Norbert Gstrein: "Der zweite Jakob", Roman
Hanser Verlag, München 2021
444 Seiten, 25 Euro
Ein Unfall als Sinnbild des Lebens
06:28 Minuten
Norbert Gstreins "Der zweite Jakob" ist ein funkelndes literarisches Vexierspiel über das Verhältnis von Kunst und Leben an sich. In diesem Roman sollte man niemandem trauen, schon gar nicht der Hauptfigur, dem Schauspieler Jakob.
Dies ist eines dieser gefährlichen Bücher, die man am Anfang unterschätzt. Mit der Zeit sieht man sich aber in einen Wirbel versetzt und das zunächst überschaubar wirkende Personal entpuppt sich als weitaus abgründiger, als es schien. Die Zentralfigur ist der bekannte Schauspieler Jakob Thurner. Man kann ihr nicht trauen. Obwohl sie immer in der Ich-Form spricht, erscheint sie jedes Mal in einer anderen Perspektive.
Jakob steht vor seinem 60. Geburtstag. Von seiner dritten Frau Riccarda (*) ist er schon länger getrennt, und auch seine Tochter Luzie ist nicht ganz einfach. Es scheint also um typische Bindungsprobleme und Psycho-Verengungen zu gehen. In einem zweiten Handlungsstrang jedoch wird von einem Filmprojekt im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet erzählt. Hier geht es um Exotik und Thrill und die Isolation des Künstlers. In beiden Fällen wird hautnah realistisch, aber mit diffusen Andeutungen erzählt. Und langsam spürt man: Im Untergrund beider Ebenen beginnt etwas zu brodeln.
Unsympathischer Narzisst
Einer der Auslöser dafür ist die Biografie, die ein windiger Routineautor über Jakob schreiben soll. Dessen Herkunft aus einer Tiroler Hotelier- und Skiliftbetreiber-Familie wird in ihren fatalen Zügen immer deutlicher. Eine besondere Rolle spielt der Onkel Jakob, nach dem sich der Schauspieler augenzwinkernd seinen Künstlernamen gegeben hat – dieser Onkel hat es nie zu etwas gebracht und gilt als ein "Komischer". Dass bei Luzie, der Tochter des Schauspielers, ein bestimmtes Familienerbe weiterleben könnte, schwingt dabei bedrohlich mit: Auch sie "ist anders", und die vagen Umschreibungen "komisch" und "anders" entfalten eine immer größere Kraft.
In den folgenden Teilen des Buches entlarvt sich der Schauspieler, dem man längere Zeit erstmal in seiner Weltsicht folgt, immer mehr. Es ist frappierend, wie der Autor Gstrein seinen Helden allmählich als Narzissten und als extrem unsympathisch vorführt – und wie Gstrein dabei dennoch ein funkelndes literarisches Vexierspiel gelingt, das zu einer erhellenden Gegenwartsdiagnose wird. Ein Unfall in New Mexico, bei dem eine Unbeteiligte ums Leben kommt und an dem Jakob und seine exzentrische Begleiterin Schuld haben, wird zu einem Sinnbild für Jakobs Leben überhaupt.
Mehr als eine verspielte Selbstreferenz
Gegen Ende gelangt der Roman fast unmerklich auf eine Metaebene. Der geradlinige Ablauf wird unterbrochen und mit zwei grellen Einzelmomenten konfrontiert. In raffinierten Spiegelungen geht es um das Verhältnis von Kunst und Leben an sich. Plötzlich wird klar: Jener undurchschaubare mexikanische Mogul namens "Brausen", der das Filmprojekt finanziert, erinnert nicht von ungefähr an Gestalten des großen Magiers Juan Carlos Onetti.
Dass Jakob in seinem ursprünglichen Nachnamen "vier aufeinanderfolgende Konsonanten" aufweist, die er zunächst zum Anagramm "Gestirn" verändern wollte, ist eine zwar verschmitzte, aber mehr als nur verspielte Selbstreferenz des Autors: Norbert Gstrein hat in diesem Buch eine scharf umrissene zeitgenössische Künstlerfigur geschaffen, ergänzt durch pointierte Beobachtungen und luzide Gesellschaftsanalysen.
(*)Redaktioneller Hinweis: Jakobs dritte Frau heißt Riccarda, nicht Rebecca. Diesen Fehler haben wir korrigiert.