Norbert Lammert: "Ein demokratischer Prozess, wie ihn Deutschland noch nicht erlebt hat"
Bundestagspräsident Norbert Lammert bezeichnet das Stuttgarter Schlichtungsverfahren als "großes Experiment". Er vermute, dass solche öffentlichen Beteiligungsformen auch in Zukunft bei Großprojekten stattfinden werden.
Jan-Christoph Kitzler: Man spricht nun vom Stuttgarter Modell, dabei war das Schlichtungsverfahren in Sachen Stuttgart 21 eigentlich nur eine Notlösung, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, und hinterher auch bleiben die Fronten bestehen: Die Gegner des neuen Bahnhofes werden jetzt nicht auf einmal zu Befürwortern, und die Befürworter, sie sagen jetzt nicht, ach, lassen wir den alten Bahnhof doch stehen.
Aber das Schlichtungsverfahren mit Heiner Geißler als Moderator hat viele Menschen in Deutschland beeindruckt. Viele sagen: Aha, so kann Demokratie also auch funktionieren, wenn man auf Augenhöhe und um die Sache streitet. Hat das Stuttgarter Modell Auswirkungen auf unsere bisherigen demokratischen Verfahren? Darüber spreche ich jetzt mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, dem CDU-Politiker Norbert Lammert. Guten Morgen!
Norbert Lammert: Guten Morgen!
Kitzler: Das, was in Stuttgart passiert ist, wird allgemein hochgelobt, und gleichzeitig war das ein demokratischer Prozess, wie ihn Deutschland noch nicht erlebt hat. Viele haben hinterher gesagt, sie hätten viel gelernt. Was hat denn der Bundestagspräsident, auch wenn er nicht beteiligt war, gelernt?
Lammert: Ja, er hat zunächst mal, wie viele andere auch, das mit Interesse und Sympathie begleitet, und ich kann auch die Faszination gut nachvollziehen, die sich mit diesem Verfahren verbindet, wobei der vorläufige Eindruck, der sich jetzt nach dem abgeschlossenen, zunächst mal abgeschlossenen Verfahren, bei mir ergibt, doch ein bisschen zwiespältig ist, und deswegen nicht ganz auf der Höhe der allgemeinen Begeisterung, die mindestens Anfang der Woche in den deutschen Medien zu finden war.
Kitzler: Inwiefern zwiespältig?
Lammert: Demokratie ist ja ein Entscheidungsverfahren, ein Verfahren, an dessen Ende verbindliche, allgemein akzeptierte Entscheidungen stehen. Und zum Glanz, aber gleichzeitig auch zum Problem dieses Stuttgarter Verfahrens, für den ja schon der Begriff Schlichtungsverfahren mindestens ungenau ist, weil es da ja nichts zu schlichten gab, gehört, dass am Ende natürlich keine Entscheidung steht.
Kitzler: Trotzdem ist ja die Frage: Was bedeutet das für unsere Demokratie, für unsere demokratischen Verfahren? Heiner Geißler hat gesagt, Demokratie im 21. Jahrhundert funktioniert anders als im letzten Jahrhundert. Was halten Sie davon?
Lammert: Die Frage ist eben, was hier wie funktioniert, denn in der Tat wissen wir im Augenblick – außer, dass das Verfahren so stattgefunden hat, wie es stattgefunden hat – nicht, in welcher Weise es zu einem anderen oder veränderten Ergebnis führt. Ich kann es auch in einer anderen Version vielleicht verdeutlichen: Würden die Leute, die an Politik interessierten, jedenfalls bei größeren, wichtigen, umstrittenen Projekten, an Politik interessierten Menschen es wirklich für ein Modell halten, wenn nach oder parallel zu politischen Entscheidungsprozessen es eine öffentlichkeitswirksame, öffentliche Auseinandersetzung gibt, die aber an den getroffenen Entscheidungen nichts ändert? Und deswegen noch mal: Ich finde das sehr, sehr interessant, ich finde es auch übrigens hoch verdienstvoll, was da stattgefunden hat, aber es ist ein großes Experiment gewesen, über dessen Tragfähigkeit und Modellhaftigkeit ich mir noch kein abgeschlossenes Urteil zutraue.
