Norbert Hummelt: "Atlas der Erinnerung"
Nimbus-Verlag, Wädenswil 2018, 168 Seiten, 24,80 Euro
"Ich bin dieser Landschaft verfallen"
Der Lyriker Norbert Hummelt hat für diesen Prosaband literarische und historische Schauplätze besucht. Viele dieser Orte nennt er Sehnsuchtsorte, denn Hummelt ist Städter, wie er bekennt und er erzählt von dieser Sehnsucht nach dem "Hinaus".
Joachim Scholl: "Dieses Tal, so gut wie irgendeines, in seiner sanft gekerbten Muldenform birgt in den Falten irgendein Geheimnis, das vor der Ebene zu einem Nichts zerstäubt." Das sind Verse aus einem Gedicht, das "Täler" heißt, geschrieben von Norbert Hummelt. Mit solcher Poesie hat er es zu großem Renommee gebracht. Er gilt als einer der besten Lyriker seiner Generation. Wir freuen uns, dass er heute bei uns in der Lesart ist, willkommen, Norbert Hummelt!
Norbert Hummelt: Guten Morgen, ich freue mich, hier zu sein!
Scholl: Ich habe diese Gedichtzeilen ausgewählt, weil sie mir jetzt in einem neuen Licht erscheinen, Herr Hummelt, nachdem ich Ihr neuestes Buch gelesen habe, das bei uns auf dem Tisch liegt, "Atlas der Erinnerung" heißt es, eine Sammlung mit Aufsätzen über Orte, Gegenden, Landschaften, in die Sie in den letzten 15 Jahren gereist sind. Und beim Lesen ist mir aufgegangen, dass die deutsche Literatur mit Ihnen nicht nur ästhetische Avantgarde, sondern auch einen bedeutenden Naturdichter hat. Man muss nur auf die sanft gekerbten Muldenformen aufpassen, oder?
Knapp an Natur: der Garten halbiert und kein Balkon
Hummelt: Ja, na ja, es ist so, dass ich das Gefühl habe, mit Natur eigentlich immer sehr knapp gehalten worden zu sein in meinem Leben. Ich komme ja vom Niederrhein. Das ist noch nicht die Toskana, und die höchste Erhebung in meiner Kindheit war eigentlich der Bahndamm, wo dann die Güterzüge nach Grevenbroich fuhren. An diesem Bahndamm bin ich aufgewachsen, und dann wurde auch der Garten noch um die Hälfte verkürzt, als wir dann aus einer Wohnung in ein Haus umgezogen sind. Jetzt habe ich nicht mal mehr einen Balkon. Man muss sich schon die Natur durch Aufmerksamkeit hineinholen in sein Leben. Das habe ich immer sehr wichtig gefunden.
Scholl: Ist das dann auch schon diese Stammgegend, von der Sie im allerersten Text schreiben? Sie sind Jahrgang 1962, in Neuss in Nordrhein-Westfalen geboren. Von der Stammgegend hat Ihr Vater immer gesprochen. Das ist dieses Terrain?
Hummelt: Ja, das ist ein Wort meines Vaters, von dem ich auch nur annehmen kann, dass er es sich ausgedacht hat. Das ist also ein Gebiet rund um die Stadt Neuss, allerdings alles linksrheinisch. Rechtsrheinisch war in gewisser Weise die Welt zu Ende, da waren ja die Römer nicht gewesen. Wir waren also linksrheinisch situiert, und das ist im Grunde eine ganz karge und eigentlich sehr reizarme Landschaft. Nur habe ich das als Kind ganz anders erlebt, wenn ich mit meinem Vater da gewandert bin durch einen kleinen Wald, den Mühlenbusch, zum Kloster Knechtsteden, oder bei Litberg ein Dorf, das auf einem kleinen Hügel, um einen kleinen Hügel gelagert sich befindet, der auf eine eiszeitliche Endmoräne zurückgeht. Also man muss schon froh sein, dass sich da ein Eisberggletscher mal ein bisschen vorgeschoben hat, damit es nicht ganz so flach und trist aussieht. Und ich verbinde das einfach mit dem Gespräch mit meinem Vater, der früh verstorben ist. Deswegen hat es eine große Bedeutung.
Der Landschaft verfallen
Scholl: Also die Landschaft so zwischen Rhein, Mosel und Ahr. Das ist wirklich eine Hommage eigentlich, die Texte, die Sie da schreiben an diese Landschaft. Aber es gibt noch eine andere, zweite Heimat sozusagen, da spielen Sie direkt auf Edgar Reitz an und seinen großen Heimatkomplex. Es geht nämlich um eine Ortschaft wirklich im Hunsrück. Und dieser Landschaft, der scheinen Sie jetzt als Erwachsener geradezu verfallen zu sein.
