Norbert Hummelt: „1922 – Wunderjahr der Worte“
© Luchterhand Verlag / Penguin Random House Verlagsgruppe
Durchbruch der literarischen Moderne
Norbert Hummelt
1922 – Wunderjahr der WorteLuchterhand, München 2022416 Seiten
22,00 Euro
Der Lyriker Norbert Hummelt porträtiert das Jahr 1922 als Durchbruch der literarischen Moderne. Eine lesenswerte Geschichtensammlung, die die Balance zwischen Katastrophenerfahrung und Kulturleistung wahrt.
1922 war ein Jahr der politischen Gewalt und der auf Touren kommenden Inflation. Für Norbert Hummelt aber ist es vor allem das „Wunderjahr der Worte“, in dem der „Ulysses“ von James Joyce und T.S. Eliots „The Waste Land“ erschienen. Vor einigen Jahren hat er das epochemachende Langgedicht selbst als „Das öde Land“ neu übersetzt.
James Joyce betrinkt sich in Paris
Joyce und Eliot stehen im Zentrum seines Buches, aber Hummelt erzählt auch von Ezra Pound, dem unermüdlichen Impresario und Netzwerker der Moderne. Vom Rosenfreund Rilke, der 1922 nach langer Stagnation in seinem Walliser Wohnturm einen nie gekannten Schaffensrausch erlebt, in dem er die „Duineser Elegien“ vollendet. Von Virginia Woolf, die mit Neid und Ressentiment den „Ulysses“ liest und sich dabei fühlt wie beim „Anblick eines Halbwüchsigen, der sich seine Pickel aufkratzt“.
Mit großer Sachkenntnis und Liebe zur Anekdote schaltet Hummelt zwischen den Biografien hin und her. Am lebendigsten ist ihm das Porträt von Joyce gelungen, der mit seiner Familie in schäbigen Pariser Wohnungen lebt, sich zu oft betrinkt und schwer an den Augen und Zähnen leidet.
Die ersten Auflagen des „Ulysses“ sind klein und voller Druckfehler, über die sich der Sprachartist maßlos ärgert. In England und den Vereinigten Staaten bleibt der Roman wegen Obszönitätsvorwürfen noch lange verboten. Ob man ein solches, für die meisten Leser unerreichbares Buch überhaupt schon veröffentlicht nennen könne, klagt Joyce. Seine Frau Nora meint, er hätte lieber Sänger werden sollen.
Politische Gewalt und aufbrechende Formen
Nicht zu kurz kommen die historisch-politischen Ereignisse des Jahres 1922. Im Südosten Europas bekämpfen, vertreiben und massakrieren sich die Griechen und Türken. Smyrna brennt. In Italien ergreift Mussolini die Macht, in der Sowjetunion wird Stalin Generalsekretär der KPdSU.
In Deutschland nimmt die Inflation Fahrt auf. Und die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau erschüttert das Land wie keines der bisher 300 politischen Attentate nach 1918. Die Zerrüttung der Zeit schreibt sich den literarischen Werken ein, im Aufbrechen der Formen und in einer dunklen Bildsprache, die oft als splitterhafte Spiegelung alter Mythen zu lesen ist.
Die historischen Narrative, die von der Kommandohöhe der Politik aus die Welt ordnen, sind heute fragwürdig geworden. Der Erfolg der erzählten Jahreschroniken hat damit zu tun, dass man in ihnen Geschichte in ihrer Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit erfahren kann.
Zudem bieten die episodischen Potpourris gerade bei den ausgeforschten Epochen eine frische Perspektive voller Erlebnisandrang: vermischte Meldungen aus Politik, Kultur, Sport, dazu Unfälle und Naturkatastrophen. Hummelt täuscht keine erzählerischen Zusammenhänge vor, wo meist nur zeitliche Korrelationen sind.
Mehr als eine Jahreschronik
Zum Mysterium der Synchronizität gehört die Verwunderung über Zusammentreffen, die wir heute höchst bedeutsam finden, auch wenn sie damals ganz beiläufig geschahen. Wie kann es sein, dass Joyce und Proust eines Nachts gemeinsam in einem Taxi sitzen und sich rein gar nichts zu sagen haben?
Florian Illies, einer der Erfinder dieses Genres, wüsste wahrscheinlich eine Antwort, denn er gibt in seinen Büchern vor, das Innenleben der porträtierten Zeitgenossen zu kennen, zelebriert Einfühlung und Emphase.
Norbert Hummelt geht seriöser vor, beschränkt sich auf das, was wirklich überliefert ist und erlaubt sich nur gelegentlich kleine Anempfindungen. Das macht „1922“ sympathisch und verlässlich. Es ist ein gelungenes Geschichts- und Geschichtenbuch, mehr als nur eine Chronik der damals laufenden Ereignisse.