Norbert Gstrein: "Vier Tage, drei Nächte"

Zurechtgelogene Wahrheiten

07:29 Minuten
Auf dem Cover von "Vier Tage, drei Nächte" ist neben dem Buchtitel und Autorenname die Illustration eines schwarzen Stieres zu sehen.
© Hanser Verlag

Norbert Gstrein

Vier Tage, drei NächteHanser, München 2022

350 Seiten

26,00 Euro

Von Jörg Magenau · 22.08.2022
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Elias und Ines sind Halbgeschwister – und lieben einander. Aber simple psychoanalytische Lesarten greifen in diesem Roman zu kurz. Norbert Gstrein zeigt seine Figuren mit allen Selbstlügen und Abgründen, die wie beiläufig an die Oberfläche geraten.
Warum liebst du mich? Die Frage ist deshalb gefährlich, weil jede Antwort eine Verkürzung wäre und weil die Liebe, wenn sie auf guten oder schlechten Gründen besteht, den Zauber der Selbstverständlichkeit verliert. Liebe ist, weil sie ist und weil sie von allen Gründen, auf denen sie beruht, absehen kann.
Davon, womöglich, handelt der neue Roman von Norbert Gstrein. Aber auch von Pervertierungen, Abgründen, Lebenslügen. Im Mittelpunkt stehen die Geschwister Elias und Ines, die zugleich mehr und weniger sind als Geschwister. Zwischen ihnen liegen nur vier Monate, weil der Vater – ein Hotelier aus Tirol mit sehr viel Geld und noch größerem Ego – während der Schwangerschaft seiner Frau auch noch Ines Mutter schwängerte, die Hotelgast bei ihm war.

Innig verbundene "Halbzwillinge"

So sind die beiden Kinder, die von dieser Verwandtschaft zunächst nichts wissen, Halbgeschwister, lieben sich aber von klein auf in schicksalhafter Verbundenheit. Als sie endlich erfahren, einen gemeinsamen Vater zu haben, betrachten sie sich wegen des geringen Altersabstands als „Halbzwillinge“. So gehen sie gemeinsam durchs Leben.

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In den Coronajahren 2020/21, in denen der Roman spielt, sind sie Mitte 30 und beide vom Geld des Vaters, den sie verachten, nicht ganz unabhängig. Elias, der schwul ist, zieht zu Ines nach Berlin, nachdem er seinen Job als Stuart einer Fluggesellschaft wegen Corona verloren hat. Ines gibt ihre Tätigkeit als Literaturwissenschaftlerin an der Uni auf, um einen Roman zu schreiben. Aber das ist dann schon das Ende der Geschichte.

Alle Liebhaber ungenügend

Bis dahin geht es um Liebschaften. Um die ersten Lieben und um die Letzte, vor allem jedoch um ihre eigene, die Liebe nicht heißen darf, es in geschwisterlicher Weise aber durchaus ist. Ines‘ Liebschaften gleichen eher Vernichtungsfeldzügen. Meistens handelt es sich um ältere Männer, die von Ines als Idioten bezeichnet und behandelt werden und sich in seltsamer Duldsamkeit ihren Beschimpfungen und Verwünschungen bis in die völlige Selbstaufgabe hinein unterwerfen. Dann übernimmt Elias und jagt die in Selbstmitleid zerfallenen Verflossenen endgültig vom Hof.
Die Warum-Frage zu stellen hieße, die naheliegende psychoanalytische Antwort zu geben. Ältere Männer werden von Ines als Vaterersatz gedemütigt, bevor der Bruder, der in Wahrheit ein eifersüchtiger Liebhaber ist, ihnen dann den Rest gibt. Schwul wäre er der schlichten Erklärart nach, weil es neben der Schwester für ihn keine anderen Frauen geben kann.
Aber wie alle Antworten auf Warum-Fragen wären auch diese viel zu schlicht, weil sie die Lust an Macht und Unterwerfung, Beobachtung und Selbstbeobachtung, Verweigerung und Sehnsucht nicht wirklich erfassen können.

Subtil eingebaute Irritationen

Das gilt vor allem dann, wenn Elias‘ Geliebter Carl ins Spiel kommt und mit ihm endlich ein Mann, der keinerlei Mängel zu haben scheint und der auch in Ines‘ Augen besteht. Die Irritationen, die er bei den Geschwistern auslöst, sind so subtil in den Text eingebaut, dass man erst am Ende die eigentliche Tragweite versteht. Der Plot, von dem aus sich alles noch einmal ganz anders darstellt, ist eine Überraschung, die deshalb nicht verraten werden darf.
Ines spiegelt das Geschehen dann noch einmal auf anderer Ebene, indem sie nach Sizilien reist, um dort an ihrem Roman mit dem Titel „Drei Arten, ein Rassist zu sein“ zu arbeiten. Dort findet dann auch der Showdown statt, nachdem man das Buch noch einmal mit neuen, veränderten Augen lesen sollte.

Ein Roman voller Geschichten

Wie man es von Norbert Gstrein kennt, erzählt er so abgeklärt, reflexionsreich und in einer geradezu einschmeichelnden Sprache, dass all die Abgründe, die der Text dann eben doch nicht verbirgt, ganz beiläufig an die Oberfläche geraten.
Elias ist der Icherzähler und mit seiner Tiroler Herkunft und dem Hotelier-Vater eine durchaus typische Gstrein-Figur, der man auch die wohlgesetzte Sprache abnimmt. Der Roman ist reich an Geschichten, die sich ergänzen und aufeinander beziehen lassen. Sie sorgen dafür – auch das typisch für Gstrein –, dass man den Figuren, dem Icherzähler ebenso wie seiner Schwester, bei aller Sympathie mehr und mehr misstraut.
Erinnerungen oder „sogenannte Erinnerungen“, wie Ines einmal sagt, „müssen nicht unbedingt von nachweisbaren Dingen in der Realität ausgelöst werden“. Im Erzählten aber wird das, was sich dem Erinnern entzieht, dann doch deutlich.
Norbert Gstrein ist ein Meister darin, all diese zurechtgelogenen Wahrheiten seiner Protagonisten wunderbar schillern zu lassen. Man muss die Figuren deshalb weder bedauern noch verurteilen. Man darf sie in all ihrer Schwäche lieben.
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