Hummelt: Dieser Landschaft bin ich eigentlich schon mein ganzes Leben verfallen, gerade weil ich da nie gewohnt habe. Das war eben eine Kindheitslandschaft für mich, während also andere schon nach Mallorca oder nach Sardinien fuhren, mit denen ich zur Schule gegangen bin, fuhren wir also lange Zeit ins Hunsrück, ins Rhein-Mosel-Dreieck. Und da gibt es ein wunderbares Tal, die Ehrbach-Klamm, das hat mich schon als Kind fasziniert, und in diesem Tal kann ich immer wieder Anschluss finden an meine Erlebnisse und Erfahrungen, die ich da über mein ganzes Leben hin gesammelt habe. Das ist allerdings von Berlin aus recht weit weg, und ich bin da leider nicht mehr so oft.
Scholl: Was verbinden Sie eigentlich mit dem Begriff Atlas, Herr Hummelt? Ich vermute, dass Sie den Buchtitel schon mit Bedacht gewählt haben. Ich muss immer sofort an meine Schulzeit, an meinen geliebten Diercke-Schulatlas denken.
Hummelt: Ja, den habe ich natürlich auch gehabt und sehr geliebt. Und dann gab es ja auch noch den historischen Weltatlas von Putzger, glaube ich. Ich habe immer Landkarten und Atlanten geliebt, und der "Atlas der Erinnerung", das ist mir irgendwann eingefallen als Titel für diese Sammlung kurzer Prosatexte, weil es ja immer eigentlich darum geht, wir sind unterwegs in Raum und Zeit. Und in der Erinnerung sich zu verorten, zu überlegen, wo bin ich eigentlich gewesen, das hat für mich immer eine große Bedeutung gehabt. Es gibt ja diese berühmten Sätze, "Woher kommen wir, wohin gehen wir?" Das ist ja nicht nur metaphysisch, sondern für mich auch immer geografisch zu verstehen. Zu wissen, wo ich bin, das möchte ich eigentlich nicht dem Navi überlassen, sondern das ist für mich immer ganz wichtig gewesen, da eine innere Karte zu haben und auch eine Karte der Erinnerung, einen Atlas der Erinnerung kann man eigentlich nicht zeichnen, den muss man halt schreiben, und das habe ich dann gemacht.
Scholl: Es sind aber auch geistige Landschaften, nämlich Orte der Literatur, die Sie aufsuchen. Sie fahren nach Schlesien auf den Spuren von Eichendorff, fahnden in den Niederlanden nach Stefan George. In Berlin stromern Sie im Bayerischen Viertel rum, wo Gottfried Benn gewohnt hat, gar nicht weit übrigens von unserem Funkhaus hier entfernt. In München haben Sie die Witwe von Hermann Lenz besucht, sitzen in der Wohnung, betrachten seine Bibliothek. Was finden Sie wirklich im Wortsinn, was finden Sie an diesen Orten?
Scholl: Es sind aber auch geistige Landschaften, nämlich Orte der Literatur, die Sie aufsuchen. Sie fahren nach Schlesien auf den Spuren von Eichendorff, fahnden in den Niederlanden nach Stefan George. In Berlin stromern Sie im Bayerischen Viertel rum, wo Gottfried Benn gewohnt hat, gar nicht weit übrigens von unserem Funkhaus hier entfernt. In München haben Sie die Witwe von Hermann Lenz besucht, sitzen in der Wohnung, betrachten seine Bibliothek. Was finden Sie wirklich im Wortsinn, was finden Sie an diesen Orten?
Hummelt: Das ist ganz unterschiedlich. Meistens findet man eigentlich nichts, oder man findet etwas anderes, als man gesucht hat. Denn es ist ja so, es ist ja die Suggestionskraft von Worten, von Gedichten oder von Erzählungen, die mich allerdings immer wieder dazu getrieben hat, in die reale Welt zu gehen. Immer dieser Konnex zwischen dem Wort, zwischen der Literatur und der geschichtlichen und der noch anzutreffenden geografischen Welt, das hat mich einfach immer sehr interessiert, allein schon, wie heißt es auch bei Marcel Proust, Namen, Ortsnamen spielen eine große Rolle. Da, wo ich es fast am wenigsten erwartet hätte, bin ich eigentlich am reichsten beschenkt worden, nämlich bei Eichendorff, auf diesen Schlossruinen in Oberschlesien, bei Lubowitz, wo ich gedacht habe, diese Gedichte sind so wunderbar und es ist alles so romantisch versponnen, das kann nur abfallen demgegenüber. Und es hatte doch dann einen merkwürdigen Zauber.
Auf dem Land wohnen? - Irgendwie merkwürdig!
Scholl: Ganz rührende beschreiben Sie auch den Besuch bei Günter de Bruyn, der in einem brandenburgischen Dörfchen in einer verwunschenen Mühle wohnt seit bald 50 Jahren jetzt. Sie selbst haben es ja schon erwähnt, Herr Hummelt, Sie leben in Berlin, früher lange in Köln. Im Zusammenhang mit den Essays habe ich mich jetzt gefragt, was Sie eigentlich in der Stadt verloren haben. Das ist doch eigentlich gar nicht Ihre Gegend, oder?
Hummelt: Nein, eigentlich nicht. Ich habe es allerdings mal ein paar Jahre versucht, auf dem Land zu leben, außerhalb von Köln, im Vorderbergischen. Das war landschaftlich sehr schön, aber es ist doch sozial schwierig, da anzukommen. Wenn man also nicht aus dem Ort stammt und wenn man auch noch tagsüber spazieren geht, dann wirkt man irgendwie merkwürdig.