Kitzler: Liegt die Begeisterung für Stuttgart nicht aber auch daran, dass es da auf rhetorisch hohem Niveau immer um die Sache ging, während man bei Bundestagsdebatten den Eindruck hat, da wird viel symbolische Politik veranstaltet, die Bürger sind genervt von den Sprechblasen?
Lammert: Na gut, da bin ich jetzt sicher nicht der unbefangene Kommentator, der einen solchen Vergleich über jeden Zweifel erhaben neutral fällen könnte. Für die allermeisten Parlamentsdebatten kann man sicher auch geltend machen, dass da an der Sache orientiert, aber kontrovers diskutiert wird. Die Neigung, sozusagen mit Blick auf das eigene Publikum, das man erreichen will, zu argumentieren, war im Übrigen bei den Fernsehübertragungen auch der Stuttgarter Schlichtungsgespräche nur schwer zu übersehen. Das gehört aber auch zu einer politischen Auseinandersetzung dazu, weil sich da ja nicht gute Freunde oder auch vielleicht sich misstrauisch beäugende Zeitgenossen zu einem privaten Gespräch versammeln, sondern es um das Ziel der Beeinflussung von Öffentlichkeit mit der Absicht einer Entscheidungsfindung handelt.
Kitzler: Die Bürger haben ja heute ganz andere Möglichkeiten, sich zu informieren. Wir leben in einer Mediendemokratie. Wie kann man denn dafür sorgen, dass Bürger das Gefühl haben, von der Politik ernstgenommen zu werden?
Lammert: Eines der für mich absehbaren und hoffentlich auch nachhaltigen Erkenntnisse aus dem Stuttgarter Diskussionsprozess ist, dass wir offenkundig Korrekturen, mindestens Ergänzungen in unserem Planungs- und Baurecht brauchen, weil die Zeitspanne zwischen dem politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess und dessen Umsetzung in die Verwirklichung zu lang ist, und weil zu dem Zeitpunkt, wo das öffentliche Interesse dann regelmäßig mit dem Baubeginn konkret wird, alle die Präjudizien längst gesetzt sind, die die Entscheidung selber gar nicht mehr reversibel machen.
Und das überzeugt mich sehr, dass offenkundig ja auch der baden-württembergische Ministerpräsident für sich daraus diese Schlussfolgerung gezogen hat, eine Novellierung des Planungsrechtes anzustreben, das eine solche breite öffentliche Befassung mit einem Thema viel mehr in die Nähe auch des parlamentarischen Entscheidungsprozesses rückt, um jedenfalls zeitnah zu einem Abschluss dieser jeweiligen Prozesse zu kommen.
Kitzler: Das heißt, brauchen wir auch mehr Beteiligungsmöglichkeiten, mehr direkte Demokratie, auch in der Verfassung?
Lammert: Tja, auch da ist der genaue Blick auf den Sachverhalt wieder etwas komplizierter als die ersten spontanen Meinungsbekundungen. Sie erinnern sich wie ich daran, dass die Protestbewegungen gegen die beabsichtigten Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und der Neubaustrecke von der Erwartung geprägt waren, dass an die Stelle repräsentativer Entscheidungen plebiszitäre Entscheidungen, also die Entscheidung der direkt und indirekt Betroffenen, gesetzt werden sollen.
Und womit hat dann diese Gesprächsrunde begonnen? Damit, dass die direkt und indirekt Betroffenen als Erstes Repräsentanten bestimmt haben. Wie denn anders hätte überhaupt eine Gesprächsrunde stattfinden sollen, als dass nun wiederum eine riesige, aber diffuse Zahl von Personen sich von anderen Personen vertreten lässt?
Kitzler: Trotzdem: Ist Stuttgart für Sie ein Modell, das … Ist es ein Einzelfall, was da passiert ist, oder ist es auch ein Modell, was man auf andere Fälle anwenden könnte, zum Beispiel Gorleben?
Lammert: Meine Vermutung ist, dass es bei anderen Großvorhaben ähnliche Gesprächsreihen, öffentliche Beteiligungsformen geben wird. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir jedes Mal eine etwas andere Konstruktion – sowohl was die Zusammensetzung von Teilnehmern, wie was die Größenordnung der Runde betrifft und den Zeitrahmen einer solchen Befassung – erleben würden, und deswegen noch mal: Das ist ein hochinteressanter Vorgang gewesen, hinter den man auch nicht zurückkann, so nach dem Motto, als hätten wir diese Erfahrung jetzt alle nicht miteinander gemacht, bei dem aber meine Empfehlung ist, ein bisschen vorsichtig zu sein mit voreiligen und schon gar vermeintlich abschließenden Schlussfolgerungen.
