so da die größten Unterschiede, wenn Sie das jemandem erklären müssten, der keine Ahnung, was Ihre Arbeit ist und wie sie aussieht?

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Fingscheidt: Also das sind schon zwei verschiedene Welten dadurch, dass „Systemsprenger“ eben ein Debütfilm und ein Low-Budget-Film war, da haben alle für sehr wenig Geld zusammengehalten aufgrund der Geschichte, wir waren ein kleines, familiäres Team, Leute hatten zum Teil vier verschiedene Aufgaben, wohingegen das jetzt natürlich ein voll finanziertes amerikanisches Netflix-Projekt war mit ganz anderen Arbeitsbedingungen, ganz anderen Möglichkeiten. Im Prinzip ist aber die Regiearbeit dann doch irgendwie im Kern dieselbe, die Fragen, mit denen man sich rumschlägt so: Kann ich den Schauspielern das geben, was sie brauchen, um frei spielen zu können, funktioniert die Szene, ist die Motivation der Figur klar? Das sind im Kern dieselben Herausforderungen.
Wellinski: Konnten Sie denn den Schauspielern das geben, was sie brauchten? Ich meine, mit Kindern zu drehen ist das eine, mit Sandra Bullock sicherlich das andere.
Fingscheidt: Ja. Also ich meine, es gibt immer gute Tage und Tage, wo man nach Hause geht und denkt, das habe ich jetzt nicht so gut gemacht. Es war ja ein langer Zeitraum. Wir wurden dann noch unterbrochen wegen Corona, hatten eine fünfmonatige Drehpause, danach waren die Drehbedingungen ganz anders. Also da gibt es gute Tage, wo man als Regie die richtigen Worte findet, und andere, wo man sich denkt, ach, jetzt würde ich die Szene am liebsten gerne noch mal drehen.

Sandra Bullock hat die Gabe, dass man sich wohlfühlt

Wellinski: Sie haben die Frage der Sprache, der anderen Sprache schon erwähnt. Ich weiß oder viele wissen, Sandra Bullock kann etwas Deutsch, sie muss das dann immer am roten Teppich leider demonstrieren bei so peinlichen Rote-Teppich-Fragen. Aber hat das in irgendeiner Form vielleicht geholfen beim Drehen von „The Unforgivable“?
Fingscheidt: Also beim Dreh selten, weil ab und zu habe ich mal gefragt, wie sagt man das Wort oder jenes Wort, aber beim Dreh bleibt man natürlich in der einen Sprache, damit alle Teammitglieder das verstehen und sich keiner ausgeschlossen fühlt. Es ist aber schon so, ich glaube, dadurch, dass sie eben deutsche Wurzeln hat, war mit Sicherheit ein Vertrauen da von Anfang an. Und sie hat eine Gabe: Dann kam sie auf mich zu und nahm mich in den Arm und sagte: "Schön, dass du da bist, willst du einen Keks, willst du einen Kaffee?" Und sofort war die Nervosität weg. Dadurch, dass sie dann irgendwie damals erzählt hat von ihrer Kindheit und immer mal so Anekdoten hatte, hatte das was sehr Familiäres.
Wellinski: Jetzt hatten wir schon so viele Regisseure zu Gast, die versucht haben, in Amerika Fuß zu fassen. Einige haben wir dort verloren, einige sind zurückgekommen. Ist das eine Frage, die Sie sich – was Ihre berufliche Karriere natürlich betrifft – stellen, ob Amerika auch so ein Ort ist, wo Sie als Künstlerin sich weiter entfalten wollen, oder sehen wir Sie auch bald wieder in Deutschland?

Ich würde auch gerne wieder in Amerika arbeiten, aber nicht nur ausschließlich.

Fingscheidt: Also im Idealfall sowohl als auch. Das ist ja immer schwer zu planen, es hängt davon ab, was der nächste Film wird. Wie wird der? Kommt dann überhaupt noch ein Angebot? Wie sehr muss man dann kämpfen? Also, mein nächstes Projekt ist ein europäisches Projekt höchstwahrscheinlich, im Norden Schottlands, es gibt aber auch eins, das in Deutschland in Arbeit ist, das ist ein historischer Film, und ich würde auch gerne wieder in Amerika arbeiten, aber nicht nur ausschließlich.
Wellinski: Ja, wunderbar, Nora Fingscheidt, die Regisseurin des neuen Netflix-Spielfilms „The Unforgivable“ war unser Gast. Vielen Dank für die Zeit und vielen Dank für den Film!
Fingscheidt: Danke Ihnen!
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//
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