Scholl: Sozusagen, der arbeitet nichts?
Hummelt: Ja, genau. Man sollte wenigstens einen Hund haben. Nicht mal den Hund hatte ich, um mich da auszuweisen. Und ich denke zwar sehr oft an diese Landschaft, gerade, wenn ich denke, man kann auch nicht jeden Tag in den Volkspark Friedrichshain gehen. Aber das war eben nur für ein paar Jahre für mich möglich. Ich bin eigentlich schon ein Städter, ein Großstädter auch, und liebe das, aber habe immer diese Sehnsucht, hinaus. Gottfried Benn, der ja ein überzeugter Berliner war, hat auch immer gesagt, ohne Landschaftseindrücke kann eigentlich keine Lyrik entstehen.
Scholl: Es sind, wie vorhin erwähnt, Aufsätze aus verschiedenen Jahren, aus den letzten 15 Jahren. Ein ganz neuer, der letzte im Band, der handelt von den weißen Flecken im Atlas Ihrer Erinnerungen. Und da kommen Sie noch mal auf Ihren Vater zu sprechen. Sie haben es vorhin erwähnt, er ist früh gestorben. Was ist das für ein weißer Fleck, Herr Hummelt?
Hummelt: Es sind natürlich ganz viele weiße Flecken, die sich so um einen frühen Tod herum auftun. Und ich frage mich zum einen natürlich, wie hätte mein Vater überhaupt gefunden, was ich da so schreibe und dass ich überhaupt schreibe, denn das war ja eigentlich nicht vorgesehen. Aber es sind vor allen Dingen auch die Dinge, nach denen ich ihn nicht mehr fragen konnte. Also seine Erlebnisse im Krieg, er war Jahrgang 1924, er war drei Jahre lang an der Front, er war auf der Krim. Er ist dann mit halbwegs heiler Haut, verletzt ausgeflogen worden. Es gibt Feldpostbriefe, die auf mich gekommen sind, aber es gibt halt eben auch lange Strecken, wo ich eigentlich gar nichts weiß. Und da auch aus dieser ganzen Generation niemand mehr lebt, kann ich auch niemand mehr fragen. Ich weiß einfach nicht, wo mein Vater im letzten Kriegsjahr gewesen ist, bis er einen Tag vor Kriegsende dann kurze Zeit in Gefangenschaft geraten ist. Und das sind wirklich meine weißen Flecken. Und wie er dann zu Fuß aus dem Brandenburgischen ins Rheinland gekommen ist oder vielleicht doch nicht zu Fuß, ich werde es nie mehr rausbekommen. Aber das treibt mich um, und das kann ich am ehesten durch Schreiben versuchen, mir ein plastisches Bild davon zu erschaffen.
Ein Pfadfinderlager in einer schönen Gegend
Scholl: Sie sind dann buchstäblich anhand von Briefen in ein Pfadfinderlager hinterhergefahren?
Hummelt: Ja, ein Pfadfinderlager, das natürlich nicht mehr besteht, aber das in einer sehr schönen Gegend ist, oberhalb von Bonn, am Wachtberg, wo man einen wunderbaren Blick hat über den Rhein, wo die Ahr nicht weit ist, Gegenden, wo wir eigentlich sehr oft gewesen sind. Aber dass mein Vater ausgerechnet da in den Pfadfinderlagern war und seine damalige Verlobte, also meine Mutter diese Briefe geschrieben hat, davon hat er nie erzählt. Und das begreife ich eigentlich bis heute nicht, weil wir doch so viel – bilde ich mir ein, das macht die Erinnerung vielleicht auch nur –, so viel miteinander gesprochen haben. Warum hat er davon nicht erzählt? Ich weiß es nicht.
Scholl: "Längst lebe ich nicht mehr in der Erwartung, einen Ort zu finden, an dem ich bleiben kann. Wenn man bleiben will, darf man nicht losgehen." So heißt es an einer Stelle. Gilt dieser Satz weiterhin, Norbert Hummelt? Werden Sie immer weiter losgehen, oder werden wir Sie doch irgendwann in einem vielleicht herrlich gelegenen Gutshof im Hundsrück besuchen, mit Hund?
Hummelt: Ich bin ja eigentlich mehr ein Katzentyp. Aber im Moment hänge ich sozusagen in Berlin fest, weil ich mir das Umziehen nicht mehr leisten kann. Deswegen bin ich jetzt also sesshafter geworden, als ich es von meinem Gefühl her eigentlich bin. Aber es ist ja durchaus auch etwas sehr Ambivalentes, so getrieben zu sein – gar nicht unbedingt… Man kann ja nicht sagen, ich hätte die ganze Welt bereist, aber wenn man – es reicht schon, aus einem Ort in den nächsten zu gehen und zu sagen, in meinen Ursprungsort gehe ich aber nicht mehr zurück. Und schon weiß man aber nicht, wohin dann? Das bleibt spannend.
Scholl: Danke schön, Norbert Hummelt, für diesen Besuch bei uns.
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