Kitzler: Das sagt Norbert Lammert, CDU-Politiker und Präsident des Deutschen Bundestages. Vielen Dank dafür!
Lammert: Keine Ursache! Einen schönen Tag!
Aber das Schlichtungsverfahren mit Heiner Geißler als Moderator hat viele Menschen in Deutschland beeindruckt. Viele sagen: Aha, so kann Demokratie also auch funktionieren, wenn man auf Augenhöhe und um die Sache streitet. Hat das Stuttgarter Modell Auswirkungen auf unsere bisherigen demokratischen Verfahren? Darüber spreche ich jetzt mit dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, dem CDU-Politiker Norbert Lammert. Guten Morgen!
Norbert Lammert: Guten Morgen!
Kitzler: Das, was in Stuttgart passiert ist, wird allgemein hochgelobt, und gleichzeitig war das ein demokratischer Prozess, wie ihn Deutschland noch nicht erlebt hat. Viele haben hinterher gesagt, sie hätten viel gelernt. Was hat denn der Bundestagspräsident, auch wenn er nicht beteiligt war, gelernt?
Lammert: Ja, er hat zunächst mal, wie viele andere auch, das mit Interesse und Sympathie begleitet, und ich kann auch die Faszination gut nachvollziehen, die sich mit diesem Verfahren verbindet, wobei der vorläufige Eindruck, der sich jetzt nach dem abgeschlossenen, zunächst mal abgeschlossenen Verfahren, bei mir ergibt, doch ein bisschen zwiespältig ist, und deswegen nicht ganz auf der Höhe der allgemeinen Begeisterung, die mindestens Anfang der Woche in den deutschen Medien zu finden war.
Kitzler: Inwiefern zwiespältig?
Lammert: Demokratie ist ja ein Entscheidungsverfahren, ein Verfahren, an dessen Ende verbindliche, allgemein akzeptierte Entscheidungen stehen. Und zum Glanz, aber gleichzeitig auch zum Problem dieses Stuttgarter Verfahrens, für den ja schon der Begriff Schlichtungsverfahren mindestens ungenau ist, weil es da ja nichts zu schlichten gab, gehört, dass am Ende natürlich keine Entscheidung steht.
Kitzler: Trotzdem ist ja die Frage: Was bedeutet das für unsere Demokratie, für unsere demokratischen Verfahren? Heiner Geißler hat gesagt, Demokratie im 21. Jahrhundert funktioniert anders als im letzten Jahrhundert. Was halten Sie davon?
Lammert: Die Frage ist eben, was hier wie funktioniert, denn in der Tat wissen wir im Augenblick – außer, dass das Verfahren so stattgefunden hat, wie es stattgefunden hat – nicht, in welcher Weise es zu einem anderen oder veränderten Ergebnis führt. Ich kann es auch in einer anderen Version vielleicht verdeutlichen: Würden die Leute, die an Politik interessierten, jedenfalls bei größeren, wichtigen, umstrittenen Projekten, an Politik interessierten Menschen es wirklich für ein Modell halten, wenn nach oder parallel zu politischen Entscheidungsprozessen es eine öffentlichkeitswirksame, öffentliche Auseinandersetzung gibt, die aber an den getroffenen Entscheidungen nichts ändert? Und deswegen noch mal: Ich finde das sehr, sehr interessant, ich finde es auch übrigens hoch verdienstvoll, was da stattgefunden hat, aber es ist ein großes Experiment gewesen, über dessen Tragfähigkeit und Modellhaftigkeit ich mir noch kein abgeschlossenes Urteil zutraue.
Kitzler: Liegt die Begeisterung für Stuttgart nicht aber auch daran, dass es da auf rhetorisch hohem Niveau immer um die Sache ging, während man bei Bundestagsdebatten den Eindruck hat, da wird viel symbolische Politik veranstaltet, die Bürger sind genervt von den Sprechblasen?
Lammert: Na gut, da bin ich jetzt sicher nicht der unbefangene Kommentator, der einen solchen Vergleich über jeden Zweifel erhaben neutral fällen könnte. Für die allermeisten Parlamentsdebatten kann man sicher auch geltend machen, dass da an der Sache orientiert, aber kontrovers diskutiert wird. Die Neigung, sozusagen mit Blick auf das eigene Publikum, das man erreichen will, zu argumentieren, war im Übrigen bei den Fernsehübertragungen auch der Stuttgarter Schlichtungsgespräche nur schwer zu übersehen. Das gehört aber auch zu einer politischen Auseinandersetzung dazu, weil sich da ja nicht gute Freunde oder auch vielleicht sich misstrauisch beäugende Zeitgenossen zu einem privaten Gespräch versammeln, sondern es um das Ziel der Beeinflussung von Öffentlichkeit mit der Absicht einer Entscheidungsfindung handelt.
Kitzler: Die Bürger haben ja heute ganz andere Möglichkeiten, sich zu informieren. Wir leben in einer Mediendemokratie. Wie kann man denn dafür sorgen, dass Bürger das Gefühl haben, von der Politik ernstgenommen zu werden?
Lammert: Eines der für mich absehbaren und hoffentlich auch nachhaltigen Erkenntnisse aus dem Stuttgarter Diskussionsprozess ist, dass wir offenkundig Korrekturen, mindestens Ergänzungen in unserem Planungs- und Baurecht brauchen, weil die Zeitspanne zwischen dem politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess und dessen Umsetzung in die Verwirklichung zu lang ist, und weil zu dem Zeitpunkt, wo das öffentliche Interesse dann regelmäßig mit dem Baubeginn konkret wird, alle die Präjudizien längst gesetzt sind, die die Entscheidung selber gar nicht mehr reversibel machen.
Und das überzeugt mich sehr, dass offenkundig ja auch der baden-württembergische Ministerpräsident für sich daraus diese Schlussfolgerung gezogen hat, eine Novellierung des Planungsrechtes anzustreben, das eine solche breite öffentliche Befassung mit einem Thema viel mehr in die Nähe auch des parlamentarischen Entscheidungsprozesses rückt, um jedenfalls zeitnah zu einem Abschluss dieser jeweiligen Prozesse zu kommen.
Kitzler: Das heißt, brauchen wir auch mehr Beteiligungsmöglichkeiten, mehr direkte Demokratie, auch in der Verfassung?
Lammert: Tja, auch da ist der genaue Blick auf den Sachverhalt wieder etwas komplizierter als die ersten spontanen Meinungsbekundungen. Sie erinnern sich wie ich daran, dass die Protestbewegungen gegen die beabsichtigten Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und der Neubaustrecke von der Erwartung geprägt waren, dass an die Stelle repräsentativer Entscheidungen plebiszitäre Entscheidungen, also die Entscheidung der direkt und indirekt Betroffenen, gesetzt werden sollen.
Und womit hat dann diese Gesprächsrunde begonnen? Damit, dass die direkt und indirekt Betroffenen als Erstes Repräsentanten bestimmt haben. Wie denn anders hätte überhaupt eine Gesprächsrunde stattfinden sollen, als dass nun wiederum eine riesige, aber diffuse Zahl von Personen sich von anderen Personen vertreten lässt?
Kitzler: Trotzdem: Ist Stuttgart für Sie ein Modell, das … Ist es ein Einzelfall, was da passiert ist, oder ist es auch ein Modell, was man auf andere Fälle anwenden könnte, zum Beispiel Gorleben?
Lammert: Meine Vermutung ist, dass es bei anderen Großvorhaben ähnliche Gesprächsreihen, öffentliche Beteiligungsformen geben wird. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir jedes Mal eine etwas andere Konstruktion – sowohl was die Zusammensetzung von Teilnehmern, wie was die Größenordnung der Runde betrifft und den Zeitrahmen einer solchen Befassung – erleben würden, und deswegen noch mal: Das ist ein hochinteressanter Vorgang gewesen, hinter den man auch nicht zurückkann, so nach dem Motto, als hätten wir diese Erfahrung jetzt alle nicht miteinander gemacht, bei dem aber meine Empfehlung ist, ein bisschen vorsichtig zu sein mit voreiligen und schon gar vermeintlich abschließenden Schlussfolgerungen.
Kitzler: Das sagt Norbert Lammert, CDU-Politiker und Präsident des Deutschen Bundestages. Vielen Dank dafür!
Lammert: Keine Ursache! Einen schönen Tag!